20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

Eine andere DDR

von Erhard Weinholz

Wir schließen jetzt die Augen, sind ganz ruhig und entspannt und sagen leise: DDR. Ruhig weiteratmen. DDR … Was kommt uns dabei in den Sinn? Stasi natürlich. Mauer. Stacheldraht. Auch mal seufzen, wem so ist, mal richtig seufzen. Gut, weiter: Schlange stehen. Ferienlager. Aha, jetzt meldet sich mal was Positives. GST-Lager. Beatles. Beatles? Ja, im GST-Lager Breege auf Rügen habe ich 1964 im Lagerfunk zum ersten Mal die Beatles gehört, „I want to hold your hand“ – ein Gefühl, als würde man gleich abheben. Amiga brachte auch Beatles-Platten damals, nicht so wie in den 50ern, wo der ganze Rock’n Roll verfemt war: 64 die erste, ein alter Kinderwagen auf dem Cover, stark stilisiert, und in dem Wagen Fotos der vier Köpfe. Das war ganz typisch für den Stil der Zeit: Nostalgie, die aber nicht so ernst gemeint war, und witzige Montagen. 65 kamen noch eine Single und eine LP sogar, und schon war wieder Schluss. Immerhin konnten wir dann an der Oberschule, in der Berufsausbildung, bei der LPG-Köchin Beatclub gucken.
Gekauft habe ich die Beatles-Platten erst viel später. Geboren im Oktober 1949, aufgewachsen im Bezirk Potsdam, wusste ich lange Zeit nicht einmal, dass es sie gab. Überhaupt wurden die 60er Jahre hier im Osten, die interessantesten Jahre der DDR wahrscheinlich, für mich erst gegen Ende und mehr noch später in der Rückschau wichtig – als eines der beiden Jahrzehnte deutscher Geschichte des letzten Jahrhunderts, die es zu einigem Ruhm gebracht haben. Das andere waren die 20er. Begonnen hatten sie allerdings beide wenig verheißungsvoll, mit Kapp-Putsch und Inflation oder, ich spreche hier immer von den 60ern im Osten, mit dem Mauerbau. Und beide endeten auch so, mit dem Schwarzen Freitag und dem Erstarken der Nazis die einen, dem Einmarsch in die ČSSR und dem Abbruch der Wirtschaftsreformen die anderen.
Die meisten sogenannten kleinen Leute wünschten sich in den 20er Jahren nach Krieg und Niederlage, Revolution, halbem Bürgerkrieg und Inflation nur Ruhe und ein bisschen Wohlstand und Vergnügen. Was für uns die Eigenarten dieser Zeit ausmacht, das Bauhaus und der Jazz, die Extravaganzen á la Sally Bowles, die Texte von Benjamin, Hessel und Kästner, war Sache einer kleinen linksbürgerlich-intellektuellen Minderheit, die auch keine Autoritäten mehr wollte, vor denen man strammzustehen hatte, kein Hurra-Geschrei, keine Rollenzwänge. Als politische Aufgabe haben das aber wohl nur ganz Wenige verstanden, Heinrich Mann zum Beispiel, Walter Rathenau, der Kreis um die Weltbühne.
Die Sehnsucht nach besserem Leben in einem ganz direkten, materiellen Sinne war auch in den 60ern beträchtlich. In der DDR waren die Kriegsfolgen kaum überwunden, vor allem bei Rentnern ging es noch immer recht ärmlich zu, allerorts mangelte es an Wohnraum. Wollte das rohstoffarme Land seine Wirtschaft entwickeln und mithalten auf dem Weltmarkt, war Bildung nötig, Intellekt. Die gebildete Nation hieß dann auch damals, Wunsch und Wirklichkeit mischend, die Sonntagsbeilage des ND. Doch wachsende Bildung schuf wachsende Ansprüche, das Ich wollte sich weniger denn je kulturell und politisch gängeln lassen, wollte vielleicht gar wirklich mitplanen und mitregieren.
Wieder war es, so scheint mir, nur eine Minderheit, der es um ein freieres, ein ungezwungenes und selbstbestimmtes Leben ging. Aber ebenso wie die 20er bekam auch dieses Jahrzehnt seine Kontur erst durch sie. Obwohl das Bürgertum dabei keine Rolle mehr spielte, war diese Minderheit doch größer als ihr einstiges Pendant: Es kam mancher aus der jüngeren Arbeiterschaft dazu. Was man wollte, wurde zudem stärker als politische Aufgabe verstanden; es verband sich wohl oft noch mit der DDR, der Idee des Sozialismus, auf alle Fälle aber kaum mehr mit den im Lande herrschenden Verhältnissen. Äußern konnte sich dies Politische fast nur kulturell. In der Lyrik zum Beispiel, die nun von jenem Ich sprach, das