20. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2017

„Keine Atombombe, Bitte“

von Sarcasticus

Unter dieser orthographisch nicht ganz korrekten Überschrift findet sich in Juli/August-Ausgabe des US-Magazins Foreign Affairs ein Essay von Ulrich Kühn (unter anderem Stanton Nuclear Security Fellow am Carnegie Endowment for International Peace in Washington) und Tristan Volpe (Fellow im Nuclear Policy Program am the Carnegie Endowment), das sich der Frage widmet, warum Deutschland auch künftig keine direkte Verfügungsgewalt über Kernwaffen anstreben oder erhalten sollte. (Dass die Bundesrepublik durch die sogenannte nukleare Teilhabe seit Jahrzehnten militärisch einen seminuklearen Status hat, der nach der Freigabe von amerikanischen Atombomben durch den US-Präsidenten für Tornado-Kampfbomber der Bundesluftwaffe in einen faktischen umschlagen würde, ist im Blättchen wiederholt kritisch thematisiert worden.)
Die Autoren beginnen damit, dass Diskussionen über eine eigenständige EU-europäische nukleare Abschreckung auf der Basis der französischen und britischen Atomstreitkräfte – um diese Frage war es seit Jahren vergleichsweise ruhig – durch Präsident Trumps ambivalente Äußerungen zur NATO und zu den amerikanischen Bündnisverpflichtungen neuen Auftrieb erhalten hätten, und verweisen auf entsprechende Äußerungen des CDU-Politikers Roderich Kiesewetter und des Führers der polnischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski. Die hatten auch in hiesigen Medien breitere Beachtung gefunden.
Einigen deutschen Kommentatoren, so Kühn und Volpe weiter, ginge ein solcher Ansatz aber nicht weit genug. Sie forderten eine atomare Bewaffnung der Bundesrepublik, weil dies „bestehende Bedrohungen abschrecken und die europäische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten verringern“ würde. Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang zuvorderst auf zwei Stimmen, mit denen sich im Blättchen schon vor einiger Zeit Wolfgang Schwarz auseinandergesetzt hat – auf den Mitherausgeber der FAZ, Berthold Kohler, und den bis dato eher unbekannten Politologen Maximilian Terhalle –, um im Übrigen zutreffend festzustellen: „Derzeit (Hervorhebung – S.) bilden jene, die nach einer deutschen Bombe rufen, eine verschwindende Minderheit.“
Es gibt allerdings Themen, mit denen man sich nicht erst – oder besser nicht erst wieder – befassen sollte, wenn sie sich einem Zustand nähern, der in der Kernphysik als kritische Masse bezeichnet wird und bei dessen Erreichen bisher unkritisch verlaufende Prozesse mit katastrophaler Wucht in einen neuen „Aggregatzustand“ übergehen. Das Pro und Kontra deutscher Atomwaffen gehört ganz gewiss zu diesen Themen – dominiert Deutschland doch bereits heute aufgrund seiner ökonomischen Macht EU-Europa in erheblichem Maße. Kühn und Volpe verweisen vor diesem Hintergrund nicht von ungefähr auf die Periode zwischen 1871 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, als „kein einzelnes europäisches Land jemals dessen (Deutschlands – S.) ökonomische oder militärische Macht ausgleichen konnte“.
Die Autoren votieren klar gegen eine atomare Bewaffnung Deutschlands und stützen sich dabei insbesondere auf folgende Überzeugungen, Sachverhalte und Schlussfolgerungen:

