20. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2017

Europäische Friedensordnung und das Verhältnis zu Russland

von Matthias Platzeck

Im Blättchen 13/2017 war ein zusammenfassender Beitrag über das diesjährige Egon-Bahr-Symposium, das am 12. Juni stattgefunden hatte, aus der Feder von Bernhard Romeike („Verantwortung für den Frieden“) enthalten. Hier folgt das Manuskript der Rede des Vorstandsvorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums zu diesem Anlass.

Die Redaktion

Liebe Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises,
liebe Freunde und Gäste,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Herzlichen Dank für die Einladung zum heutigen Bahr-Symposium. Für mich ist es eine Ehre hier sein zu dürfen und gemeinsam mit Ihnen, gemeinsam mit Euch, an Egon Bahrs großes Vermächtnis anzuknüpfen und in die Zukunft Europas zu blicken.
Seine klaren Analysen, seine tiefgehenden Einsichten haben bis heute Gültigkeit – vielleicht mehr denn je. Bahr, der präzise politische Denker, kann Orientierung geben in einer Welt, die immer unübersichtlicher und unsicherer erscheint, in einem Europa, in dem wieder spürbar geworden ist, dass Frieden alles andere als selbstverständlich ist.
Ich begreife sein Vermächtnis auch als Auftrag, heute Verantwortung auf sich zu nehmen für eine gemeinsame Zukunft in Europa.
Egon Bahr hat einmal gesagt, dass man große Persönlichkeiten der Politik auch daran erkennt, dass in ihrem Leben „eine unverwechselbare Grundmelodie hörbar bleibt“. Die Grundmelodie in seinem Leben hieß: „Ein sicheres Haus für Europa.“
In diesem Haus muss Russland seinen festen Platz haben. Amerika ist unverzichtbar; Russland ist auf dem europäischen Kontinent unverrückbar: Bahrs griffige Formel gilt unverändert. Das heißt: Ohne oder gar gegen Russland, unseren größten europäischen Nachbarn, gibt es keine dauerhafte Sicherheit in Europa. Heute müssen wir uns das wieder in aller Deutlichkeit vor Augen halten.
Egon Bahr war das Verhältnis zu Russland bis an sein Lebensende eine Herzensangelegenheit. Noch im Juli 2015 war ich gemeinsam mit ihm in Moskau. Seine letzte große Rede, sein letzter großer Auftritt. In seiner direkten Art hat er uns vor diesem Abend gesagt: „Hört genau zu, viele Reden werde ich nicht mehr halten.“ Wir wussten nicht, dass es seine letzte sein würde.
An diesem Abend in Moskau hat er uns gemeinsam mit Michail Gorbatschow noch einmal aufgerufen, wirklich all unsere Kraft, all unsere Ideen und Fähigkeiten zusammenzunehmen, um die Entwicklung in Europa nicht einfach so fortgehen zu lassen, um alles für eine Entspannung und für einen Neuanfang in den deutsch-russischen Beziehungen zu tun.
Seine Sorge um das Verhältnis zu Russland war nur allzu berechtigt. Es ist schockierend, in welch rasendem Tempo unsere politischen Beziehungen, die wir fest gegründet glaubten, in den letzten Jahren weggespült wurden. Russen und Deutsche haben sich entfremdet.
Im Fernsehen, im Rundfunk, in Zeitschriften und Zeitungen, in der politischen Diskussion – auf Schritt und Tritt begegnet uns immer öfter ein sehr eindimensionales Bild von Russland und den Russen. Es ist beinahe schon kategorisch geworden.
Dieses Russlandbild, das auf zum Teil jahrhundertealten Vorurteilen beruht, transportiert eine vermeintlich endgültige Wahrheit. Diese Wahrheit lautet: Russland und der Westen gehören nicht zusammen. Im Kern ist es das uralte Stereotyp von russischer Despotie und westlicher Zivilisation, das vom Westen heute bemüht wird, um Russland weit von Europa weg zu schieben.
Dass es wieder reanimiert wird, hat zu einem guten Teil, aber sicher nicht allein, mit den innen- und außenpolitischen Entwicklungswegen Russlands selbst zu tun. Die Entgegensetzung von Russland und Europa dient auch dazu, die eigene europäische Identität zu schärfen.
Die europäische Idee hat in den vergangenen Jahren einiges von ihrer Anziehungskraft verloren. 65 Jahre nach dem Beginn des europäischen Einigungsprozesses ist die Euphorie verflogen.
