Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Januar 2008, Heft 1

Sozialismus-Streit

von Erhard Crome

»Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!« Als Erich Honecker im Endstadium der DDR diesen Satz sagte, wurde er nur noch belächelt. Im Westen erschienen Karikaturen, auf denen zu sehen war, wie der Karren in den Abgrund stürzt und Ochs und Esel am Rande stehen und diesem nachschauen. Den Satz allerdings hat Honecker nicht erfunden, er wird ihn aus seiner Jugendzeit erinnert haben, weil er zum tief verankerten Grundverständnis der alten Sozialdemokratie Bebels gehörte: Dieser Kapitalismus richtet sich zugrunde, im Gefolge seiner eigenen inneren Widersprüche, und niemand – nicht einmal solche als tumb geltenden Kreaturen wie der Ochse und der Esel – kann diesen historischen Prozeß aufhalten.

Nun hatten wir diesen »realen Sozialismus« sowjetischen Typs auch in der DDR, und er ist untergegangen. Jener unwiderruflich, aber damit auch jeder Sozialismus? In der Programmatik der LINKEN in Deutschland ist er weiter aufgehoben, wenngleich die Debatte darüber anhält, wie er denn aussehen soll. Eines allerdings steht fest: Es kann nur ein »demokratischer Sozialismus« sein, oder es ist keiner. Das ist die sozialistische Folgerung aus dem Scheitern jenes »realen« einerseits und der nach wie vor zutreffenden Kapitalismusanalyse, die von Marx herkommt, andererseits. Es bleibt dabei, und ist angesichts der heutigen Weltverhältnisse offensichtlicher als früher, daß Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist; nur kommt die Alternative nicht aus den Gewehrläufen selbsternannter Avantgarden, sondern aus mühseligen Prozessen politischer Mehrheitsverhältnisse, die unter der Voraussetzung der Demokratie immer wieder neu zu schaffen sind.

Eine derartige Positionierung der linken Partei hat politische Koordinaten in diesem unserem Lande verändert. Die Sozialdemokratie besann sich eines anderen und verzichtete in ihrem neuen Programm ausdrücklich nicht auf diesen Terminus, was sie ursprünglich beabsichtigte – sicher nicht, um ihn in der Tat anzustreben, sondern zuvörderst, um ihn nicht Lafontaine und den Seinen zu überlassen. Allerdings wird man sich unter bestimmten Umständen und bei veränderten Mehrheitskonstellationen im Lande auf diese Gemeinsamkeit berufen können.

Dies hinwiederum wissen die Bürgerlichen, die seit zehn Jahren keine strukturelle Wählermehrheit mehr haben, und in Gestalt der CDU nur deshalb an der Regierung sind, weil die zahlenmäßige Mehrheit links von ihr derzeit nicht zu einer politischen gemacht werden kann. Deshalb werden Stop-Schilder in den politischen Raum gestellt. Angela Merkel hat dies Anfang Dezember auf dem CDU-Parteitag getan. Zunächst einmal erneuerte sie den Anspruch ihrer Partei, seit Anbeginn die geborene Regierungspartei der Bundesrepublik Deutschland zu sein, und betonte, sie sei die politische »Mitte«. (Ein Kabarettist hat ausgezählt, sie hätte dieses Wort 35mal in ihrer Rede verwendet. Ich habe nicht nachgezählt, habe aber den Eindruck, es stimmt.) Die SPD, so Angela Merkel, habe unter Schröder nur kurzzeitig die »Mitte« – wer immer das ist – taktisch ansprechen wollen, sich dann dort unwohl gefühlt, und sei nun wieder nach links gegangen und verleugne ihre schöne »Reformpolitik« unter Schröder – dessen Namen sie nicht aussprechen mag; sie spricht dann von einem »letzten Kanzler«, und meint den vorigen, den vor ihr.

Als Vehikel der Denunziation der »linken« SPD dient ihr der Sozialismus. Dies aber ist der Verweis auf den gewesenen der DDR, wie sie ihn versteht. Das geht argumentativ so: Aussage Nr. 1: »Der Sozialismus hat in Deutschland für alle Zeiten genug Schaden angerichtet. Wir wollen nie wieder Sozialismus!« (Im Redeprotokoll steht hier: »Lebhafter Beifall«.) Aussage Nr. 2: »Demokratischer Sozialismus: Das ist ein Widerspruch in sich … Der Sozialismus endet totalitär …« Und hier anschließend Aussage Nr. 3: »… ob man es will oder nicht, weil er die Gleichheit aller im Sinn hat und etwas völlig anderes als Gerechtigkeit. Damit untergräbt er die Leistungsbereitschaft. Er macht die Schwachen schwächer.«

