von Wolfgang Scheler
An der Oktoberrevolution schieden sich schon damals die Geister, und an ihr scheiden sie sich noch heute. Den Weg, den die Oktoberevolution eröffnet hatte, sind viele eine ganze Strecke mitgegangen. Nun wollen sie wissen, warum er nicht zum Ziel geführt hat. Vor allem aber ist das Grundproblem, das die Oktoberrevolution in Angriff genommen hatte, noch immer ungelöst. Und wenn ein neuer Weg gefunden werden soll, sind die alten Erfahrungen zu bedenken.
So ist es nur verständlich, dass der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution vielfältiges Interesse erregt. Manches ist dazu gesagt und geschrieben worden. Auch neue Bücher sind erschienen und stellen wesentliche Fragen erneut zur Debatte. Gedanken aus ihnen aufnehmend möchte ich zu einigen dieser Fragen eine Meinung äußern, zu der ich im kritischen Nachdenken über die von der marxistisch-leninistischen Ideologie vermittelten Vorstellungen gelangt bin.
Geprägt waren diese Vorstellungen von der Beschreibung der Oktoberrevolution in der „Geschichte der KPdSU. Kurzer Lehrgang“ und einer dementsprechenden Darstellung in Politik, Kunst und Literatur. Sie besagte:
- Es war eine sozialistische Revolution, und mit ihr begann eine neue Epoche, die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.
- Das Proletariat, geführt von seinem bewussten Vortrupp, der marxistisch-leninistischen Partei, eroberte die politische Macht und verteidigte sie.
- Erobert werden muss die politische Macht durch bewaffneten Aufstand, und sie muss mit bewaffneter Macht verteidigt werden.
An diesen Grundaussagen hatte sich auch nach Stalins Entthronung nichts Wesentliches geändert. Wie sind sie aus heutiger Sicht zu bewerten? Was sind die Tatsachen? Welche politischen Kontroversen gab es schon damals?
Stand in Russland eine bürgerliche oder eine sozialistische Revolution historisch auf der Tagesordnung?
Zuerst muss man sich klarmachen, dass die Oktoberrevolution nicht als eigenständige Revolution verstanden werden kann, zu der sie unter dem Namen „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ überhöht worden ist. Vielmehr muss sie verstanden werden als Teil eines umfassenderen revolutionären Geschehens in Russland. Sie war Teil der russischen Revolution, die im März 1917 ausbrach. Sie war eine Revolution in der Revolution. Nach Lenins zutreffender Auffassung sind Revolutionen nur dann möglich, wenn eine gesamtnationale, Ausgebeutete wie Ausbeuter umfassende Krise eintritt. Als der Krieg eine solche gesamtnationale Krise in Russland erzeugt hatte, brach spontan die russische Revolution aus und stürzte die marode reaktionäre Adelsherrschaft des Zarismus. Wie in der Revolution 1905 organisierten sich sofort die Sowjets der Arbeiter und Soldaten (hauptsächlich Bauern). Sie wurden neben Duma und Provisorischer Regierung zu einer tragenden Säule der politischen Macht, vor allem der bewaffneten Macht (Doppelherrschaft).