sich nicht oder nicht mehr einpassen wollte ins vorgegebene Wir. Bekanntschaft mit uns selbst hatte Gerhard Wolf 1961 einen von ihm herausgegebenen Gedichtband programmatisch betitelt. Stolz erbaun wir uns schimmernde Städte/ ja, der Zukunft Richtkrone winkt/ Auf dem Traktor im sonnigen Felde/ fröhlich ein lustiges Mädel singt – das war vorbei. Wandel auch in der Prosa: Aufbau brachte endlich Kafka, bei Volk und Welt erschienen Nathalie Sarraute und Michel Butor. Das Bauhaus wurde rehabilitiert. Die Möbel wirkten elegant und leicht, deutlich anders als die plumpen Stücke aus der Nachkriegszeit und die ausladenden Polstergarnituren und Schrankwände, die später kamen. Auch wenn man nicht unbedingt vom Design aufs Sein schließen kann, manches nur Dekor war: Die DDR sah damals, vor allem auf dem Papier, ganz anders aus als in den 50ern, anders auch, als man es sich im Westen vorstellte: Sie folgte trotz der Mauer internationalen Trends, trat intellektuell auf, witzig, ironisch. Das war allerdings zum Wenigsten das Verdienst des Politbüros.
Das ökonomische Sonderinteresse der Betriebe hatte Ulbricht 1963 in einer Rede akzeptiert; ein System ökonomischer Hebel und sonstiger Regularien sollte es fortan mit den Zielen der Gesellschaft verknüpfen. Mehr Demokratie bedeutete das nicht, aber einen Machtzuwachs für die Betriebsleitungen, die Intelligenz also. Ein Teil der SED-Führung wertete allerdings schon das als Schwächung ihrer führenden Rolle. Individuellen Eigensinn zu akzeptieren fiel dieser Führung noch schwerer, denn er stellte ganz direkt die Vormundschaft der Parteiherrscher in Frage und ließ sich schlecht in ihrem Sinne instrumentalisieren. Die Folge war unter anderem ein Zickzackkurs in der Jugendpolitik: Mal hieß es Der Jugend Verantwortung und Vertrauen, ein andermal wurden Langhaarige unter Polizeiaufsicht geschoren. Verbote bestimmten auch immer wieder die Kulturpolitik: 1965, auf dem 11. Plenum des ZK, traf es vor allem den Film und Bräunigs Rummelplatz, im Jahr darauf wurde die Lyrikdebatte im Forum wegen missliebiger Tendenzen abgebrochen, 1969 geriet die Anthologie Saison für Lyrik unter Beschuss, zwei ihrer Autoren konnten jahrelang nicht mehr veröffentlichen. Dabei verstanden sich die meisten derer, die auf ihrer eigenen Sicht beharrten, nicht einmal als politische Opposition.
Man kann, was sie und andere versucht haben, als Fortsetzung der Aufklärung verstehen, als neuerlichen Anlauf, herauszukommen aus wie auch immer verschuldeter Unmündigkeit. Einst hatte die Aufklärung die Bahn frei gemacht für bürgerliche Herrschaft. Wollte man sich damit nicht mehr zufriedengeben, blieb nach den Erfahrungen mit leninistischer und insbesondere stalinistischer Parteiherrschaft nur jener Dritte Weg, der hinführt zu einem freiheitlichen und demokratischen Sozialismus. In den 20ern hatte diese Idee kaum eine Rolle gespielt, 1968 verband sie sich mit Hoffnungen auf den Wandel in Prag. Doch bald nach dem 21. August war klar: Die Freiheit hat sich den Fuß verrenkt, große Sprünge waren nicht mehr zu erwarten. Eine Rückkehr in die frühen 50er bedeutete das aber nicht, weder politisch noch kulturell.
Hier müsste ich nun auf die DDR-68er zu sprechen kommen, den kleinen, oft vergessenen Bruder der 68er West, jene Generation, für die der Aufbruch in Prag zum ersten und prägenden politischen Großereignis wurde. Dazu nur kurz: Anders als etwa die sogenannte Flakhelfergeneration der um 1929 Geborenen, die in diese Rolle gleichsam hineingepresst worden war, stieß man zu den 68ern, egal ob Ost oder West, aus eigenem Entschluss, die Generationsentstehung war ein Teil des Mündigwerdens. Eine soziale Bewegung konnten die DDR-68er aber, anders als die im Westen, nicht in Gang setzen – es fehlte ihnen die Öffentlichkeit. Man kann aber mit zwanzig noch nicht alle Hoffnung fahren lassen; bei manchen hat der damals empfangene Impuls bis zum Herbst 1989 nachgewirkt. Bald darauf war es mit dem Traum von einer anderen DDR endgültig vorbei.