von Erhard Crome
Die Psychotherapie erlebte in den USA einen steilen Aufstieg. Auch wenn heute immer häufiger Medikamente das Gespräch ersetzen, ist sie fest im amerikanischen Alltag verankert. Seit Jahren gilt der Psychologe Phil McGraw mit breitem Lächeln, dichtem Schnauzbart und lichtem Haar als „Therapeut der Nation“. Sein TV-Format „Dr. Phil Show“ zeigt, dass die moderne Psychotherapie in den USA innerhalb weniger Jahrzehnte ein Massenphänomen wurde. Einst Exklusivprodukt für die gehobenen Schichten, entwickelte sie sich zu „einem Grundbestandteil des Mainstreams in der amerikanischen Medizinpraxis und einem Fixpunkt unserer Popkultur“, zitiert aerzteblatt.de den US-Journalisten Scott Stossel. Millionen US-Bürger suchen wöchentlich ihren Therapeuten auf und zahlen dafür jährlich mehrere Tausend Dollar.
Nur das Capitol und die Mainstream-Medien wurden nicht erreicht. Jedenfalls nimmt in den USA die Hysterie in Sachen Russland, „Russland-Connection“ des Präsidenten Trump, angeblicher Einmischung in die Präsidentenwahlen 2016 nicht ab, wie normalerweise im Zeitverlauf zu erwarten wäre, sondern weiter zu. Am 15. Juni hatte der US-Senat mit 97 zu zwei Stimmen nahezu geschlossen für die Verlängerung der unter Obama verhängten Sanktionen gegen Russland gestimmt. Betroffen sind Bereiche des Maschinenbaus und des Bergbaus, vor allem aber geht es gegen den russischen Energiekomplex. Der notorische Russland-Hasser John McCain tönte, Russland müsse „einen Preis für seine Taten“ bezahlen, die es mit seinem Angriff „auf unsere Demokratie“ begangen habe. Die sind zwar nach wie vor nicht bewiesen, aber man scheint sich im politischen Washington weitgehend einig zu sein. McCain, der republikanischer Senator ist, müsste eigentlich mit den anderen Republikanern froh sein, dass diese Partei seit langem erstmals wieder einen republikanischen Präsidenten und zugleich die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses stellt. Da er aber Donald Trump ebenso hasst wie Russland, trägt er lieber zur weiteren Demontage der politischen Verhältnisse in den USA bei. Andere Abgeordnete meinten, Russlands „Aggressionen“ in Syrien oder der Ukraine als Gründe anführen zu sollen.
Am 25. Juli beschloss das USA-Repräsentantenhaus mit der breiten Mehrheit von 419 gegen drei Stimmen seinerseits ein Gesetz, das neue Sanktionen gegen Russland, den Iran und Nordkorea vorsieht, im Paket. Das soll besonders schlau sein: Trump hatte sich mehrfach dafür ausgesprochen, Sanktionen gegen Nordkorea und Iran zu verhängen. Wenn er hier intervenierte, um die Bestimmungen zu Russland zu erleichtern, würde er seine Politik in den beiden anderen Fällen desavouieren. Zugleich wird das als geschickte Falle angesehen: lässt Trump das Gesetz, nachdem es ebenfalls vom Senat bestätigt wurde, passieren, verunmöglicht er seine beabsichtigte Russlandpolitik. Versucht er, es mit einem Veto anzuhalten, würde dies als Eingeständnis seiner Russland-Connection interpretiert. Zugleich wurden Beschränkungen beschlossen für den Fall, dass der Präsident die Sanktionen aufheben oder lockern will. Das schränkt seine exekutiven Spielräume in der Außenpolitik ein, aber auch das ist den Protagonisten dieses Gesetzes entweder egal oder ein Herzensanliegen.
Die eigentliche Krankheit der USA ist ihre imperiale Überdehnung. Die wurde schon unter George W. Bush, vor allem mit den katastrophalen Ergebnissen der Kriege in Irak und Afghanistan sichtbar. Barack Obama hat nicht etwa umgesteuert, sondern versucht, die globale Interventionspolitik etwas geschickter fortzusetzen. Die Ergebnisse waren der Regime-Change-Krieg gegen Libyen, der Regime-Change-Putsch in der Ukraine und der Syrienkrieg. Nachdem Trump im Wahlkampf verkündet hatte, die Regime-Change-Politik überhaupt beenden zu wollen, hatte er die global orientierten Interventionisten beider Parteien gegen sich. Die jetzigen Parlamentsbeschlüsse drücken das aus.