Die wirtschaftlichen Probleme der südlichen Länder, die Euro-Krise haben der Union arg zugesetzt. Das europäische Einigungswerk wird immer mehr hinterfragt. Zuletzt hat die Flüchtlingskrise die tiefen Risse innerhalb der europäischen Gemeinschaft noch einmal offen zu Tage treten lassen.
Die in der Visegrad-Gruppe zusammengeschlossenen Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn verfolgen mit ihren Regierungen zunehmend eigene nationale Konzepte und Ziele, die nicht immer mit den vielbeschworenen gemeinsamen europäischen Werten vereinbar sind.
In ganz Europa sind EU-kritische und rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Sie haben zusätzlichen Rückenwind erhalten durch den Austritt der Briten aus der Europäischen Union und die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Gegenüber Russland positioniert sich die in zahlreichen Fragen so zerstrittene Europäische Union geschlossen und entschlossen. Die Kontroverse mit dem größten Nachbarn der Europäischen Union, insbesondere die Ukraine-Krise, sorgte in einer schwierigen Situation für einen Identitätsschub.
Dass dieser der Gemeinschaft nicht aus ihrer Sinnkrise helfen wird, zeigen die bereits erwähnten Entwicklungen, das Erstarken der europafeindlichen Kräfte und der Brexit.
In Europa, das mit seinen Problemen zu kämpfen hat, werden die gewaltigen Aufgaben, vor denen Russland nach der Aufspaltung der UdSSR in 15 unabhängige Nachfolgestaaten stand und immer noch steht, bis heute unterschätzt.
Russland ist ein Land ohne demokratische Traditionen. Nach jahrhundertelanger Zarenherrschaft und Jahrzehnten kommunistischer Diktatur wurde es gleichsam über Nacht umgekrempelt und neu ausgerichtet in Richtung demokratische Prinzipien und marktwirtschaftliche Ordnung.
Die Supermacht Sowjetunion war lautlos von der Weltbühne abgetreten, die Atommacht fiel ohne Aufruhr oder Unruhen in sich zusammen. Im Westen hat das für Erleichterung gesorgt, in Russland ein Trauma verursacht, das bis heute weiter wirkt.
Die einstige Supermacht hat ihre Identität verloren. Geblieben ist ein Gefühl der Minderwertigkeit und der Demütigung – Präsident Obama hat mit seiner Feststellung, Russland sei eben nur noch eine „Regionalmacht“, in genau diese Kerbe gehauen.
Hinzu kommt noch eine Negativerfahrung, die wir im Westen bis heute nicht richtig verstanden haben. Die Veränderungen in den neunziger Jahren haben die Begriffe „Demokratie“ und „liberale Marktwirtschaft“ in Russland diskreditiert.
Damals brach das gesamte Wirtschafts- und Sozialsystem zusammen. Die Exzesse eines entfesselten Kapitalismus bescherten einigen wenigen, den „Oligarchen“, ungeheuren Reichtum, ließen viele aber arm zurück.
Für die Mehrheit der Bevölkerung haben seit dem Chaos der Jelzin-Jahre soziale Stabilität und ein funktionierender, verlässlicher Staat oberste Priorität.
Die Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte, auf nationale Traditionen und Mentalitäten ist eine beinah zwangsläufige Folge dieser negativen Erfahrungen und des Verlusts des Supermachtstatus. Wir sehen heute ein Russland, das als starker Nationalstaat auf die Weltbühne zurückkehrt.
Auf dieser Bühne stehen sich Ost und West wieder so unversöhnlich gegenüber wie zu Zeiten des Kalten Krieges.
Noch vor gut 25 Jahren schien die Frage von Krieg und Frieden in Europa endgültig entschieden und der Kampf der Ideologien ein für alle Mal beendet. Die Mauer in Berlin fiel, das Symbol des Kalten Krieges. In der Präambel der Charta von Paris wurde festgehalten, dass das „Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas zu Ende gegangen ist“.
Die an das Ende des Kalten Krieges geknüpften Hoffnungen wurden enttäuscht. Die Gräben zwischen Ost und West sind wieder neu aufgeworfen. Krieg in Europa ist wieder möglich geworden – schon sehr bald in Jugoslawien und auch heute im Osten der Ukraine. Das Verhältnis zwischen Russland und Europa, aber auch zwischen Russland und Deutschland ist empfindlich gestört.
Heute müssen wir uns offen und ehrlich mit der Frage auseinandersetzen, wie es wieder dazu kommen konnte, dass wir uns voneinander abgewendet haben, dass wir uns wieder als Gegner betrachten.