Diese späte bürgerliche Revolution brachte Russland erstmals bürgerlich-demokratische Freiheiten, darunter das damals progressivste Wahlrecht aller Staaten. Die Sowjets, und in diesen die Arbeiter, waren die treibende revolutionäre Kraft. Geführt wurden sie aber von Sozialdemokraten-Menschewiki und von Sozialrevolutionären (Repräsentanten der Bauernschaft). Zusammen mit der provisorischen Regierung setzten die Sowjetführer den Krieg fort, jetzt unter der Losung der revolutionären Vaterlandverteidigung. Weil die lebenswichtigen Interessen Frieden, Brot, Boden, weswegen die Revolution ausgebrochen war, nur von den Sozialdemokraten-Bolschewiki vertreten wurden, gewannen diese nun Masseneinfluss und die Mehrheit im hauptstädtischen Sowjet. Der Petrograder Sowjet forderte die sofortige Übergabe der ganzen zentralen wie lokalen Macht in die Hände der Sowjets, die sofortige Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern, die Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter und den sofortigen Eintritt in Friedensverhandlungen. Das heißt, die ungelösten Probleme, die zum größten Teil Aufgaben der bürgerlichen Revolution waren, erzwangen eine neue Phase der Revolution. Deshalb ist Samir Amin zuzustimmen, wenn er sagt: „So ist die Russische Revolution nicht von Lenin geschaffen worden, sondern die Russische Revolution hat Lenin hervorgebracht.“
Die Krise der bürgerlichen Revolution nutzte Lenin, um seine sozialistische Strategie zu verwirklichen, mit der er schon im April seine Genossen überrascht hatte, denn bis dahin waren die Marxisten sich einig, dass bei dem unentwickelten Zustand des russischen Proletariats und der russischen Gesellschaft die Revolution zunächst nur einen bürgerlichen Inhalt haben konnte. Lenin und Trotzki erkannten jedoch, dass in dieser späten bürgerlichen Revolution das Proletariat der Hauptakteur sein müsse und deshalb genötigt sein würde, die Macht zu ergreifen. Das entsprach der Theorie der permanenten Revolution, die Trotzki bereits 1905 aufgestellt hatte und später so beschrieb: „Ihrer unmittelbaren Aufgabe nach ist die russische Revolution eine bürgerliche. Doch das russische Bürgertum ist antirevolutionär. Der Sieg der Revolution ist daher nur als Sieg des Proletariats möglich. Das siegreiche Proletariat wird aber beim Programm der bürgerlichen Demokratie nicht stehen bleiben, sondern zum Programm des Sozialismus übergehen. Die russische Revolution wird zur ersten Etappe der sozialistischen Weltrevolution.“
Wenn wir heute darüber urteilen, sollten wir nicht vergessen, dass Lenins und Trotzkis Strategie den Beschlüssen der II. Internationale entsprach, während fast alle anderen sozialdemokratischen Parteien 1914 auf die Seite der Bourgeoisie übergelaufen waren. Schon 1907 hatte der Internationale Sozialistenkongress die Arbeiterbewegung in die Pflicht genommen, eine durch einen Krieg herbeigeführte Krise zu nutzen, um die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen. Diese Pflicht erfüllten allein die Bolschewiki. Ebenso dachten auch die marxistischen Linken in Deutschland, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, denn in ihren Augen hatte der vom Weltkrieg verursachte Zivilisationsbruch die Alternative gestellt: Sozialismus oder Barbarei. Rosa Luxemburg urteilte 1918: Den Bolschewiki bleibt das geschichtliche Verdienst, „mit der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein“. Aber, setzt sie hinzu: „In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden.“
Genau das ist der Springpunkt. Deswegen sehe ich die Hauptverantwortung für die Fehlentwicklung der Oktoberrevolution darin, dass bereits vor und erst recht im Ersten Weltkrieg die sozialdemokratische Arbeiterbewegung unter Führung der „Mehrheitssozialisten“ vom Sozialismus abkam und seither in bürgerliche Politik verfallen ist. Hierzu wiederum trug dann ihrerseits auch die Wahrnehmung des Geschehens in Sowjetrussland und in der UdSSR bei.
Auf die eingangs gestellte Frage, was historisch auf der Tagesordnung stand, lautet also die Antwort: Objektiv war das die bürgerliche Revolution, das revolutionäre Subjekt in ihr aber waren Arbeiter und Bauern. Aus diesem Widerspruch resultierte, dass die Oktoberrevolution subjektiv sozialistische Ziele stellte, diese aber – mangels dafür notwendiger innerer und äußerer Voraussetzungen – objektiv verfehlt werden mussten. Deshalb kann sie nur als eine gescheiterte sozialistische Revolution angesehen werden.
Diktatur des Proletariats oder Diktatur einer Partei- und Staatsführung?
Es war und ist dies wohl die entscheidende Kontroverse. Den bewaffneten Aufstand führte das Militärrevolutionäre Komitee des Petrograder Sowjets auf Beschluss des ZK der Bolschewiki aus. Das stellte den Sowjetkongress, der auf Drängen der Bolschewiki zum selben Datum einberufen war, vor vollendete Tatsachen. Lenin hatte den Beschluss gegen den Willen führender ZK-Mitglieder wie Kamenew und Sinowjew durchgesetzt. Diese wollten zusammen mit anderen, dass der Aufstand zum Sturz der Provisorischen Regierung vom Sowjetkongress beschlossen und somit von allen Sowjetparteien getragen würde. So aber legte der Aufstand die Macht nicht in die Hände der Sowjets, sondern in die Hände einer Partei.