Beginnen wir mit der dritten Behauptung. Das stimmt nicht einmal für die DDR, zumindest seit Mitte der 1960er Jahre: die Begrenzungen des Zugangs von Intelligenzler- und Pfarrerskindern zu Abitur und Studium waren praktisch aufgehoben, weil klar war, daß das Land auf dieses Potential nicht verzichten konnte. Nutznießer dessen waren nicht zuletzt Angela Merkel und ich. Das andere Ende der sozialen Stufenleiter wurde ebenfalls in den Blick genommen. Haftentlassene, früher Kleinkriminelle, Menschen mit einer Disposition zur Asozialität oder psychischer Instabilität wurden einer spezifischen Betreuung unterworfen, die nicht in erster Linie politisch, sondern sozial motiviert war. Sie wurden Arbeitsbrigaden in den Betrieben zugeteilt – oft gegen deren Willen –, und dort wurde genau kontrolliert, daß sie auch täglich und pünktlich zur Arbeit kommen. Anfang der 1980er Jahre gab es soziologische Studien, daß nahezu zehn Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung nicht dem normalen Rhythmus der Arbeitsabläufe im Betrieb problemlos gewachsen war. Es wurden »besondere Arbeitsbrigaden« bei den Kommunen geschaffen, die dann Parks aufräumten oder Wege harkten, wofür sie eigenverdientes Geld bekamen. Kinder wurden nach der Geburt von Ärzten regelmäßig untersucht, Kinderkrippen, Kindergärten und Schulhort beobachteten den Zustand der Kinder. Ergebnis war: Es gab keine Obdachlosen, sozial Schwache wurden aufgefangen, und die Zahl von Kindestötungen oder -vernachlässigungen war minimiert. Dafür braucht es den Staat und staatliche Ausgaben, um den Schwachen zu helfen, ihr Leben zu meistern. Indem »dem Sozialismus« dies abgesprochen wird, will man sich genau dieser gesellschaftlichen Verantwortung heute entziehen.

Kommen wir zur zweiten Behauptung, Sozialismus ende notwendig totalitär. Hier ist zunächst auf die Geschichte zu verweisen. Der reale Sozialismus in Sowjetrußland entstand aus den Gemetzeln des Ersten Weltkrieges, für den nicht er, sondern die kapitalistischen Regierungen der europäischen Staaten verantwortlich waren. Der Fehler Lenins und der Bolschewiki war, daß sie sich nicht nur ermächtigt fühlten, die Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, sondern damit auch nicht innehielten, als sie die Macht bereits hatten. Das heißt jener »reale Sozialismus« war das Spiegelbild des Kapitalismus seiner Zeit und selbst Teil der gewaltsamen Verhältnisse der »westlichen Zivilisation«. Heute leben wir unter der Voraussetzung der Erfahrung von grundgesetzlich verankerten Freiheits- und Mitwirkungsrechten, die derzeit nicht von den Sozialisten, sondern von den konservativen Verfechtern des präventiven Sicherheitsstaates untergraben werden – die Angela Merkel zuallererst in der eigenen Partei findet.

Damit wären wir bei der Ausgangsbehauptung: Der Sozialismus, den es in der DDR gab, war eine Antwort auf Hitler, dem die deutschen Kapitalisten die Macht zugespielt hatten zum Zwecke des Revanchekrieges. Ohne 30. Januar 1933, ohne 1. September 1939 und ohne 22. Juni 1941 keinen 8. Mai 1945 und demzufolge auch keine US-amerikanische oder sowjetische Besatzung. Das wußte man übringens auch schon mal in der CDU. Und die Existenzweise der DDR war zudem auch der inneren Logik des Kalten Krieges und der Subordination unter die sowjetische Politik geschuldet.

Hier kann jetzt nicht weiter zur DDR debattiert werden. Nur eines ist klar: Der verteufelnden Geschichtspolitik zur DDR, mit der wir es seit einigen Jahren zunehmend zu tun haben, und die um so penetranter wird, je länger die real gewesene DDR her ist, zielt nicht auf diese, sondern darauf, Sozialismus für alle Zukunft zu unmöglich zu machen. Das wird der CDU aber langfristig nicht zu einer neuen strukturellen Mehrheit der Bürgerlichen verhelfen. Und den »Rest« besorgen immer noch die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Akkumulation – weshalb die CDU-Vorsitzende ja auch verkündet hat, sie wolle »den Gegensatz zwischen Lohnarbeiterschaft und Kapitaleigentümerschaft endgültig … überwinden«. Und die Erde ist eine Scheibe, und »det Rejenwasser looft die Rinne ruff, wenn Vadda det sacht«, sacht der Berliner.