Die Enttäuschung ist groß, auf beiden Seiten. Die deutschen Erwartungen, dass Russland nach der Auflösung der Sowjetunion rasch eine rechtsstaatliche Demokratie nach westlichem Muster zustande bringe, mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung und einer liberalen Gesellschaft, haben sich nicht erfüllt.
Die russische Nation hat einen eigenen Weg eingeschlagen, der unseren Vorstellungen im Westen in vielem nicht entspricht, und der russische Präsident findet in seinem Land großen Rückhalt für diesen Weg.
Auch Russland hatte sich mehr versprochen. Die entthronte Supermacht erwartete eine Begegnung auf Augenhöhe – vom Westen, der im Systemwettstreit die Oberhand behalten hatte, und erst Recht von Deutschland, dem man sich in Europa am nächsten fühlte.
Doch gerade Deutschland gefiel sich eher darin, die junge Demokratie mit erhobenem Zeigefinger zu belehren. Als Partner und als Machtfaktor wurde Russland nicht mehr ernstgenommen.
An Signalen dafür, dass die einstige Supermacht ihren Platz in Europa suchte, hat es nicht gemangelt.
In seiner Rede 2001 im Deutschen Bundestag bot der russische Präsident Europa, ohne dessen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in Zweifel zu ziehen, eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft an.
Die ausgestreckte Hand ist von der deutschen Politik nicht ergriffen worden. Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 war dann schon ein Alarmruf, der deutlich machte, dass Russland seine Sicherheitsinteressen vor allem durch die amerikanische Hegemonie und die Nato-Osterweiterung bedroht sieht.
Präsident Medwedews Vorschlag für einen europäischen Sicherheitsvertrag, den er 2008 in Berlin vorlegte, blieb im Westen ohne nennenswerte Resonanz. Auch die Vision eines gemeinsamen europäischen Raums von Lissabon bis Wladiwostok, die Putin 2010 ins Gespräch brachte, wurde allenfalls wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber nicht wirklich diskutiert.
Im vergangenen Jahr zog Horst Teltschik auf diesem Symposium die ernüchternde Bilanz: „Letztlich hat keine Regierung im Westen in den mehr als 20 Jahren ernsthaft den Versuch unternommen, das Ziel einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung weiter zu verfolgen.“
Das zeigte sich in der zügigen Erweiterung der Nato, bei der Russland vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, ebenso wie auch darin, dass Russland in internationalen Fragen, zum Beispiel bei den Interventionen im Kosovo oder in Libyen, übergangen wurde.
Dass das Thema der Sicherheit in Europa im Westen kein Gehör fand und bis heute nicht findet, hat sicher auch viel zu tun mit dem „Triumphalismus“, der die westliche Welt nach dem Ende des Kalten Krieges ergriff. Aus diesem Gefühl einer – auch moralischen – Überlegenheit heraus hat sich die deutsche Politik mit Blick auf Russland dann auch in erster Linie auf Wertekonvergenz konzentriert. Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit waren die wesentlichen Themen, auf die Russland angesprochen wurde.
Die Integration Russlands in Europa als Partner auf Augenhöhe, die Integration Russlands in eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur, also die Anliegen, auf die uns die russische Politik über Jahre hinweg immer wieder aufmerksam gemacht hat, sind bei uns nicht ernst genommen worden.
Die Erklärung, die Ausdehnung des Nato-Verteidigungsbündnisses sei nicht gegen Russland gerichtet – so wahr sie auch sein möge – reicht nicht aus, die russischen Bedenken zu zerstreuen, solange die Frage nach der Rolle Russlands in einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur nicht geklärt ist.
Die militärischen Auseinandersetzungen, die im Februar 2014 im Osten der Ukraine ausgebrochen sind, und die folgende Krimkrise haben uns drastisch vor Augen geführt, wie schnell die Situation in Europa eskalieren kann.
Seitdem haben sich die Spannungen zwischen Russland auf der einen und Europa und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite immer weiter verschärft. Die Kontrahenten haben Sanktionen gegeneinander verhängt und zeigen ihre Muskeln – auch militärisch.
Heute müssen wir von einer neuen Ost-West-Konfrontation sprechen und uns die Frage stellen, wie es auf dem europäischen Kontinent mit unserem Nachbarn Russland weitergehen soll: Was können wir tun, um die Situation zu entspannen? Welche Wege stehen uns überhaupt noch zur Verfügung?
Wie verfahren die Situation ist und wie gestört das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Osten ist, wird vielleicht daran am deutlichsten, dass die Konflikte in der Welt, an denen Russland, die Vereinigten Staaten und Europa mittelbar oder unmittelbar beteiligt sind – nehmen wir nur die Syrien-Krise oder die Auseinandersetzung im Osten der Ukraine –, dass diese Konflikte von den Parteien völlig unterschiedlich dargestellt und bewertet werden.