Zugleich hatte Obama mit den Russland-Sanktionen in der Endphase seiner Präsidentschaft nicht nur Trump den Weg zu einer tatsächlichen Veränderung der Außenpolitik verbauen wollen, sondern auch noch die Legende institutionalisiert, Trump sei ein illegitimer Präsident, weil er nur mit Hilfe der Russen ins Weiße Haus gekommen sei. Die unzähligen Anwürfe der meisten großen Medien der USA in Sachen Trump und Russland, die immer neuen „Ermittlungen“, die unaufhörlichen Anhörungen in Parlamentsausschüssen seiner ehemaligen oder jetzigen Mitarbeiter stehen allesamt in dieser Kontinuität.
Andere früher große Mächte in ihrer Niedergangsphase versuchten stets Größe und Festigkeit zu demonstrieren oder zumindest zu simulieren. Großbritannien musste am Anfang des 20. Jahrhunderts das desaströse Ergebnis des Burenkrieges (1899–1902) hinnehmen; er hatte zwar die Herrschaft über Südafrika gebracht, aber statt der ursprünglich veranschlagten 10 Millionen Pfund 230 Millionen gekostet. Das wirtschaftliche und militärische Gleichgewicht in der Welt veränderte sich zu Lasten des Empire. In dieser Lage wurde König Edward VII. der Motor einer Umgruppierung der Mächte in Europa, die Großbritannien das Bündnis mit Frankreich und Russland bescherte und Deutschland im Ersten Weltkrieg die Niederlage. London inszenierte sich weiter als Zentrum der Welt. Der türkische Sultan versuchte sich zur Konsolidierung der Macht seit 1878 in Islamismus. Der russische Zar Nikolaus II. vollzog nach der Niederlage im Krieg gegen Japan und der russischen Revolution von 1905 sowie einer kurzen reformerischen Zwischenphase die Wendung wieder zur Selbstherrschaft und setzte auf altrussische Kostümierung im Stile Iwans des Schrecklichen. 1914 galt Russland wieder als starke Macht, deren weiteres Wachstum der deutsche Kaiser Wilhelm II. durch den Krieg aufhalten wollte.
Keine der herrschenden Kräfte all dieser Länder wäre in der Schwächephase auf die Idee gekommen, die innere Stabilität durch lautes Geschrei über innere geistige und politische Zerrissenheit in Frage zu stellen. Die heutigen USA tun das. Insofern haben imperiale Überdehnung und Niedergang der weltpolitischen Rolle nicht nur eine objektive Seite, sondern auch eine subjektive: im Grunde bedürfen alle Beteiligten des Washingtoner Schmierentheaters des Psychiaters. Das gilt auch, wenn dem ein weiterreichendes Konzept zugrunde liegen sollte. Hannes Hofbauer betont in seinem kürzlich erschienenen Buch über das „Feindbild Russland“: Es sind die Ängste vor dem Hegemonieverlust. „Dieser hat zwar mit der Politik des Kreml nur wenig bis gar nichts zu tun, das alte Feindbild Russland erspart allerdings manchen westlichen Strategen eine Beschäftigung mit den tiefer liegenden Ursachen des eigenen zunehmenden Bedeutungsverlustes.“
Der zieht sich auch dann durch die Nachrichten, wenn sie triumphal inszeniert werden. Präsident Trump zelebrierte die Einweihung des neuen US-Flugzeugträgers Gerald R. Ford, der der erste einer neuen Klasse ist. Fast zur selben Zeit kam die russische Mitteilung, dass ihre Marine über eine neuartige Antischiffsrakete verfügt, die achtfache Schallgeschwindigkeit fliegt, nicht abwehrbar ist und einen Flugzeugträger versenken kann. Eine weitere Weltneuheit: Ende Juli fanden erstmals chinesisch-russische Seemanöver in der Ostsee statt. Eines haben die Washingtoner Hysteriker bereits geschafft: die Weltkriegsgefahr wächst.
Schlagwörter: Erhard Crome, Feindbild, Niedergangsphase, Russland, Sanktionen, USA