21. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2018

Wäre China … ja, was denn?

von Wolfram Adolphi

„Wäre China nur reich geworden und hätte sich außenpolitisch mit der Rolle einer prosperierenden Landmacht begnügt, wäre der Aufstieg des Landes weniger problematisch.“
Das ist das Niveau, auf dem Michael Paul in seinem Buch „Kriegsgefahr im Pazifik?“ Weltpolitik abhandelt. Böses, noch böseres, allerbösestes China! Was für ein aufregender Befund: Da „nutzt“ doch „die Führung in Peking“ tatsächlich „ihre neuen Ressourcen dazu, außenpolitische Ambitionen militärisch abzustützen“! Ja, ist denn das die Möglichkeit? Wer, um alles in der Welt, hat ihr das erlaubt? Wie kann die „Landmacht China“ plötzlich „maritime Ambitionen“ entwickeln? Und damit doch tatsächlich „eine wesentliche Grundlage der Weltmachtrolle der USA in Frage [stellen], nämlich die Kontrolle indopazifischer Seewege“? Die doch „kritische Bedeutung für den Fernhandel der USA haben“? Und mithin den „Status“ der USA „als pazifische Schutzmacht und damit auch als Supermacht begründen“?
Nun kann das mal ganz hilfreich sein, ein bisschen mit Was-wäre-wenn-Sätzen zu hantieren. Nur sollte man das konsequent und auf alle bezogen tun. Da fällt einem doch schnell eine Menge ein. Zum Beispiel: Wären die USA 1945 nicht auf die Idee verfallen, den Krieg mit Japan zum Ausprobieren von Atombomben als Weltbeherrschungsinstrument zu benutzen… Hätten sie nicht im Wahn des Antikommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg „Rot-China“ zu ihrem Hauptfeind bestimmt und dementsprechend auch nicht die auf dessen (und der Sowjetunion) strategische Eindämmung gerichteten verheerenden Kriege in Korea und Vietnam geführt… Hätten sie statt des weltweiten Netzes von Militärstützpunkten doch lieber ein System der kollektiven Sicherheit in Asien errichtet (bei dem sie auf zahllose Vorschläge zum Beispiel aus China, Indien und der Sowjetunion hätten zurückgreifen können)… Hätten sie auf das Verschwinden der Sowjetunion 1989/90, das von einseitiger sowjetischer Abrüstung begleitet war und für einige wenige Monate die Chance einer „weltweiten Perestroika“ (Gro Harlem Brundtland in Davos im Januar 1989) bot, nicht 1991 mit dem Irakkrieg geantwortet…
So etwas kommt aber Michael Paul nicht in den Sinn. Er ist ganz und gar westlicher weißer Mann. Kommt gar nicht auf die Idee, die Frage zu stellen, ob es nicht angesichts der wachsenden Rolle Chinas endlich, endlich an der Zeit sein könnte, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA errichtete „Schutzmacht“-Rolle einmal wirklich grundsätzlich in Frage zu stellen. Und also auf völlig andere internationale Sicherheitsstrukturen, die selbstverständlich ein Wiedererstarken der UNO einschließen müssen, hinzuarbeiten. Denn diese Idee hat etwas zur Voraussetzung, was dem imperialistischen Westen und seinen Apologeten an der politikwissenschaftlichen Front schon immer abging: Die Einsicht, dass das, was China nach einem Jahrhundert schamlosester Ausbeutung und Demütigung durch den Westen – und Japan seit 1949 – tut, nichts anderes ist, als daran zu arbeiten, seinen ganz normalen Platz in der Weltgesellschaft wiedereinnehmen zu können. Dass die USA das überhaupt als Drohung empfinden, liegt doch nur daran, dass sie mit größter Selbstverständlichkeit – quasi: gottgegeben – Räume für sich beanspruchen, die ihnen bei allem nüchternen Nachdenken über die Verteilung der Menschen und der Ressourcen auf der Welt einfach nicht zustehen.
Aber das ist nicht Pauls Metier. China – so sieht er das – fordert die Welt und insbesondere die USA heraus, und nun müssen die Welt und insbesondere die USA sich etwas einfallen lassen, um etwas dagegenzusetzen, und so ist überall Konflikt, und es wird überall Konflikt bleiben, und aus dem kann der große Krieg erwachsen. Zum Beispiel dann, wenn „politische Fehleinschätzungen, ungehinderter Nationalismus und revisionistisches Machtkalkül“ – bei wem und warum, bleibt ungeklärt – die Oberhand gewinnen.
