20. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2017

Atomwaffen in Deutschland

von Sarcasticus

Der Vizefraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag, Alexander Graf Lambsdorff, ist gegen den Abzug der letzten US-Kernwaffen aus Deutschland. Er erklärte der Welt am Sonntag dieser Tage: „Würden die ganz wenigen noch vorhandenen Waffen abgezogen, könnten wir als Deutsche in der Nato bei dieser Frage unsere Werte nicht mehr vertreten, unsere Interessen nicht mehr behaupten.“ Und fuhr fort: „Das wäre kurzsichtig: Einfluss hat nur, wer in allen entscheidenden Gremien Sitz, Stimme und Gehör unserer Partner hat.“ Die NATO sei „ein nukleares Bündnis […], in dem nur mitentscheiden darf, wer einen Teil dieser Last trägt“. Entweder ist der Mann wirklich so dumm zu glauben, was er da geschwätzt hat, oder er wollte die Öffentlichkeit vorsätzlich in die Irre führen. Egal wie die Antwort ausfällt: Kaum ist die FDP wieder im Bundestag, wünscht man schon, sie wäre geblieben, wo der Pfeffer wächst.
Die NATO hat 29 Mitgliedstaaten. In fünfen davon haben die USA derzeit Kernwaffen stationiert: in Deutschland (bei der Bundesluftwaffe in Büchel), in Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei. Auf Fliegerhorsten dieser Verbündeten eingelagert, werden sie von US- Militär bewacht. Es handelt sich um jahrzehntealte, frei fallende und daher zielungenaue Bomben vom Typ B61-3 (Sprengkraft skalierbar von 0,3 bis 170 Kilotonnen) und B61-4 (Sprengkraft skalierbar von 0,3 bis 45 Kilotonnen). Insgesamt soll es sich um etwa 150 bis 180 Sprengköpfe handeln, die im Kriegsfall mittels nationaler Trägermittel dieser Staaten eingesetzt werden sollen – mit Ausnahme der Bomben in der Türkei, für die US-Kampfflugzeuge vorgesehen sind. Im Fachjargon heißt dieses Konstrukt nukleare Teilhabe.
Wenn man von Frankreich und Großbritannien absieht, die mehr (Frankreich) oder weniger (Großbritannien) eigenständige Atommächte sind, lagern also auf den Territorien von 21 NATO-Mitgliedern keine Kernwaffen der USA.
Können diese Staaten im Nordatlantikpakt „bei dieser Frage“ tatsächlich ihre „Werte nicht mehr vertreten, […] Interessen nicht mehr behaupten“? Alle 21 sind, wie Lambsdorff der offiziellen Homepage der NATO hätte entnehmen können, Mitglieder der im Dezember 1966 zur Behandlung nuklearer Bündnisfragen geschaffenen Nuklearen Planungsgruppe (NPG) – und zwar ausdrücklich „unabhängig davon, ob sie selbst Kernwaffen unterhalten oder nicht“, wie es NATO-offiziell heißt.
So verwundert es nicht, dass es keinerlei Auswirkungen auf das Mitwirken Kanadas und Griechenlands in der NPG hatte, als deren Regierungen entschieden, aus der nuklearen Teilhabe ganz (Kanada) oder teilweise (Griechenland) auszuscheren. In beiden Ländern lagern seither keine Kernwaffen mehr.
Gravierender fällt ins Gewicht, dass die NPG seit langem ein rein deklaratorisches Gremium für Schönwetterzeiten ist, das etwas vorgaukelt, woran in den USA nie ernsthaft gedacht war: Gleichberechtigung und Mitentscheidung. 2010 schrieb Egon Bahr: „Das Diktum General de Gaulles […] gilt bis heute: Kein Staat teilt die Entscheidung über den Einsatz seiner Atomwaffe mit irgendeinem anderen, und sei es der beste Freund. Also wurde begonnen, eine Gleichberechtigung vorzutäuschen, die es nicht geben konnte.“ Das Gremium, in dem die Täuschung bis heute zelebriert wird, ist – die Nukleare Planungsgruppe. Von Auseinandersetzungen jedenfalls, wie sie Helmut Schmidt als Verteidigungsminister ab 1969 in der NPG wegen der Stationierung von US-Atomminen im Grenzbereich der Bundesrepublik zur DDR geführt hat – nachzulesen in Werner Sonnes jüngstem Buch „Leben mit der Bombe. Atomwaffen in Deutschland“ – hat man seit Jahrzehnten nichts mehr gehört.
