27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Scheidungsurkunde für die Ampel?

von Jürgen Leibiger

Ob Markus Söder an die Ereignisse im Herbst 1982 gedacht hat, als er die vom FDP-Vorstand beschlossenen „12 Punkte zur Beschleunigung der Wirtschaftswende“ als „Scheidungsurkunde für die Ampel“ bezeichnete, weiß man nicht. Aber in der Tat: Der Beschluss erinnert an das als „Lambsdorff- oder auch Wende-Papier“ bezeichnete Konzept, das der damalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff im September 1982 der SPD-FDP-Regierungskoalition vorgelegt hatte. Das von seinem Abteilungsleiter, dem nachmaligen Bundesbank-Präsidenten Hans Tietmeyer erarbeitete Papier entwarf eine „Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche“ und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Absichtsvoll und wohl kalkuliert setzte es sich zu den Absprachen der Koalition in Widerspruch und führte dann tatsächlich ihren Bruch herbei.

Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte die vor allem aufgrund unterschiedlicher Wirtschaftskonzepte längst zerrüttete Koalition noch Monate zuvor mittels einer Vertrauensfrage versucht, hinter sich zu bringen. Er gewann zwar die Abstimmung, die FDP nahm aber trotzdem Kurs auf Austritt aus der Koalition und steuerte eine CDU/CSU/FDP- Regierung an. Das wirtschaftsliberale FDP-Konzept war Anlass für eine Erklärung des Bundeskanzlers am 17. September, in der er den von einigen Medien lancierten Begriff „Scheidungsbrief“ aufgriff. Ihrer Entlassung zuvorkommend, erklärten sämtliche FDP-Minister noch während der Bundestagssitzung ihren Rücktritt. Am 1. Oktober wurde dann Helmut Kohl im Zuge eines konstruktiven Misstrauensvotums zum Kanzler gewählt. Hans-Dietrich Genscher, seit 1972 FDP-Vizekanzler und Außenminister, saß in gleicher Funktion auch im neuen Kabinett.

Viele FDP-Mitglieder betrachteten die Vorgänge als „Verrat“ an ihren Überzeugungen. Die „freiheitlich-demokratische“ war zur wirtschaftsliberalen Partei geworden. Sie verlor im Zuge dieser Volte binnen eines Jahres um die zwanzigtausend Mitglieder.

Die neue Regierung zog dieselbe neoliberale Wende durch, die schon in den USA unter Ronald Reagan und durch Margret Thatchers in Großbritannien vollzogen worden war. Mit dieser Politik sollten die anhaltende Wachstums- und Konjunkturschwäche und die hohe Arbeitslosigkeit überwunden werden. Mit unternehmerfreundlichem Kurs und Sozialabbau, mit „mehr Markt, weniger Staat“ sollten einer gestiegenen Staatsquote, sinkenden Kapitalrenditen und dem Rückgang der Investitionsquote entgegengewirkt werden.

Aus Sicht der Unternehmen war die neue Politik durchaus erfolgreich. Zumindest konnte die Abschwächung der Kapitalverwertung für eine ganze Reihe von Jahren aufgehalten, teilweise sogar umgekehrt werden. Ursächlich dafür waren vor allem die massiven Steuererleichterungen. Die gesamtwirtschaftlich angepeilten Ziele wurden jedoch krachend verfehlt. Zwar kam es konjunkturbedingt zu einem höheren Wachstum, die Investitionsquote war im Durchschnitt jedoch niedriger als in den 1970er Jahren, weil die steigenden Profite entweder im Ausland oder im Finanzsektor investiert wurden. Die Staatsquote blieb im Wesentlichen auf dem bisherigen Niveau, die Staatsverschuldung stieg weiter. Die Arbeitslosenquote verdoppelte sich bis 1990, bevor sie sich dann infolge des Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft bis auf zwölf Prozent verdreifachte. Die Kosten der hohen Arbeitslosigkeit verhinderten trotz des Abbaus der sozialen Sicherung für den Einzelnen eine Senkung der Sozialleistungsquote.

Mit dem Schröder-Blair-Papier von 1999 und dem sogenannten „dritten Weg“, vor allem aber mit der Agenda 2010 trat die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder in die Fußstapfen, die Union und FDP nach sechzehn Jahren Kohl-Regierung hinterlassen hatten. Und trotz einiger Korrekturen an diesem Kurs und einer gewissen Neuausrichtung bleibt auch die heutige Ampel-Regierung der einmal eingeschlagenen Grundrichtung treu: Der Wachstums- und Investitionsschwäche, dem internationalen Innovationsdruck und den Problemen mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland soll mit angebotsorientierten Strategien begegnet werden.

Das vor wenigen Wochen verabschiedete „Wachstumschancengesetz“ enthält zwar durchaus sinnvolle Punkte, ist jedoch vor allem ein Entlastungsprogramm für die Unternehmen in Höhe von 3,2  Milliarden Euro. Es ist Teil eines mit großem Tamtam von Scholz, Habeck und Lindner verkündeten „10-Punkte-Programms für den Wirtschaftsstandort Deutschland“. Ganz offensichtlich ging es aber der FDP nicht weit genug; angesichts sinkender Umfragewerte sah sie ihre traditionelle Klientel nicht ausreichend bedient. In ihrem 12-Punkte-Programm fordert sie nun noch größere Steuergeschenke für Unternehmen und Reiche. Nach Berechnungen der Gewerkschaften würden diese sich auf jährlich fast 30 Milliarden Euro belaufen. Da dieses Programm aber zugleich ein Sparprogramm zur Einhaltung der Schuldenbremse ist, könnte es nur durch massive Rückführung der Staatsausgaben an anderer Stelle funktionieren. Betroffen wären die Ausgaben für Kitas, Schulen und Krankenhäuser, andere Sozialleistungen und wohl auch für die Investitionen in die Infrastruktur.

So wie die Steuersenkungsprogramme zu Beginn der 1980er Jahre nicht einen Investitionsschub, sondern einen Schub bei der Staatsverschuldung erbrachten, so könnte der Schuss auch diesmal nach hinten losgehen. Aber vielleicht werden auch neue kreditfinanzierte Fonds außerhalb der regulären Haushalte aufgelegt oder es kommt zu neuen Krisensituationen, was – wie es nachträglich für 2023 der Fall gewesen ist – die Ausrufung einer „außergewöhnlichen Notlage“ und das Aussetzen der Schuldenbremse ermöglichen würde.

Das FDP-Konzept entspricht in seinen wesentlichen Punkten der Auffassung von Lars Feld, des ehemaligen Vorsitzenden des Sachverständigenrates und heutigen persönlichen Beraters des Finanzministers. Feld, Chef des ordoliberal orientierten Walter-Eucken-Instituts, bewertete das Wachstumschancengesetz der Ampel in einem Interview zwar nicht generell als negativ, aber als unzureichend. Worauf es ankäme, sei die viel stärkere Senkung der Unternehmensteuern, die Reduzierung der Bürokratie- und Regulierungskosten, die Senkung der Arbeitskosten und die Einhaltung der Schuldenbremse. Nur dadurch könnten das Vertrauen in den Standort Deutschland wieder erhöht werden und die Investitionen stärker anziehen. Das ist die übliche Argumentation neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler und entspricht bis in die Wortwahl hinein dem FDP-Konzept von vor vierzig Jahren, als diese Politik mitnichten zu einer höheren Investitionsquote, mehr Beschäftigung und Schuldenabbau führte.

Ob das FDP-Programm ein Scheidungspapier wie damals werden wird, ist freilich zweifelhaft. Ein ähnlich reibungsloser Wechsel von einer sozial-liberalen zu einer christlich-liberalen Koalition ist unter den gegenwärtigen parteipolitischen Konstellationen ausgeschlossen. Lindner würde bei einem Austritt aus der Ampel weniger als Held denn als Verlierer dastehen, der sich verkalkuliert hat. Wenn die CDU/CSU und die Mainstream-Medien das FDP-Konzept zu einer Scheidungsurkunde hochjazzen und an den damaligen Regierungswechsel erinnern, dürften der Wunsch der Vater des Gedankens sein und wohl auch die mediale Gier nach Krach und Sensation eine Rolle spielen.

So ist das Konzept denn eher ein Wink an die potentiellen FDP-Wähler: Wir würden gern eine andere Politik als die Koalitionspartner machen, stecken aber – verantwortungsbewusst und verlässlich wie wir sind – nun mal in der Ampel fest.