Ost und West haben jeweils ihre eigenen Narrative dieser Krisen und ihrer Rollen darin entwickelt. In diesen Darstellungen wird ausschließlich in Schwarz-Weiß gemalt, die Rollen sind klar verteilt, nur eben je nach Perspektive unterschiedlich: Schuld sind immer die Anderen.
Inzwischen ist der Diskurs emotional so aufgeladen – verstärkt insbesondere auch durch die Berichterstattung der Medien in beiden Ländern –, dass für eine differenzierte Analyse, geschweige denn für eine selbstkritische Analyse, kein Raum mehr ist.
In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, einem Jahrzehnt, das durch und durch von der Konfrontation zwischen Ost und West bestimmt war – die Mauer in Berlin wurde gebaut, in der Kuba-Krise schrammte die Welt nur ganz knapp an einer nuklearen Katastrophe vorbei, die Truppen des Warschauer Pakts marschierten in die Tschechoslowakei ein, um den „Prager Frühling“ niederzuschlagen – in dieser Zeit der Konfrontation wagten Egon Bahr und Willy Brandt eine politische Kehrtwende: Sie setzten auf Kooperation mit der Sowjetunion.
Mit ihrer Verständigungspolitik bereiteten sie den Weg für die Beendigung des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung.
Die Neue Ostpolitik entstand aus dem Bewusstsein, dass das Ziel, Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent zu schaffen mit einem „Weiter so“ des konfrontativen Kurses nicht zu erreichen war, dass im Gegenteil die „Politik der Stärke“ die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung in Europa erhöhte.
Sie steckte das Ziel, „ohne zu wissen, wann und wie es erreichbar wäre“ (Bahr 1998). Die kleinen Schritte, nicht die großen Worte bestimmten die Politik. „Wandel durch Annäherung“ lautete die Formel Egon Bahrs. Nicht umgekehrt. Das heißt: Die Gespräche mit der Sowjetunion wurden nicht mit Vorbedingungen verknüpft, und ideologische Fragen blieben außen vor. „Bitte keine Politik des Exports von Demokratie und unseren anderen Werten“ hat er das mit Blick auf die westliche Politik später einmal auf den Punkt gebracht (Bahr 2012).
Heute ist das anders. Unsere wertegeleitete Außenpolitik stellt die Forderung, dass Russland zunächst einen demokratischen Wandel vollziehen und die westlichen Werte in seiner Gesellschaft etablieren müsse, um überhaupt Partner für Europa oder Deutschland sein zu können.
Russland empfindet das als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Überhaupt wird der Westen nicht als ehrlicher Makler in Sachen Demokratie gesehen, weil er sich unglaubwürdig gemacht hat, etwa durch die völkerrechtswidrigen Einsätze im Kosovo und im Irak oder durch die militärischen Aktivitäten in Libyen. Auch durch die doppelten Standards, mit denen er misst, wenn er seine Werte in der Welt einfordert oder eben nicht – mit Saudi-Arabien oder China spricht der Westen anders als mit Russland; und in Europa mit Ländern wie Polen oder Ungarn sowieso.
Für einen „Wandel durch Annäherung“ müssen wir heute zunächst einmal einen Schritt zurückgehen und alles auf Anfang stellen. In der prägnanten Diktion von Egon Bahr hieße das: Wir müssen den Status quo akzeptieren, um ihn zu überwinden.
Wir müssen Russland als gleichberechtigen Partner behandeln und Augenhöhe herstellen. Dazu gehört, dass wir anerkennen, dass auch die Interessen Russlands legitime Interessen sind; dass wir Russland zugestehen, dass es seinen Weg geht und allein bestimmt, welche Schritte es zur Demokratie geht und wie es diese Demokratie in näherer oder fernerer Zukunft ausgestaltet.
Das bedeutet, dass wir uns auf viel längere Wege einstellen müssen, wenn wir eine Entwicklung induzieren wollen, die uns aus guten Gründen die bessere scheint, weil sie unseren Werten näher ist.
In der derzeitigen Situation sind Stimmen für eine Verständigung mit Russland am ehesten aus der Bevölkerung und der Wirtschaft der großen europäischen Länder Deutschland, Frankreich oder Italien zu erwarten.
Das Interesse der Wirtschaft an der Partnerschaft mit Russland erstaunt angesichts des riesigen Potenzials für die Kooperation nicht. Russland ist ein bedeutender Absatzmarkt, für viele Branchen sogar der wichtigste Absatzmarkt in Europa.