Die USA haben in nuklearen Einsatzfragen im Übrigen nie mehr konzediert als Konsultationen – „falls die Zeit es erlaubt“, wie sich Bahr erinnerte. Allerdings ist davon auszugehen, dass in sich zuspitzenden Krisensituationen, schon gar im Falle eines kriegerischen Konflikts die Zeit für die übliche Konsultations- und Debattenroutine fehlt. Über die Einsatzfreigabe der Teilhabekernwaffen entscheidet sowieso ausschließlich der USA-Präsident, der überdies – ebenfalls letztlich in Eigenregie und ohne entscheidungsrelevantes Mitspracherecht der Verbündeten – die Zielzuweisung vornimmt. Selbst „wer einen Teil dieser Last trägt“, werter Herr Lambsdorff, wird im Falle des Falles also nicht mitentscheiden dürfen.
Oder sollten Sie mit Ihrer Aussage auf ein angebliches Vetorecht der Bundesrepublik gegen den Einsatz von Teilhabe-Kernwaffen mit deutschen Trägersystemen angespielt haben, das Washington auf westdeutsches Drängen 1969 schriftlich zugesichert haben soll? Da müssten Sie schon Ross und Reiter nennen, was quasi einer erstmaligen semioffiziellen Bestätigung eines solchen Arrangements gleichkäme. Auch in diesem Falle blieben Fragen – etwa danach:
– ob Washington heute noch dazu steht und
– ob die Bundeskanzlerin gedächte, im Falle des Falles zum Schutz existenzieller deutscher Sicherheitsinteressen davon Gebrauch zu machen.
Geheimniskrämerei in dieser Frage ist fehl am Platze. Nur wenn für Moskau unzweifelhaft klar wäre, dass Angriffe mit US-Kernwaffen mittels deutscher Trägersysteme auf Ziele in Russland ausgeschlossen sind, würde der Kreml seinerseits im Falle des Falles vielleicht nicht auf die ihm zu Gebote stehenden militärischen Gegenoptionen zurückgreifen. Diese Optionen werden von russischer Seite recht offen thematisiert. Der Militärexperte Igor Korotschenko, Mitglied im Fachbeirat des russischen Verteidigungsministeriums, sprach aus, was niemandem ein Geheimnis sein sollte: Der Fliegerhorst in Büchel könne mit Überschallbombern Tu-22M3 oder Interkontinentalraketen erreicht werden.
Vor allem gegen letztere gäbe es keinerlei Abwehr- oder auch nur Zivilschutzmittel.
Überdies sind die jeweiligen Teilhabestützpunkte bekannt und als Ziele aus dem Weltraum vermessbar. Daher müsste der potenzielle Kriegsgegner nicht unbedingt darauf warten, dass von dort Kernwaffen gegen ihn in Marsch gesetzt werden. Er könnte präemptiv agieren.
Was die potenziell letalen Konsequenzen der nuklearen Teilhabe betrifft, hatten Politiker mit Durchblick sie früher bereits verinnerlicht. Egon Bahr: „In meinem Wahlkreis sah die sogenannte Teilhabe so aus: In der Mitte lagen die Atomgranaten, gut bewacht von den Amerikanern vor den Deutschen, drumherum lagen die Deutschen und bewachten die Amerikaner. Von ihrer Feuerstellung nördlich des Nord-Ostsee-Kanals konnten die Geschütze gerade Lübeck und Hamburg erreichen. Natürlich blieben die Versuche des Bundeskanzlers Helmut Schmidt vergeblich, ob es ein deutsches Veto gegen ihren Einsatz geben konnte. […] Im Ernstfall, hatte Franz Josef Strauß gesagt, würde er befehlen, die Amerikaner zu überwältigen. Der Bundeskanzler hatte intern erklärt: Sein letzter Befehl an die Bundeswehr wäre Befehlsverweigerung gegen amerikanische Weisungen.“
Man wüsste gern, was die Bundeskanzlerin zu diesen Fragen denkt. Bekannt ist, dass sie die Beibehaltung der nuklearen Teilhabe befürwortet. Ebenso, dass sie ein falsches Spiel trieb, als der vormalige FDP-Chef und nachmalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle den Abzug der letzten Kernwaffen aus Deutschland als Ziel im Koalitionsvertrag 2009 durchgeboxt hatte: Sie ließ ihren sicherheitspolitischen Berater Christoph Heusgen unter der Hand Entwarnung gegenüber Washington blasen.
Das Thema nukleare Teilhabe Deutschlands wird von verantwortlichen Politikern traditionell gern totgeschwiegen, um beim Souverän keine schlafenden Hunde zu wecken. Mit Erfolg: Es gibt seit Jahren keine breite kritische Öffentlichkeit mehr, die sich damit auseinandersetzte. Auch in den Mainstreammedien herrscht meist Schweigen. Trotzdem könnte die nukleare Teilhabe, auch wenn man nicht gleich eine Wiederholung der Nachrüstungsauseinandersetzungen der Jahre ab 1979 erwarten müsste, jederzeit innenpolitische virulent werden – mindestens aus zwei Gründen:

