20. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April 2017

Bemerkungen

„Die Welt braucht Abrüstung“

In der jüngsten, am 27. März veröffentlichten „Erklärung des Willy-Brandt-Kreises zur aktuellen Diskussion um Aufrüstung in der NATO“ bringen die Unterzeichner unter anderem zum Ausdruck:
„Für die Lösung der Probleme, mit denen es Europa heute und künftig zu tun hat, hat Militär nur eine untergeordnete Bedeutung. Im Fall der Ukraine kann es nur die voranschreitende Konfrontation zementieren oder gefährliche, militärische Zwischenfälle provozieren. Militär kann nichts an aufkommenden Spannungen und destabilisierenden Tendenzen wie z.B. vor dem Hintergrund der knapp werdenden Wasservorräte im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika ändern, die dramatische Konsequenzen auch für Europa haben werden. Genauso wenig kann Militär beim Kampf gegen die Erderwärmung helfen, die langfristig größte Bedrohung der Menschheit.
Wie die internationale Gemeinschaft auch ohne Waffeneinsatz und Aufrüstung tatsächlich Verantwortung in Konflikten übernehmen kann, fordern die Vereinten Nationen längst: Zivile Konzepte zum Schutz vor Gewalt müssen Priorität haben! Um die wirklichen Probleme der Sicherheit aller Menschen zu lösen, muss Europa die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) umsetzen, die auch für entwickelte Länder hohe Anforderungen stellen. Darin enthalten sind der Kampf gegen Armut und Pandemien, das Engagement für Bildung und Gesundheit, Investitionen in Wasserversorgung und alternative Energieversorgung.“
Der volle Wortlaut der Erklärung kann auf der Homepage des Willy-Brandt-Kreises abgerufen werden.

gm

Medien-Mosaik

Spätestens seit Goethes Zeiten wird über das Liebesleben von Autoren gern spekuliert. Kurt Tucholsky macht da keine Ausnahme.
Die Germanistin Unda Hörner, die in Tucholskys Lieblingsstädten Berlin und Paris studierte, hat mit dem schmalen, aber kompakten Band „Ohne Frauen geht es nicht“ auf Erkenntnisse anderer Publizisten von Helga Bemmann bis Klaus Bellin aufgebaut.
Ist Hörners Bändchen aufschlussreich oder überflüssig?
Die Frage ist mit einem klaren „Sowohl als auch“ zu beantworten. Wer sich für Tucholsky und die Frauen interessiert – wohlgemerkt die Frauen, und nicht, wie es der Untertitel verheißt „die Liebe“ – wird hier kompakt bedient. Von dem wenigen, was man über die Verlobte Kitty Frankfurter weiß, über Liebschaften bis zu dem Vielen, was von Mary Gerold-Tucholsky bekannt ist, referiert die Autorin kenntnis- und zitatenreich, wie es gelaufen ist, und baut dabei auf viele Memoiren von Tucholskys Zeitgenossinnen auf. Tucholskys Liebe (zumindest zu Frauen) spielt aber keine Rolle, wenn die Autorin etzwa über die Diseusen und gar die zeitgenössischen Autorinnen spricht. Die offenbar platonische Liebe zu Gussy Holl ist bekannt. Hörner lässt offen, ob Tucholsky mit der Hesterberg oder der Kühl zu intim wurde. Gerade an diese beiden Künstlerinnen denkt die Autorin offenbar nicht, wenn sie feststellt, dass nach 1933 Tucholskys Interpretinnen verstummten. Das mag für Rosa Valetti gelten, bedingt auch für Claire Waldoff. Kate Kühl und Heinrich Manns Ex-Geliebte Trude Hesterberg hingegen machten (wenngleich viel zahmer) im Dritten Reich weiter, beide auch in der DDR, bevor sie vom westdeutschen Kulturbetrieb aufgesogen wurden.
Ein anderes Kapitel befasst sich mit den Autorinnen unter Tucholskys Zeitgenossen. Hörner legt glaubhaft nahe, dass sich Tucholsky und Vicky Baum gekannt haben müssen. Aber auch Irmgard Keuns und Gabriele Tergits damalige emanzipierte Haltungen referiert sie mit Zitaten aus Tucholskys Rezensionen auf eingängige Weise.
Unda Hörner: Ohne Frauen geht es nicht – Tucholsky und die Liebe, ebersbach & simon, Berlin 2017, 123 Seiten, 16,80 Euro.

