20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

Wege ins Exil

von Mathias Iven

Bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten hat Kristine von Soden zahlreiche jüdische Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen interviewt, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland flüchten mussten. Damals ging es der Autorin vorrangig darum, etwas über deren Lebensumstände in England oder Amerika, Palästina oder Mexiko, Südafrika oder China zu erfahren. Erst später kamen die Fragen: „Auf welchen Schiffen und von welchen Häfen aus traten die Verfolgten Ihre Reisen ins Ungewisse an? Wer half ihnen bei der Beschaffung von Pässen, Aus- und Einreisepapieren, Transitvisa, Affidavits und Schiffskarten? Wie liefen die Gepäcktransporte ab? Wer leistete finanzielle Unterstützung, wer fachkundigen Rat?“ Antworten darauf fand Kristine von Soden unter anderem im Deutschen Exilarchiv. Dort sichtete sie ungezählte Nachlässe, vertiefte sich in jüdische Tages- und Wochenzeitungen und wertete die Publikationen jüdischer Hilfsorganisationen aus. Bei ihren Nachforschungen kam sie zu dem Ergebnis: „1933 zu emigrieren ist nicht dasselbe wie 1935 oder 1938.“ Es wurde damals immer schwieriger, Deutschland zu verlassen. Die Repressalien gingen schließlich so weit, dass im September 1941 ein generelles Ausreiseverbot verhängt wurde.
Mit dem jetzt vorliegenden, auf ihren umfangreichen Recherchen beruhenden Buch geht es Soden unter anderem darum, „einen Eindruck von den praktischen Mühen und schikanösen Erschwernissen zu vermitteln, die mit den erzwungenen Ausreisen einhergehen“. So kommen nicht nur die Betroffenen zu Wort, sondern es werden auch jene Personen und Organisationen in den Blick genommen, die aktive Fluchthilfe leisteten, wie das im Sommer 1940 gegründete Emergency Rescue Committee.
Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko, Lilli Palmer, Tisa von der Schulenburg, Ruth Klinger oder Anna Seghers – ihre Namen und ihre Lebensgeschichten kennt man. Doch was ist mit den heute fast Vergessenen? Wie erging es der Lektorin Grete Fischer, was geschah mit der Journalistin Hilde Marx? Und was wurde aus den Juristinnen Margarete Edelheim, Margarete Berent und Marie Munk?
Stellvertretend für die im Buch beschriebenen Emigrantenschicksale soll hier nur ein Name herausgegriffen werden: Hertha Nathorff. 1895 als Nichte des Physikers Albert Einstein im oberschwäbischen Laupheim geboren, kam sie nach ihrem in München, Freiburg und Heidelberg absolvierten Medizinstudium 1923 nach Berlin. Im Krankenhaus Moabit – wo heute eine Gedenktafel an ihre und an die Tätigkeit anderer jüdischer Ärzte erinnert – lernte sie den dort als Oberarzt tätigen Erich Nathorff kennen, den sie noch im selben Jahr heiratete. Neben ihrer Arbeit in der Klinik baute sich das Ehepaar eine eigene Praxis auf, seit 1929 hatte Hertha Nathorff zudem die Leitung der Eheberatungsstelle im Frauenkrankenhaus Berlin-Charlottenburg inne.
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten konnte sie nicht einschüchtern: „So schnell räume ich das Feld nicht.“ Als pflichtbewusste Ärztin wollte sie bei ihren Patienten bleiben. Erst die Ankündigung, dass jüdische Ärzte am 30. September 1938 ihre Approbation verlieren sollten, veranlasste Hertha Nathorff und ihren Mann, Ausreisevisa zu beantragen. Die Zeit verging und die Nathorffs warteten. Am 9. November brannten die Synagogen, ein paar Tage danach wurde Erich Nathorff von der SA abgeholt. Erst am 16. Dezember kehrte er aus der Dachauer KZ-Haft zurück: Entlassungsgrund war sein erklärter Auswanderungswille.
Anfang 1939 hieß es in Hertha Nathorffs Tagebuch: „Es ist unmöglich zu erfahren, wann ungefähr wir nach USA können, und ohne diesen Nachweis bekommen wir das Permit für England nicht. Überall wirft man uns Steine in den Weg.“ Endlich, im April 1939 war es soweit. Mit Mann und Sohn konnte sie Deutschland auf der „Bremen“ verlassen. „Das Schiff ist wie ein Gespensterschiff“, hielt sie in ihrem Tagebuch fest. „Kein Passagier, niemand von der Besatzung, niemand ist zu sehen, nur ich gehe suchend durch die Gänge.“ Zunächst führte ihre Reise nur bis nach London. Erst am 22. Februar 1940 sollte sie mit ihrer Familie an Bord eines Schiffes der Holland-Amerika-Linie in Richtung New York gehen.
Da ihre Studienabschlüsse nicht anerkannt werden, darf sie in Amerika nicht als Ärztin arbeiten. Erich Nathorff stellt sich den notwendigen Prüfungen, wiederholt das medizinische Staatsexamen und eröffnet 1942 in ihrer Wohnung eine Praxis. Sie unterstützt ihn als seine Sprechstundenhilfe, kümmert sich um den Sohn und den Haushalt, engagiert sich für die sozialen Belange deutscher Emigranten. 1954, im Alter von 65 Jahren, stirbt ihr Mann. In den nächsten Jahren arbeitet sie als Psychotherapeutin, publiziert mehrere Bücher und wird 1967 für ihren Mut und ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Zwei Jahrzehnte darauf werden ihre Tagebuchaufzeichnungen aus der NS-Zeit, die sie 1940 bei einem Manuskriptwettbewerb der Harvard University zum Thema „Mein Leben in Deutschland“ eingereicht hatte und die seither verschollen schienen, in Deutschland veröffentlicht. Hochbetagt stirbt Hertha Nathorff 1993 in New York. Wie so viele von denen, die durch die nationalsozialistischen Machthaber verfolgt wurden, hat sie deutschen Boden nie wieder betreten.

Kristine von Soden: Und draußen weht ein fremder Wind … Über die Meere ins Exil. AvivA Verlag, Berlin 2016, 239 Seiten, 19,90 Euro.