13. Jahrgang | Nummer 4 | 1. März 2010

Echte und falsche Uraufführungen

von F.-B. Habel

Eine illustre Jury hatte sich für die 60. Berlinale unter Regisseur Werner Herzog versammelt. Doch manch älterem Berliner war die Anwesenheit von Renée Zellweger egal, weil schließlich auch Conny Froboess wieder mal aus dem Münchner Exil gekommen war. Trotz des „Glamour-Faktors“ von internationalen Produktionen mit Ewan McGregor, Pierce Brosnan, Leo DiCaprio oder Gérard Dépardieu war die weitaus größte Zahl von Filmen doch aus Deutschland. Sie behandelten Themen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und letztere ist schnell abgehandelt, weil sie nur durch den 83 Jahre alten Streifen „Metropolis“ repräsentiert wurde. „Mittler zwischen Hirn und Hand muß das Herz sein“, war das fatale Motto dieses pseudoreligiösen Sozialversöhnungsschinkens, den die spätere Nazisse Thea von Harbou für ihren Mann, den dann von den Nazis vertriebenen Regisseur Fritz Lang, geschrieben hatte. Der Film, der aufgrund seiner opulenten Massenszenen, Riesenbauten und neuartigen Trickaufnahmen Abermillionen RM verschlang, fiel bei seiner Uraufführung durch. Weltbühnen-Autor Rudolf Arnheim urteilte (diesmal in der Zeitschrift Das Stachelschwein, 1927): „Das Milieu dieses Films läßt sich zwanglos als ein Symbol der Fusion deutscher und amerikanischer Filmgesellschaften deuten. Einerseits das Extrem des Ingenieur-Amerikanismus, der allerdings weniger aus den Technischen Hochschulen als aus den Zukunftsromanen der Jungensbücher stammt: das glatte Antlitz der Erde endgültig durch Wolkenkratzer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, Lichtreklamen von wahrhaft apokalyptischer Leuchtkraft, wacker verstopfte Automobilstraßen, der Industrielle mit den stahlharten Sinnmuskeln und dem Finger auf dem Druckknopf. Andererseits das ganze staubfängerische Kunstgewerbe europäischen Gemütslebens. (…) Mondäne Genreszenen und mittelalterliche Spukgemälde, in Maschinenöl gemalt. Von Neuer Sachlichkeit keine Spur. Von einer Auslüftung der Seele durch den nüchtern-hygienischen Stil der Technik nicht das mindeste. Diesem spießbürgerlichen Kunstsalon entnahm der Snob Fritz Lang die Anregung zur Arbeit zweier Jahre.“

Der Film wurde in der Folgezeit verstümmelt, seit Restaurierungsversuchen des Staatlichen Filmarchivs der DDR in den siebziger Jahren (noch unter Fritz Langs Mitarbeit) immer wieder in neuen Fassungen ergänzt und kann nach einem aufsehenerregenden Kopien-Fund in Buenos Aires nun erstmals wieder in (fast) voller Länge gezeigt werden. Tatsächlich rettet das wiedergefundene Material den Film teilweise, denn hier spielt Fritz Rasp einen Detektiv so dicht an der Parodie, daß der restliche Kitsch fast erträglich wird. Die Berlinale bezeichnete ihre Präsentation mit großer Orchesteruntermalung eine erneute „Uraufführung“. Wahrscheinlich kann man einen Film so oft uraufführen, wie man nur will.

Das meinte Berlinale-Chef Dieter Kosslick wohl auch, als er es eine „verspätete Uraufführung“ nannte, daß die Kant-Adaption „Der Aufenthalt“ gezeigt wurde, um DEFA-Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase mit einem Extra-Bären zu ehren. Seit 1983 haben den Film ja nur wenige Millionen Zuschauer gesehen. In seiner klugen Laudatio auf Kohlhaase stellte sich Andreas Dresen dem Publikum als einen „ostdeutschen Filmemacher“ vor und fügte beiläufig hinzu: „Westdeutsche Filmemacher gibt es ja nicht.“

Dabei zeigte gerade die Berlinale auch etwas vom Zusammenwachsen von Ost und West. Dresens langjährige Ost-Berliner Autorin Laila Stieler hatte einen Stoff geschrieben, bei dem diesmal die Münchnerin Doris Dörrie zugriff. „Die Friseuse“ ist eine nachdenkliche, und durchaus nicht vordergründig optimistische Komödie über eine Frau, die sich von ihrem Mann getrennt hat und sich in Berlin-Marzahn ein neues Leben aufbauen will. Der Film lebt besonders von Gabriela Maria Schmeide, die in der Titelrolle einen lebensprallen Menschen verkörpert. Ob sich Doris Dörrie bei Marzahner Gartenblumen wohler fühlte als bei japanischen Kirschblüten, weiß man nicht – das Publikum nahm den Film dankbar an.