Zwar musste selbst der prominente Sozialdemokrat-Menschewik Julius Martow anerkennen, dass es ein proletarischer Aufstand war, denn „fast das gesamte Proletariat unterstützt Lenin und erwartet seine soziale Befreiung von dem Aufstand“. Doch Rosa Luxemburg kritisierte scharf, was sie die „Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn“ nannte. Sie hielt Lenin und Trotzki vor, dass sie mit der Auflösung der neu gewählten Konstituierenden Versammlung die Demokratie durch die Diktatur ersetzten. Sie warnte: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in dem die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.“ Einige „Dutzend Parteiführer […] dirigieren und regieren, […] und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne“. Statt eine sozialistische Demokratie aufzubauen, schafften die Bolschewiki jegliche Demokratie ab. Lenin selbst gestand ein, mit dem aus lediglich 19 Personen bestehenden ZK „haben wir eine regelrechte ‚Oligarchie’. Keine einzige wichtige politische oder organisatorische Frage wird in unserer Republik von irgendeiner staatlichen Institution ohne Direktiven des Zentralkomitees unserer Partei entschieden“. Die Sowjets waren damit degradiert zu bloß ausführenden Organen und das Sowjetsystem als sozialistische Alternative zum bürgerlichen Parlamentarismus konterkariert.
Die Abschaffung der Demokratie, die von den Sowjets erkämpft worden war, und die Alleinherrschaft der Bolschewiki hatten eine ganz unmittelbare und sehr schwerwiegende Folge – den Bürgerkrieg. Das Land zerfiel in zwei feindliche Lager, die sich militärisch und mit gnadenlosem Terror bekämpften. Lenin wollte den Bürgerkrieg. Er erklärte ihn als notwendig für die Revolution. Für ihn „ist jede große Revolution, und ganz besonders eine sozialistische […] undenkbar ohne einen Krieg im Innern, d. h. einen Bürgerkrieg, der eine noch größere Zerrüttung als ein äußerer Krieg bedeutet“. Und der rote Terror war nicht, wie beschwichtigend erzählt, die Antwort auf den weißen Terror, er war gewolltes Herrschaftsprinzip. So ordnete Lenin zum Beispiel an: „Der Aufstand in fünf Kulakengebieten muss gnadenlos unterdrückt werden. […] Hängt (hängt unbedingt so, dass das Volk es sieht) nicht weniger als einhundert bekannte Kulaken, reiche Leute, Blutsauger.“
Kautsky sorgte sich darum, dass der rote Terror, diese abstoßende Methode, „nicht zur Katastrophe des Sozialismus überhaupt wird“ und dass diese Methode deshalb „von der marxistischen genau unterschieden“ werden muss. In direkter Entgegnung rechtfertigte Trotzki in seiner Schrift Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky den Terror damit, dass die Revolution wie der Krieg sich auf Abschreckung gründet. „In diesem Sinne unterscheidet sich der rote Terror prinzipiell nicht vom bewaffneten Aufstand, dessen direkte Fortsetzung er ist.“
Der Bürgerkrieg kostete das Land 13 Millionen Tote, und er war nicht weniger grausam als der imperialistische Krieg, in dem Russland vier Millionen Tote zu beklagen hatte. Die Wirtschaft war vollständig zerrüttet, die Arbeiter hungerten und die Bauern rebellierten gegen die Pflichtablieferung. Der Kriegskommunismus war gescheitert und die Macht der KPR(B) existenziell bedroht.
Im Frühjahr 1921 erhoben sich die Kronstädter Matrosen, unterstützt von Petrograder Arbeitern, die Revolutionselite also, zum Aufstand unter der Hauptlosung: „Alle Macht den Sowjets – keine der kommunistischen Partei“. Sie forderten geheime Wahlen zu den Sowjets, Presse- und Versammlungsfreiheit für Arbeiter, Bauern, und sozialistische Parteien und proklamierten: „Die Oktoberrevolution ausführend hatte die Arbeiterklasse gehofft, ihre Emanzipation zu erreichen. Das Ergebnis war jedoch eine noch größere Versklavung der menschlichen Persönlichkeit. Die Macht des Polizei-Monarchismus ging in die Hände der Usurpatoren über, der Kommunisten, die den Arbeitern anstelle von Freiheit die Furcht brachten, in jeder Minute in die Folterkammern der Tscheka zu geraten.“ Lenin ließ den Aufstand von Trotzki und Tuchatschewski militärisch brutal und erbarmungslos niederschlagen.