Natürlich enthält Pauls Buch manche interessante Informationen und Deutungen. 320 Seiten wollen bedruckt sein. Man liest von „maritimen Aspekten des geopolitischen Wandels“ und „Chinas Großstrategie“, für die sogar das „Narrativ einer nationalen Renaissance“ eingeräumt wird, erfährt etwas über „Akteure und Instrumente chinesischer Sicherheitspolitik“ und „Abschreckungsstrategien“ sowie „chinesische Raketenstreitkräfte“, dann auch über „Die Schwerpunktverlagerung der USA nach Asien“ (grammatisch nicht wirklich geglückt) und „maritime Konflikte im asiatisch-pazifischen Raum“ sowie schließlich „Perspektiven sino-amerikanischer Rivalität“ – aber das alles bleibt blutleer.
Blutleer, weil es ziellos ist. Es ist mit diesem Band 68 der Reihe „Internationale Politik und Sicherheit“, die von der „Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin“ herausgegeben wird, genauso, wie es schon mit Band 67, der ebenfalls die Sicherheit in Asien zum Thema hatte , war: Allweil ist von Konflikten die Rede, die ausbrechen können oder auch nicht und in einen Weltkrieg münden können oder auch nicht, aber da eine Analyse der komplexen ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen von Kriegen vollständig ausbleibt und aus der Geschichte ins Heute wirkende Faktoren nur da, wo es gerade passt, eingestreut werden, ist es folgerichtig, dass es auch keinerlei ernsthafte Vorschläge gibt, was denn eventuell zu tun sein könnte, um den Ausbruch des für möglich gehaltenen großen Krieges zu verhindern.
Stattdessen werden wohlfeile sinophobe Stereotype breitgekaut – „die genauen inneren Strukturen des Herrschaftsapparates in Beijing waren und sind undurchsichtig“, verkündet Paul unter Berufung auf den „langjährigen Chinakenner“ Henry Kissinger, und es macht ihm gar nichts, dass das Zitat aus dem Jahre 2011 stammt, und Kai Strittmatter darf mit einem Artikel von 2012 als Zeuge dafür gelten, dass China mit seiner „obsessiven Geheimniskrämerei“ wirke, „als sei es aus der Zeit gefallen“ –; es gibt ein peinliches Kokettieren mit dem „Curriculum von Militärakademien wie dem U.S. Naval War College“, in dem gelehrt werde, „dass Kriege auch in Zukunft aus denselben Gründen stattfinden werden, wie sie Thukydides vor 2500 Jahren benannt hat: Furcht, Ehre und Nutzen“; und es gibt den offensichtlich in einschlägigen Kreisen unvermeidlichen Rückgriff auf den „Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler“, der „am Ende seines Panoramas des Ersten Weltkrieges“ die Meinung vertreten habe, dass „strategisches Lernen für China [bedeute], die deutschen Fehler zu vermeiden – allerdings nicht in dem Sinne, den ‚Griff nach der Weltmacht‘ überhaupt nicht anzustreben, sondern dies geschickter und umsichtiger anzugehen.“
Die neoliberale westliche Welt vermag sich nur in der Gegenwart und nur in ihrer darin beschlossenen ewigen Überlegenheit zu denken. Der Krieg erscheint in diesem Welt- und Selbstbild immer schon als normal; nun gilt diese Normalität aber nicht mehr „nur“ dem regionalen Krieg, sondern auch dem ganz großen. Von Alternativen ist keine Rede, und von Visionen von einer Welt, die im Frieden zu leben vermag, schon gar nicht.
Eine „Stiftung Wissenschaft und Politik“, die in zwei aufeinanderfolgenden Büchern zu Fernost am Ende nichts anderes mitzuteilen hat, als dass es Krieg geben wird oder auch nicht: was für ein Armutszeugnis.

Michael Paul: Kriegsgefahr im Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität, Nomos Verlagsgesellschaft, Berlin / Baden-Baden 2017, 320 Seiten, 64,00 Euro.