Erstaunlicher als das Interesse der Wirtschaft ist das Interesse der Bürger am Verhältnis zwischen Deutschland und Russland.
In einer Umfrage der Körber-Stiftung vom vergangenen Jahr hat sich eine deutliche Mehrheit von 81 Prozent der Deutschen für engere Beziehungen zwischen den beiden Ländern ausgesprochen. Eine politische Wiederannäherung zwischen Russland und der Europäischen Union halten gar 95 Prozent der Deutschen für wichtig.
In Russland waren die Ergebnisse ähnlich eindeutig. Die Deutschen positionierten sich damit klar gegen den politischen und medialen Mainstream mit seinem russlandkritischen Dauerton.
Viele Menschen in Deutschland und Russland fühlen eine besondere Pflicht und Verantwortung dafür, den Aussöhnungsprozess der beiden Völker, der so vielversprechend begonnen hat, unumkehrbar zu machen.
Es macht Mut, dass die Menschen nicht bereit sind, die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen zur Disposition zu stellen, dass sie nicht bereit sind, ihre Beziehungen wieder rückabzuwickeln, jetzt, wo sie gerade erst angefangen haben, sich einander wieder anzunähern und ihre überreiche Geschichte miteinander zu erneuern.
Das Deutsch-Russische Forum, für das ich mich heute engagiere, hat sich zur Aufgabe gemacht, diesen Dialog der Bürger in die Gesellschaften hineinzutragen. Heute ist das wichtiger denn je. Nicht weniger, sondern mehr Zusammenarbeit und mehr Brücken zwischen unseren Gesellschaften muss das Gebot der Stunde lauten.
Das Deutsch-Russische Forum versucht diese Brücken zu bauen und begehbar zu halten, indem es die Begegnung und den Dialog zwischen Deutschen und Russen in einer Vielzahl von Tätigkeitsfeldern organisiert und moderiert: im Jugendaustausch, in Netzwerken für junge Eliten, in der Kultur, in Städtepartnerschaften und kommunalen Kooperationen. Aber auch in gemeinsamen Konferenzen wie den Potsdamer Begegnungen, mit denen wir den politischen Gesprächsfaden zwischen unseren Ländern auch in schwierigen Zeiten nicht abreißen lassen.
Die großen politischen Erschütterungen des vergangenen Jahres und auch des neuen Jahres, Frank-Walter Steinmeier hat Ende Januar in seiner letzten Rede als Außenminister vor dem Bundestag absolut zu Recht darauf hingewiesen, die großen Erschütterungen kamen nicht mehr von außen, sondern „aus dem Inneren unserer westlichen Gesellschaften“.
Tiefe Risse im europäischen Fundament und – ich will das ganz zurückhaltend formulieren – Haarrisse im transatlantischen Bündnis.
Dass der amerikanische Präsident in seinen Statements immer wieder einmal an den Grundfesten der westlichen Gemeinschaft rüttelt, birgt aus meiner Sicht für Europa zumindest latent eine ganz neue Gefahr: Die Europäische Union könnte Gefahr laufen, am Ende im Kontext der Beziehungen in der Welt recht allein dazustehen: Wenn nämlich die Vereinigten Staaten einen isolationistischen Kurs verfolgen und Russland sich – was durch die Sanktionen des Westens derzeit noch befördert wird – stärker nach China und überhaupt nach Asien orientiert. Ich hielte das für eine fatale Entwicklung.
Angesichts dieser sehr schwierigen Lage sollten wir in Europa alles daran setzen, unser Verhältnis zu Russland zu entspannen und zu verbessern.
Wir sollten auch in Erwägung ziehen, dafür in Vorleistung zu treten und beginnen, einseitig Sanktionen abzubauen. Auch das kann dazu beitragen, Bewegung in die festgefahrene Situation auf dem Kontinent zu bringen.

Erinnern wir uns des Mutes von Egon Bahr und Willy Brandt, die in einer Zeit, „als der Kalte Krieg am kältesten war“, gegen massive innenpolitische Widerstände, eine neue, konstruktive Politik wagten, eine Politik, die den Realitäten – nicht den großen Worten der Ideologen – folgte. Eine Politik, die Verantwortung an die erste Stelle stellte.

„Was damals, zu Beginn der siebziger Jahre, mit Erfolg praktiziert wurde, werden andere jetzt neu lernen“, schrieb Egon Bahr 2013, „Nicht Demokratie und Menschenrechte, nicht einmal die Freiheit, sondern der Frieden muss global der oberste Wert bleiben.“

Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.