  • Angesichts der historischen Erfahrungen Europas mit Deutschland sind sie überzeugt: „Wenn Deutschland Nuklearwaffen baute, würde die derzeitige Einheit der EU rasch zerbrechen.“
  • „Aber selbst wenn der Rest der EU Deutschlands Kernwaffen akzeptieren würde, wäre das nicht das Ende der Sorgen um die europäische Sicherheit. Atomwaffen können jene Art begrenzter Kriege, die Russland auf der Krim und in der Ostukraine so erfolgreich geführt hat, nicht abschrecken, wer auch immer das Abschreckungspotenzial stellt.“ (Obwohl das Bemerkenswerteste am russischen Coup auf der Krim darin bestand, dass er deutlich unterhalb der Schwelle zu einem militärischen Konflikt gelang, bleibt der Hinweis als solcher zutreffend. Schon gar für das Verhältnis zu einer nuklearen Supermacht.)
  • Eine Bundesrepublik mit Kernwaffen stände bündnispolitisch, speziell im Hinblick auf das Baltikum, vor vergleichbaren Problemen wie die USA im Kalten Krieg, die viel Kraft daran gesetzt hätten, „die Sowjetunion davon zu überzeugen, dass sie Westberlin mit Kernwaffen verteidigen würden“. Kühn und Volpe empfehlen: „Deutschland sollte sich daran erinnern, dass der Besitz von Atomwaffen allein Verbündete nicht automatisch sicherer macht.“
  • Abgesehen vom letztlichen Sinn eines nuklearen Arsenals „hätte Deutschland größere technische, politische und Sicherheitshürden zu überwinden, bevor es sich eines zulegen könnte“. Um nicht sofort internationalen Gegenwind zu provozieren, müssten Maßnahmen mit dem Ziel eines Kernwaffenerwerbs unter strikter Geheimhaltung erfolgen. Aber angesichts des für 2022 anvisierten Ausstiegs aus der Kernenergie wäre es schwierig, „technische Schritte in Richtung Bombe unter dem Deckmantel eines friedlichen Programms“ zu realisieren.
  • Sollte die Geheimhaltung eines Tages nicht mehr aufrechtzuerhalten sein, „sähe sich die Bundesregierung überdies mit einer heftigen innenpolitischen Opposition konfrontiert und vielleicht sogar mit zivilem Ungehorsam seitens einer Bevölkerung konfrontiert, die Atomwaffen entschieden ablehnt“.
  • Deutschland müsste im Falle eines Nuklearwaffenerwerbs aus dem Kernwaffensperrvertrag ausscheiden, was dessen Nichtweiterverbreitungsregime wahrscheinlich zum Kollaps brächte. Denn: Ein grundlegendes Ziel des Vertrages habe darin bestanden, „Deutschland vom Bau von Atomwaffen abzuhalten.“ Andere Länder würden einen deutschen Ausstieg quasi als Freifahrtschein für eigene Ambitionen nutzen.
  • Auch der 2+4-Vertrag, in dem Deutschland seinen „Verzicht auf Herstellung und Besitz sowie auf Kontrolle über atomare, biologische und chemische Waffen“ bekräftigt hatte, hätte in seiner geltenden Fassung nicht länger Bestand. „[…] ihn außer Kraft zu setzen, würde die deutsche Frage wieder aufs Tapet bringen und wäre ein Affront gegenüber jenen vier Ländern, die solch einen enormen Preis dafür gezahlt hatten, Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu schlagen.“
  • Und schlimmstenfalls könnte deutsches Streben nach Atomwaffen, statt „Aggression abzuschrecken, das Konfliktrisiko in Europa erhöhen, weil Russland wahrscheinlich darauf hinwirken würde, Kernwaffenbesitz Deutschlands zu verhindern“. Israelische und US-amerikanische Aktivitäten in der Vergangenheit legen dabei genau jene Möglichkeiten, die Russland hätte, nahe, die Kühn und Volpe aufzählen: die Ermordung deutscher Nuklearwissenschaftler sowie Cybersabotage gegen und Luftangriffe auf Objekte der nuklearen Infrastruktur. Auch Russlands Vermögen, „ein ernsthafte Gestalt annehmendes deutsches Nuklearpotenzial zu zerstören“, stünde außer Zweifel.
  • Sollte Deutschland aber trotz allem irgendwann über Atomwaffen verfügen, stände seine Führung in einem militärischen Konflikt mit Moskau unter dem Druck, „einen Präemptivschlag gegen Russland zu führen, um zu vermeiden, das Arsenal durch einen russischen Erstschlag zu verlieren“. (Damit benennen die Autoren das klassische „Use them or lose them“-Dilemma jedes nuklearen Underdogs im Verhältnis zu einer Supermacht, das bei Strafe des eigenen Untergangs vermieden werden muss. Denn auch im Falle präemptiven Gebrauchs der eigenen Kernwaffen folgte unabwendbar ein im Wortsinne vernichtender Gegenschlag.)

Kühn und Volpe empfehlen der Bundesregierung folgerichtig, „keinen gefährlichen nuklearen Fantasien nachzuhängen“ und fügen begrüßenswerter Weise gleich noch hinzu: Deutschland solle sich auch „nicht auf das plumpe Zwei-Prozent-Ausgabenziel der NATO fokussieren […].“
Leider machen die beiden in ihren nachfolgenden Alternativvorschlägen bei Maßnahmen halt, die zwar sicherheitspolitisch nicht so problematisch erscheinen, wie es eine atomare Bewaffnung Deutschlands wäre. Im Hinblick auf mehr europäische Sicherheit aber wären sie ebenso wenig zielführend wie diese. Im Einzelnen sollte die Bundesregierung:

  • nach engerer Zusammenarbeit unter den nationalen Streitkräften der EU streben;
  • den EU-Kampfverbänden größere und besser ausgerüstete Einheiten zur Verfügung stellen;
  • in der EU Doppelausgaben für militärische Forschung, Entwicklung, Produktion sowie Beschaffung vermeiden und
  • „den deutschen Stolz überwinden und daran arbeiten, eine gemeinsame europäische Verteidigungsindustrie zu entwickeln“.

Kann man alles machen.
Kostet Milliarden.
Jährlich.
Eine hinreichende Gewähr dafür jedoch, dass ein militärischer Konflikt mit der atomaren Supermacht Russland in Europa und das Risiko der Eskalation eines solchen Konfliktes auf die nukleare Ebene ein für alle Mal auszuschließen wäre, bietet keine dieser Maßnahmen. Auch nicht, wenn sie allesamt komplett realisiert werden sollten.
Zur dauerhaften Konflikt- und Kriegsvermeidung bedürfte es einer Entfeindung des Verhältnisses zu Moskau und letztlich einer Sicherheitspartnerschaft ähnlich jener, wie sie unter den NATO-Staaten seit 1949 geschaffen und aufrechterhalten wurde.
Zu dieser Problematik bietet das Archiv des Blättchens ein ganzes Konvolut an Lektüre und Denkanregungen – siehe zum Beispiel: „Russland und Europa: Wie weiter?