Nach Zittau und Oybin führte ein weiterer Gegenwartsfilm von Dresens einstigem Babelsberger Studienkollegen Andreas Kleinert. „Barriere“ zeigt ein Gruppenporträt von Individualisten – junge Schauspieler, die sich zu einem Casting bei einem von Matthias Habich mit schöner Lakonie gespielten Alt-Regisseur treffen. Der von Kameramann Jakob Seemann in erfrischend unspektakulärem Schwarzweiß gedrehte Film ist zugleich die Abschlußarbeit der Schauspielklasse der HFF und so etwas wie eine Liebeserklärung an den Schauspielerberuf mit all seinen Problemen, mit Eitelkeiten, Liebe und Treulosigkeit, Leidenschaften und Unmoral.

Das ist auch das Thema des meistdiskutierten deutschen Berlinale-Films „Jud Süß – Film ohne Gewissen“. Das, was uns Regisseur Oskar Roehler da an einer Melange von historischem Halbwissen, Kolportage, Sex und Verniedlichung der Nazi-Führer vorsetzte, ließ die Frage aufkommen, ob diese Uraufführung vielleicht ein „Film ohne Gewissen“ wäre. Drehbuchautor Klaus Richter hatte sich von einer gut recherchierten Biografie des Schauspielers Ferdinand Marian inspirieren lassen, die Friedrich Knilli vor einigen Jahren bei Henschel Berlin vorlegte. Marian hatte 1940 unter dubiosen Versprechungen die Titelrolle in Veit Harlans historischem Film „Jud Süß“, einem der perfidesten antisemitischen Hetzwerke, übernommen und war menschlich daran zerbrochen. Nachdem der Tod verhinderte, daß DEFA-Regisseur Frank Beyer den Stoff verfilmen konnte, griff Oskar Roehler zu und verleibte sich ihn an. Alles sollte spektakulärer werden. Aus Marians Frau wurde eine Jüdin, die gern trank und in Gossensprache redete. Spekulative Sex-Szenen (besonders abgeschmackt während eines Bombenangriffs) wurden eingebaut. Minister Goebbels wurde zu einem aufbrausenden Trottel. Man erinnert sich wehmütig an Kurt Maetzigs „Ehe im Schatten“, in dem das Schicksal des Ehepaars Gottschalk als Schlüsselfilm erzählt wurde – ebenso wie in István Szábos „Mephisto“ die Gründgens-Geschichte. Zudem geriet dieser Film über Schauspieler auch schauspielerisch sehr disparat. Während Tobias Moretti als Marian und Heribert Sasse als sein jüdischer Kollege große Charakterstudien liefern, chargieren Arnim Rohde und Milan Peschel als die trotz allem größten Charakterdarsteller ihrer Zeit, Heinrich George und Werner Krauß, daß es den Zuschauer graust. „Sonderbarerweise verlumpt zugleich mit der Seele auch die Kunst“, schrieb Lion Feuchtwanger, der Romanautor von „Jud Süß“, 1941 im New Yorker „Aufbau“ in einem offenen Brief an diese Schauspieler. „Sonderbarerweise kann ein guter Schauspieler nicht gegen seine Überzeugung spielen, ohne ein weniger guter Schauspieler zu werden.“ Man muß leider auch Moritz Bleibtreu attestieren, daß er seinen Goebbels einschichtig, mit einer schmalen Palette von sich endlos wiederholenden Gesten und Tönen austattete. Immerhin überraschte Johannes Silberschneider in zwei Auftritten als glaubwürdiger Hans Moser. Es graust den historisch gebildeten Zuschauer bei dem Gedanken, daß ein solches unausgegorenes, von historischen Fehlern strotzendes Machwerk herangezogen werden könnte, um bei jungen Menschen neue Legenden zu bilden.

Nur bis 1968 zurück geht die Geschichte eines Heranwachsenden, die Matti Geschonneck nach Torsten Schulz´ Buch „Boxhagener Platz“ inszeniert hat. Auch in dieser Tragikomödie steckt die Gefahr der Legendenbildung, wenn man diesen Film ernst nimmt. Konnte die Frau eines ABV, eines Abschnittsbevollmächtigten der VP, so offen für den Westen schwärmen? Konnte seine Schwiegermutter regelmäßig „Bückware“, sogar einen Weihnachtsbaum, aus Westberlin nach Haus transportieren? Haben Alt-Spartakisten heimlich Alt-Nazis erschlagen? Schulz und Geschonneck erzählen es mit einem Augenzwinkern und durch die Brille eines phantasievollen Jungen, aber leider fehlt dem Film insgesamt die nötige Doppelbödigkeit, die sich beispielsweise auch im Szenenbild von Lothar Holler hätte manifestieren können. Es bleibt der Spaß an skurrilen Situationen, gespielt von großen Komödianten, wie Michael Gwisdek, Hermann Beyer, Horst Krause, Meret Becker, Ingeborg Westphal und vor allem die herrlich hintergründige Gudrun Ritter als Oma Otti.

Stellvertretend für viele gute Dokumentarfilme, die ihre Uraufführung auf der Berlinale erlebten, sei hier nur noch „Wiegenlieder“ von Tamara Trampe und Johann Feindt genannt. Erwachsene reflektieren darüber, welche Lieder ihnen als Kinder vorgesungen, und wie sie dadurch beeinflußt wurden. Eine schöne poetische Idee, um Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden.