21. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. April 2018

Route Royale

von Max Klein, Liverpool

In der DDR begegnete man Karl Marx. Heute, in England, muss man zuweilen an ihn denken, etwa beim Besuch der alten Weberei Quarry Bank Mill nahe Manchester. Man kann sein Grab auf dem Highgate Cemetry in London besuchen und liest dort: „workers of all lands, unite“. Marx war Wissenschaftler, und Engels war froh, dass „Mohr“ nicht auf Deutschlands Versammlungen oder Barrikaden sondern im Londoner Exil war, um ungestört sein großes Werk schreiben zu können, „Das Kapital“, dessen Bände II und III „Fred“ herausbrachte, nachdem Marx im Alter von 64 Jahren zu früh gestorben war.
Man konnte in der DDR Wissenschaftler werden. Zur Jugendweihe erhielt ich das Buch „Weltall, Erde, Mensch“ und dort beigelegt für mich war der Satz: „Es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft und nur diejenigen haben Aussicht, ihre lichten Höhen zu erreichen, die die Mühe nicht scheuen, ihre steilen Pfade zu erklimmen.“
Irgendwie habe ich diesen Satz nie vergessen, er half, wenn es einmal anstrengender war, arrogant zuging oder -geht, oder oberflächlich. Marx war anders als seine platten Apologeten, er gab Halt und war wegen seiner großen wissenschaftlichen Leistung vorzeigbar, heute wie damals – so hatte mein Onkel zum Nachweis seiner Fortschrittlichkeit ein Porträt des photogenen Marx in seinem Direktorenbüro, was ihn davon befreite, täglich den weniger ansehnlichen Generalsekretär der einen Partei ansehen zu müssen. Jetzt erst las ich, dass diese These von Marx eigentlich französisch formuliert worden war, in lesbarer Schrift, reproduziert im Kapital I, Dietz-Ausgabe von 1973. Im Vor- und Nachwort der französischen Ausgabe weist Marx dessen Verleger, Monsieur La Châtre, darauf hin, dass „periodische Auslieferungen“ des Werkes, die dieser bevorzugte, den „nach der Wahrheit strebenden Leser“ und dessen Geduld herausfordern würden. So war dieser Satz eine Charakterisierung des „Kapitals“ selbst, der eigenen wissenschaftlichen Leistung zu der es keine route royale gebe. „Königsweg“ hätte es in der deutschen Fassung doch eher heißen sollen als „Landstraße“.

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Man musste Marx’ Philosophie nicht mögen, wenn man ihn achtete, und wie noch folgt sind Sprache und Einsichten auch heute phänomenal zu nennen. Mit 30 Jahren verfasst er mit dem 28-jährigen Engels das Manifest der Kommunistischen Partei. „Ein Gespenst geht um in Europa, was für eine geniale Einführung, – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet.“ Man liest diesen Satz mit leichter Beklemmung, denkt man an die aktuelle Hysterie im Zusammenhang mit einer Le Carré-Affäre, die zur Krise mit Russland hochstilisiert wurde – offenbar gibt es vereinte Jagden der alten Mächte und offensichtliche Interessen auch außerhalb der Klassenfrage, die Marx so beschäftigte. Auch die wildesten Demagogen können das heutige Russland nicht zu einer „kommunistischen“ Gefahr machen.
Eine weiterer Satz, dem jeder Student an der Berliner Humboldt-Universität seit Mai 1953 begegnet, ist die Feuerbach-These Nr. 11: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“, in der alten Fassung von 1845. Ein klarer Gedanke, ein im Grunde harmloser Spruch, etwas arrogant, der nur deswegen noch im Foyer der Humboldt-Universität prangt, weil jemand auf den guten Gedanken kam, diesen zu einem Denkmal zu erklären. Die den Treppenabsatz umgebenden 56 Treppenstufen tragen nun je ein Schild der in Berlin lebenden Britin Ceal Floyer, „Vorsicht Stufe“. Das muss man nicht unbedingt für Kunst und auch nicht als notwendig erachten, interessant ist jedoch schon, dass Marx noch da ist und nicht unumstritten, nach wie vor. Das Vorwort zur ersten Auflage zu „Das Kapital“, geschrieben im Juli 1867, schließt mit der Bemerkung, wissenschaftliche Kritik sei ihm willkommen, und dem Hinweis, dass ihm gegenüber „den Vorurteilen der sog. öffentlichen Meinung […] nach wie vor der Wahlspruch des großen Florentiners“ gelte: „Seguil tuo corso, e lascia dir el genti!“* (Geh deinen Weg, und lass die Leute reden!) Er hätte sich vielleicht für diese Stufen bedankt als Hinweis auf die Widersprüche seines eigenen Werkes, oder sie halt reden lassen, die Leute.
Im Grunde ist die These Nr. 10 interessanter: „Der Standpunkt des alten Materialismus ist die „bürgerliche Gesellschaft”, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit“, weist diese doch hin auf die Idee von einer anderen, gerechteren Welt, die der alten hätte überlegen sein sollen und vielleicht doch auch können. Nr.10 gibt Nr.11 eine Richtung, die man nicht kritisieren mag.
Im Jahr 1989 trat der heute weisere Norbert Blüm in Polen auf und erklärte „Karl Marx ist tot, Jesus lebt“. Man mag sich hier nicht zu Jesus äußern, da es um Marx’ 200-Jahrfeier geht. Ein merkwürdiger Satz. Es ging natürlich um die Freiheit. Kaum jemand hat die Grundlage der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft so klar erkannt und beschrieben wie seinerzeit Marx in „Das Kapital“: „Zur Verwandlung von Geld in Kapital muss der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“ Diese Erkenntnis war 1989 nicht tot und ist es heute schon gar nicht. Es ist die Beschreibung der seinerzeit so ersehnten Freiheit in ihrer neuen Abhängigkeit, die der Erfolgreiche trotzdem genießen kann, die den Zurückbleibenden jedoch bedroht.
Im Manifest liest man: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktivkräfte, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.“ Diese permanente Änderung unserer Daseinsbedingungen ist es, welche einen so hohen Druck auf die Menschen ausübt, der die Grundlage vieler Sehnsüchte nach der alten Zeit darstellt. Jedoch wird diese Gesellschaft, folgt man Marx, solche Bedürfnisse strukturell eben nicht befriedigen, kaum zulassen, da es an ihre Grundfesten geht. Die Mittel zur Linderung sind psychologische Betreuung, soziale Zahlungen, harte Staatsgewalt, mediale Ablenkung, nicht der Versuch, eben diese Grundlagen tatsächlich zu hinterfragen. Marx gab uns eine Aussicht von humaner Perspektive und eine Ansicht von intellektueller Kultur.
Nachdenklich wird man, wenn man weiter liest: „[…] die unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen.“ Auch der große Marx ahnte wohl nicht, dass die sogenannte sozialistische Gesellschaft eigentlich die Beharrung als ihre Existenzbedingung wieder aufnahm. Die Gesellschaft der „Freien und Gleichen“ verlor in der Auseinandersetzung mit der sich ständig revolutionierenden, und doch stetigen bürgerlichen Gesellschaft den ökonomischen Wettbewerb, sie sollte funktionieren durch das und wegen des gemeinsamen Eigentums, nur tat sie es nicht hinreichend. Folglich griffen die um Macht besorgten, oft – aber nicht nur – einfältigen Herrscher zu Mauern und Beobachtung, Einschränkungen, die derber waren, so dachte man, als die Zumutungen jener Gesellschaft, in die die DDR im Oktober 1990 einging. Marx kannte, was er sah und studieren konnte, besser als das, was er erhoffte. Jesus und Marx waren sich in ihren Erwartungen an die ideellen Fähigkeiten der Menschen nicht so fern, wie Norbert Blüm offenbar dachte.
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel […] Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießen“ – die Globalisierung und die Öffnung Chinas 1848 im Manifest. „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ Man liest und staunt, wie klar die Sprache und wie aktuell die Beobachtung ist.

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„Die Bourgeoisie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füssen weggezogen“ – eine Bemerkung, die jemanden, der seit zehn Jahren in England lebt, zu Notizen über den Brexit veranlasst, jener Restaurationsbewegung englischer Reaktionäre, die ihr Volk in Haftung genommen haben, gleich wie hoch jene Klippe ist, auf die sie gerade zusteuern. Zu Marx’ Zeiten regierte Königin Victoria, die nur ein Jahr jünger als Marx war, Kaiserin von Indien 1876, Regentin einer Weltmacht. Das Viktorianische Zeitalter und die ungebrochene Tradition, wurde doch eben Ringo Starr zum Ritter geschlagen, der Trommler der Liverpooler Beatles, sie sind gewiss eine Basis, um die insulare Überheblichkeit zu begreifen, ohne die der Brexit-Prozess wohl kaum so weit gekommen wäre. „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ Der britischen Gesellschaft wird ihre Integration entzogen: die mit Schottland, die der beiden Teile Irlands, die des reichen Südostens Englands mit dem ärmeren, zu Marx’ Zeiten prägenden Nordwesten, Manchester, Liverpool, und natürlich die Integration Großbritanniens mit dem gemeinsamen europäischen Markt und der Zollunion. Der Anspruch, etwas Besseres als „Europa“ verdient zu haben, führt zu nichts Besserem. Die herrschende Politik argumentiert systemimmanent – im Wesentlichen fiskalisch: bevor das Referendum im Juni 2016 stattfand, bekam jeder Haushalt Post von David Cameron’s Regierung. Darin wurde vorgerechnet, mit nüchternem Blick, dass uns der Brexit jährlich einige Hundert Pfund pro Haushalt kosten würde, eine bizarre Rechnung, war sie doch ungewiss, und unpassende Argumentation, ging es doch eigentlich um ein soziales, friedliches Europa, das, von Jugoslawien abgesehen, seit 1945 keinen Krieg mehr hatte. Führende Vertreter des Brexit, wie Jacob Rees-Mog, wirken wohl nicht zufällig wie Figuren aus Victoria’s Zeiten. Marx hätte wohl eher erwartet, dass die englische Bourgeoisie, und der sie tragende Adel Grenzen abbauen denn neu errichten würden, was wohl in Nordirland folgen wird.
Beide, Marx und Engels, waren genaue Beobachter der englischen Politik. Engels’ Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ begreift jeder sofort, der einen Besuch im Webereimuseum Quarry Bank Mill bei Manchester machen konnte. Unser Schneider in Liverpool sagte, manche dächten noch, dieses sei ein einflussreiches Land, dabei sei es inzwischen eine eher arme Insel. Wahrlich traurig anzusehen, dass die Schüler Etons glauben, klüger zu sein als jener Mann.

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Die Band der Alexander-von-Humboldt-Schule in Berlin-Köpenick der 1960er Jahre hieß „Team 4“. Da spielten und sangen Thomas Natschinski, Gerrit Gräfe, Detlev Haak und John Knepler. John hatte einen Vater, Georg Knepler, Musiker, Pianist für Karl Krauss und Helene Weigel in den 1930er Jahren, Emigrant in England, wo er Marx’ Schriften nahekam, Begründer der Deutschen Hochschule für Musik Berlin 1950, bekannt mit vielen, die wie er dachten. Eine weitere Begegnung mit Marx, denn Knepler konnte man kennen. „Macht ohne Herrschaft – Die Realisierung einer Möglichkeit“ heißt Georg Kneplers bemerkenswertes Buch, 2004 posthum erschienen, seine Beschäftigung mit Marx. Die Frage, über die auch Knepler nachdachte, ist, warum Marx, der die bürgerliche Gesellschaft so prägend analysiert hat, dass seine Beschreibung bis heute gilt, nicht erfolgreich war, oder sein konnte, in der Vorhersage des Übergangs zur neuen Zeit.
Wie wird es weitergehen. Die bourgeoise Art der Gesellschaft bedroht die globale Existenz und Natur. Gäbe man sie auf, verlöre man wohl ihre oft inhumane Dynamik ebenso wie manche zivilisatorische Errungenschaft. Macht ohne Herrschaft, Arbeit ohne Zwang, christliche Nächstenliebe, kommunistische Eigentumsverhältnisse …, es mangelt nicht an idealen und idealistischen Vorstellungen von einer menschlichen Gesellschaft oder vergesellschafteten Menschheit. Marx hat uns das Überkommene verstehen gelehrt, übrigens hatte auch er große Denker vor und mit ihm, Lehrer und Freunde, wie Wilhelm Wolff, dem er „Das Kapital“ widmete. Engels bemerkt am Grabe von Marx, „und mochte er noch viele Gegner haben, so hatte er kaum noch einen persönlichen Feind“. Ein Heroe früherer, unserer und kommender Zeiten, die bewegt sind und nun jenen wieder nahe, die Karl Marx so umfassend studierte. Eine route royale in die Zukunft kannte auch er nicht. Die Geschichte ist offen, und Eric Hobsbawm, im Gegensatz zu seiner Erwartung, wird nicht der letzte, große Marxist gewesen sein.

* – Dante: Göttliche Komödie, Das Fegefeuer, 5. Gesang.