Nach meiner Ansicht ist im Bürgerkrieg mit der regulären Armee und dem Gewaltapparat der Tscheka ein militaristisches Herrschaftsverhältnis nach innen und außen geschaffen worden, das dann bis zum Ende der UdSSR fortwirkte. Lenin hielt für notwendig, die Arbeiterklasse habe das „revolutionäre Schöpfertum der Unterdrückten zu verknüpfen mit der Ausnutzung jenes Vorrats an bürgerlicher Wissenschaft und Technik des Militarismus […], ohne die sie die moderne Technik und die modernen Methoden der Kriegführung nicht meistern kann.“ Von einem „sozialistischen Militarismus“ als bewaffnetem Arm der Revolution sprach später Sinowjew.
Als Fazit kann man ziehen: Die heroischen Illusionen über die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ müssen wir fahren lassen. Es brauchte nicht erst des Despoten Stalin, um die Revolution auf einen Irrweg zu führen. In Analogie zu Samir Amin kann man sagen: Lenins fehlgeschlagene Oktoberrevolution hat Stalin hervorgebracht.
Welche Gesellschaft ist in der Sowjetunion entstanden?
Wenn man die Gesellschaft in der Sowjetunion aus marxistischer Sicht beurteilen will, müsste man ihre Basis und ihren Überbau untersuchen. Bisher haben die meisten Wissenschaftler beinahe allein den Überbau im Auge. Über diesen politischen Überbau ist vorstehend schon das Wesentliche gesagt. Noch einmal: Folgt man Rosa Luxemburg, entstand als politisches gesellschaftliches Verhältnis nicht etwa die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Parteiführung, eine Diktatur im rein bürgerlichen Sinne. Unter der Oberherrschaft der Parteiführer war das tätige Element die Bürokratie. „Die Sowjetbürokratie expropriierte das Proletariat politisch“, heißt es bei Trotzki später, „der Staat ‚gehört’ gewissermaßen der Bürokratie.“ Unter Lenin und Stalin war das politische System eine terroristische Diktatur. Unter Chruschtschow und Nachfolgern hörte es auf, eine terroristische Diktatur zu sein, blieb aber Diktatur der Parteiführung mit der Bürokratie als Funktionselite. Dieses politische Verhältnis prägte natürlich auch die anderen ideologischen Verhältnisse wie Moral, Recht, Religion, Kunst, Philosophie. Sie alle wurden geformt vom Leninismus.
Zu Recht versteht Michael Brie den Leninismus nicht nur als Theorie, sondern auch als System gesellschaftlicher Macht.Zu diesem System gehören:
- erstens die Legitimationsideologie, die im Namen der Arbeiterklasse den Herrschaftsanspruch zum Zweck begründet, eine Gesellschaft des Gemeineigentums zu schaffen, was erfordert, die Macht in den Händen einer Partei mit wissenschaftlicher Weltanschauung zu konzentrieren.
- zweitens die Herrschaftsform der parteistaatlichen geistigen, politischen, sozialen und ökonomischen Diktatur.
- drittens die Institutionen der parteistaatlichen Herrschaft, darunter die Apparate zur Verbreitung der Legitimationsideologie und zur Ausübung der Diktatur, vor allem die politische Polizei und die politische Gerichtsbarkeit.
- viertens eine Schattengesellschaft, die aus Gegentendenzen hervorgeht, die je nach Opportunität geduldet werden, um die Funktionsdefizite des Systems abzuschwächen.
Eine solche Beurteilung des Leninismus besagt, dass auch die Leninisten den Marxismus revidiert haben. Sie selber sind Revisionisten.