  • In absehbarer Zukunft werden die USA die veralteten B61-Bomben auch in Büchel – wo gerade erst wieder das Atomwaffenmanöver „Steadfast Noon“ stattfand – gegen das neue Modell B61-12 austauschen.
  • Die Bundeswehr muss dafür ein Trägersystem vorhalten, wozu das bisherige, der Kampfbomber Tornado, nur eingeschränkt und zeitlich begrenzt geeignet ist.

Was die B61-12 betrifft, hält das zuständige US-Energieministerium (DoE) bisher an seinem Statement fest, dass die Serienproduktion 2021 beginnen könne. Daran hat der Berliner Militär- und Sicherheitsexperte Otfried Nassauer bereits 2012 begründete Zweifel angemeldet. Er rechnet mit einer Stationierungsmöglichkeit in Europa nicht vor 2023.
Fest steht dagegen, dass die B61-12 als Lenkwaffe von erhöhter Treffgenauigkeit fähig sein wird, vor der Explosion mehrere Meter in den Erdboden einzudringen. Dadurch soll sie bei einer skalierbaren Sprengkraft zwischen 0,3 und 50 Kilotonnen, laut Hans Kristensen von der Federation of American Scientists, eine Wirkung erzielen können, die einer oberirdischen Explosion von bis zu 1250 Kilotonnen entspräche. Das prädestiniert diese Waffe zur Bekämpfung besonders relevanter militärischer Ziele. Damit sei die B61-12, sagen Experten, keine taktische Kernwaffe wie die B61-3 und -4 mehr, sondern eine strategische und könnte, wenn auch nicht von Büchel aus, aber etwa mit dem US-Tarnkappen-Bomber B-2 selbst sogenannte gehärtete Punktziele (verbunkerte Raketensilos und militärische Führungseinrichtungen) vernichten.
Und was die deutschen Tornados betrifft, müssten sie teuer modernisiert werden, um als Trägermittel im Rahmen der nuklearen Teilhabe die neuen Möglichkeiten der B61-12 in punkto Treffgenauigkeit realisieren zu können. Selbst das aber wäre nur eine Lösung auf Zeit, denn die Tornados – Erstflug vor fast 45 Jahren – nähern sich ihrer Dienstaltersgrenze. Rechnerisch kann eine anderweitig flugeinsatzmäßig geschonte Stückzahl zwar noch bis über das Jahr 2035 hinaus in nuklearen Teilhabemissionen abheben, aber die offizielle Lebensdauergrenze der B61-12 wird vom DoE mit 2050 angegeben. Und das ist, so bisherige Erfahrungen, längst nicht das Ende der Fahnenstande. Die B61 heißt so, weil sie eine Bombe aus dem Jahre 1961 ist. Sie hat also – mit Modifikationen und Maßnahmen zur „Lebensverlängerung“ – bereits 56 Jahre durchgehalten. Damit hätten wir beim Nachfolgemodell, nimmt man 2021 doch als Basisjahr, bereits die Schwelle 2075 hinter uns gelassen.
Also muss im Rahmen der üblichen militärischen Logik ein neues Trägersystem her. Die Entscheidung darüber steht zwar nicht unbedingt für diese Legislaturperiode an. Aber nicht von der Hand zu weisen ist: Ein neues deutsch-französisches Kampfflugzeug, für das bisher auch noch nicht mehr vereinbart wurde, als im kommenden Jahr einen Zeitplan dafür zu entwickeln, wird das Nachfolgemodell der Teilhabe-Tornados nicht werden – und zwar nicht in erster Linie, weil eine solche Maschine frühestens in 25 Jahren in den Truppendienst ginge. Unvorstellbar ist erfahrungsgemäß vielmehr, dass Frankreich seine neueste Kampfflugzeugtechnologie mit den USA teilt, bloß damit deutsche Flugzeuge für den Einsatz mit US-Kernwaffen zertifiziert werden könnten.
Die Bundesluftwaffe „erwägt den Kauf des neuen US-Kampfjets F-35 JSF (Joint Strike Fighter) von Lockheed Martin“, wusste WELT.N24 im Mai zu berichten. Dieses Flugzeug ist von den USA auch als Trägersystem für die B61-12 vorgesehen, obzwar in der zu entsprechenden Einsätzen befähigten DCA-Version (Dual Capable Aircraft – konventionell und nuklear einsetzbares Flugzeug) bisher noch nicht bestellt. Zum Stückpreis fehlen bestätigte Angaben. Ursprünglich sollte er 70 Millionen Dollar nicht übersteigen. Derzeit kursieren Werte bis zu 160 Millionen. In jedem Fall wäre es eine Multimilliardenentscheidung, die in den Beschaffungsplanungen der amtierenden Verteidigungsministerin jedoch gar keine Hausnummer hat. Letztlich wird das Parlament zu entscheiden haben, das dann hoffentlich einen fundierteren Informationsstand hat als Alexander Graf Lambsdorff …
An dessen Adresse und nur für den Fall, er ist kein Rosstäuscher, soll mit einem Aperçu des Kabarettisten Uwe Steimle geschlossen werden: „Wer dumm geboren wird, der kann nichts dafür. Aber wer auch noch dumm stirbt, der muss schon ganz schön blöd sein.“