Über die ökonomische Basis der neuen Gesellschaft herrscht noch immer weitgehende Unklarheit. Nur vereinzelt wird ihrer Ökonomie eine theoretische Betrachtung gewidmet. Lenin war bekanntlich der Ansicht: „Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein.“ Daher rührte die fixe Idee, dass gesellschaftliches Eigentum entstünde, indem der sozialistische Staat das private Kapital enteignet und sich selbst zum alleinigen Eigentümer der Produktionsmittel und Produkte macht. So geschah es im Kriegskommunismus, wurde teilweise rückgängig gemacht von der Neuen Ökonomischen Politik, danach wieder praktiziert beim Aufbau des Sozialismus in einem Land und dann in den Ländern der sogenannten sozialistischen Staatengemeinschaft. Vollständige Verstaatlichung = Sieg des Sozialismus – so die Vorstellung.
Rudolf Bahro sah das schon 1977 ganz anders. In seinem Buch „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ stellte er die Diagnose: „Unser real existierender Sozialismus ist eine prinzipiell andere Ordnung als die in der sozialistischen Theorie von Marx entworfene.“ Er erklärte ihn aus der „eigenen Gesetzmäßigkeit“ des „nichtkapitalistischen Weges“. Der nichtkapitalistische Weg habe seinen Ursprung in der „Hinterlassenschaft der sogenannten asiatischen Produktionsweise“, die er als Ökonomische Despotie bezeichnete. Russland sei fortgeschritten von der agrarischen Despotie zur industriellen Despotie. Den real existierenden Sozialismus verstand Bahro als „nichtkapitalistische Industriegesellschaft“. Eine solche könne „unmöglich schon als sozialistisch, als frei von Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen angesehen werden“. Aber: „Wenn der Plan die nationale Wirtschaft […] dirigiert, dann zeigt er in dieser Rolle die neuen Verhältnisse positiv als nichtkapitalistisch bzw. […] als protosozialistisch an […] Entwicklungsrichtung, Wachstumstempo und Proportionalität der Produktion“ stellten sich „nicht mehr empirisch über den Marktmechanismus“ her.
Dagegen vertritt Ulrich Knappe die Auffassung, dass in der UdSSR eine kapitalistische Ökonomie neuer Art entstanden sei. Das Privatkapital wurde enteignet, aber es sei kein gesellschaftliches Eigentum entstanden, sondern kollektives Eigentum der Bürokratie. Der Staat wäre demzufolge kollektiver Einzelkapitalist gewesen und hätte die Kapitalfunktion ausgeübt. So sei eine neue Form des Kapitalismus, ein sowjetischer, mutierter Kapitalismus, ein marktfeindlicher Staatskapitalismus entstanden.
Die Auseinandersetzung über das Verhältnis von Sozialismus und Markt ist während der Geschichte der von der Oktoberrevolution hervorgebrachten Gesellschaftsform immer wieder neu aufgeflammt. Wie es scheint, ist sie bis heute nicht zu einer Klärung geführt worden. Für wesentlich halte ich den Gedanken von Fritz Behrens, dass die historischen Bedingungen ihrer Entstehung die „politische Ökonomie zu einer Apologetik eines bürokratischen Zentralismus degradiert“ haben.
Wirkungen auf die Weltentwicklung
Die Oktoberrevolution war ein welthistorisches Ereignis mit tiefgreifenden, äußerst ambivalenten und widersprüchlichen Wirkungen: Einerseits beflügelte sie den Fortschritt der sozialen und nationalen Befreiungsbewegung in fast allen Weltregionen – das war ihre antiimperialistische Dimension. Sie brach mit der neuen Gesellschafsform die alleinige Herrschaft der kapitalistischen Welt und stellte ihr einen eigenen Herrschaftsbereich, eine Zweite Welt gegenüber. Und diese Zweite Welt ist von ihren Anhängern wie von ihren Gegnern als eine nichtkapitalistische, ja antikapitalistische Welt wahrgenommene worden. Die als kommunistisch bezeichnete Zweite Welt beschränkte nicht nur die imperialistische Weltherrschaft, sondern stellte den Kapitalismus prinzipiell infrage. Einerseits erleichterte das den Kampf der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung um soziale Rechte und bürgerliche Freiheiten. Es ermöglichte das sogenannte sozialdemokratische Jahrhundert. Andererseits zementierten die Oktoberrevolution und die von ihr hervorgebrachte Gesellschafsform die Spaltung der Arbeiterbewegung, steigerte sie zur Feindschaft und nahm ihr so die Kraft, die Kapitalherrschaft zu überwinden.
Widersprüchliche Wirkungen gingen auch auf den Frieden aus: Einerseits kam die neue Gesellschaft mit dem Bürgerkrieg zur Welt, und die politische Macht setzte den Bürgerkrieg fort bei der zwangsweisen Kollektivierung der Landwirtschaft, stellte mit militärischer Gewalt das großrussische Imperium (bis auf Polen und Finnland) wieder her, annektierte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges fremde Staatsgebiete und unterdrückte mit Militärinterventionen Reformbewegungen in realsozialistischen Ländern. Andererseits war die Oktoberrevolution ein Aufstand gegen den Krieg. Auf Antrag Lenins beschloss der Sowjetkongress das Dekret über den Frieden, einen demokratischen Frieden. Unter Inkaufnahme großer Gebietsverluste schloss die Regierung einen Separatfrieden mit dem imperialistischen Deutschland. Die neue Gesellschaft hatte brennendes Interesse am äußeren Frieden für sich selbst und die Welt, fand dafür die Konzeption der friedlichen Koexistenz, unterstützte die Weltfriedenbewegung und half mit dem atomaren Patt den überlebenswichtigen Frieden im Kalten Krieg zu sichern.
Weil die neue Gesellschaftsform in der Konkurrenz zum Kapitalismus den Bedürfnissen der Menschen jedoch nicht dauerhaft gerecht werden konnte und alle Reformversuche an ihrem diktatorischen Wesen scheiterten, verloren der real existierende Sozialismus und ebenso die Idee des Sozialismus ihre Anziehungskraft. Die im Namen des Kommunismus begangenen Verbrechen brachten ihn in Verruf, und es trat die schon von Kautsky befürchtete Katastrophe des Sozialismus überhaupt ein. Aus dieser praktischen und ideellen Katastrophe muss sich die Bewegung zu einer sozialistischen Alternative erst wieder mühsam herausarbeiten. Aber angesichts der von der kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftsweise heraufbeschworenen Gefahren für die menschliche Existenz drängt die Zeit.
Was wir jetzt wissen können ist, dass der Leninismus nicht zum Sozialismus, sondern in die Sackgasse führt. Und der Zweck heiligt nicht die Mittel. Möglich ist Sozialismus nur als ein demokratischer, und daher können auch die Mittel, mit denen er errungen wird, nur demokratische sein. Darüber hinaus hat die Entwicklung seit 1917 gezeigt, dass eine ökonomische Basis des Sozialismus offenbar nicht neben und in Konkurrenz zur kapitalistischen Marktwirtschaft entstehen und ihr standhalten kann. Viel mehr wissen wir noch nicht. Aber das sind grundlegende Erkenntnisse, die wir aus der Erfahrung der Oktoberrevolution und der Gesellschaftsform, die sie hervorgebracht hat, gewinnen können.
Eine rückhaltlose Kritik der Oktoberrevolution ist also unverzichtbar. Die Begründung dafür hat schon Kautsky gegeben, als er schrieb: „Die schwierigste historische Situation ist die einer Revolution, in der man vor ganz neuen und aufs höchste unübersichtlichen Situationen steht. Es wäre wohlfeiles Pharisäertum, wenn ein Beobachter in sicherer Stellung hinterdrein oder von der Ferne die Missgriffe streng tadeln wollte, die von den Männern begangen wurden, die mitten im Kampfe standen, alle seine Lasten und Gefahren zu tragen hatten. Wohl aber ist es dringend notwendig, Missgriffe zu tadeln, die nicht aus gelegentlicher falscher oder unzulänglicher Information, sondern aus einer falschen prinzipiellen Auffassung stammen, die mit Notwendigkeit aus ihr hervorgehen. Sie können nur durch Überwindung dieser Auffassung vermieden werden, sie bedrohen jede künftige revolutionäre Bewegung, wenn man sie kritiklos passieren lässt oder sie sogar beschönigt und verherrlicht – im vermeintlichen Interesse der Revolution.“
Eben das ist passiert und kann jetzt verstanden und korrigiert werden.
Schlagwörter: Bolschewiki, Bürokratie, Irrweg, Lenin, Leninismus, Marx, Menschewiki, Oktoberrevolution, Stalin, Terror, Wolfgang Scheler