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Filmregisseur Jakob Lass ist ein Nach-Erfinder. Angelehnt an Lars von Triers Dogma-Manifest von 1995 hat er während seiner Studienzeit an der HFF „Konrad Wolf“ das Regelwerk „Fogma“ aufgestellt, wonach die Schauspieler die Dialoge nach einem vorgegebenen Gerüst frei gestalten können. Bei seinem Debütfilm „Love Steaks“ hat das gut funktioniert, weil ein sympathischer Looser im Mittelpunkt stand. Auch hier gab es allerdings unmotivierte Gewalt, die nun Lass‘ zweiten Film dominiert.
Peter Welz drehte „Burning Life“, Ridley Scott „Thelma und Louise“ – daran orientiert sich Lass bei „Tiger Girl“. Zwei gegensätzliche junge Frauen (Maria Dragus als anfangs braver Wachschutz-Lehrling und Ella Rumpf als gewalttätige Anarcho-Braut Tiger) freunden sich an, Tiger gibt der schüchternen den Kampfnamen Killer-Vanilla und führt sie in ihre Kreise ein, die nur aus zwei Dealern bestehen, die es sich auf einem Dachboden bequem gemacht haben und auf Unterhosen keinen Wert legen. Die beiden Frauen ziehen stehlend, betrügend und prügelnd durch Berlin, bis Killer-Vanilla Tiger in unmotivierter roher Gewalt überflügelt.
Jakob Lass glaubt, hier althergebrachte Rollenbilder in Frage zu stellen, und behauptet in Interviews, sein Film sei politisch, zeige er doch die Ohnmacht, die heutzutage generell die Menschen beherrsche.
Was hier aber tatsächlich herrscht, ist letztlich nur die Grenzüberschreitung als Selbstzweck. Man erfährt nichts über Herkunft und Vorleben der Protagonistinnen, die nun mal „neben der Spur“ laufen. „Fogma“ bedeutet: Der Film wird mit der Handkamera wacklig fotografiert und zu kleinen Schnitten zerteilt. Produzent Golo Schultz hat eine permanent dräuende, laute Musik beigesteuert.
An sich wäre dieser misslungene Film nicht der Rede wert, wenn er nicht vom RBB koproduziert und von der Constantin mit Getöse in die Kinos gebracht worden wäre. Es siegt die ambitionierte Belanglosigkeit!
„Tiger Girl“, Regie Jakob Lass, Constantin-Verleih, seit 6. April in zu vielen Kinos.

bebe

Blätter aktuell

Starke Fliehkräfte zerren heute an der EU und bedrohen ihren Fortbestand. Zugleich wächst seit dem Brexit der Zuspruch zum vereinten Europa wieder. Welche Zukunft hat vor diesem Hintergrund die europäische Demokratie? Darüber diskutiert der Philosoph und Blätter-Mitherausgeber Jürgen Habermas mit dem französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron und Bundesaußenminister Sigmar Gabriel.
Seit Ende des Kalten Krieges sind die Rüstungsausgaben drastisch gestiegen, ein Großteil davon entfällt auf den Westen. Zugleich sucht das heutige Krisenszenario seinesgleichen. Der Politikwissenschaftler August Pradetto sieht den Grund dafür im westlichen Interventionismus, der die Konfliktursachen nur noch verschärft. Damit aber kämpft die Nato gegen die Folgen ihres eigenen Handelns. Das 2-Prozent-Rüstungsziel für die Nato-Staaten bedeutet daher vor allem eines – die Perpetuierung des Krieges.
Die Care-Arbeit offenbart ein fundamentales Dilemma: Obwohl jede Gesellschaft darauf angewiesen ist, dass Kinder erzogen, Alte gepflegt und sich um Verwandte und Freunde gekümmert wird, geraten diese zentralen Aufgaben sozialer Reproduktion derzeit enorm unter Druck, argumentiert die Sozialwissenschaftlerin Nancy Fraser. Denn die kapitalistische Ökonomie nimmt diese elementar wichtige Arbeit in Anspruch, ohne sie zu vergüten oder für ihren Fortbestand Sorge zu tragen – und droht damit ihre eigenen Grundlagen zu zerstören.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Martin Schulz: Die Entschröderung der SPD?“, „Equal Pay: Was Frauen nicht verdienen“ und „Dutertes Drogenkrieg: Staatsterror gegen die Ärmsten“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, April 2017, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

WeltTrends aktuell

Sie sehe keine vernünftige Alternative zum Ziel einer Zweistaatenlösung versicherte Bundeskanzlerin Merkel kürzlich dem Palästinenserpräsidenten Abbas. Während der UN-Sicherheitsrat Ende vergangenen Jahres noch den Bau israelischer Siedlungen in der Westbank als illegal kritisierte, scheint aber nun mit der Trump-Administration jede Hoffnung auf eine solche Lösung vorbei zu sein. Mit der Lage und den Aussichten im israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigen sich im Thema Autoren aus der Region. Der israelische Botschafter in Deutschland und die Vertreterin Palästinas legen ihre Ansichten dar, während sich Katja Herrmann mit der Rolle der NGOs beschäftigt.
Im WeltBlick analysiert Lutz Kleinwächter die diesjährige Münchener Sicherheitskonferenz; mit der polnischen Konzeption von den drei Meeren setzt sich Holger Politt auseinander.
War die DDR heimlich ein Mitglied der EG? Dieser Frage geht Detlef Nakath in seinem Historie-Beitrag nach.
Auf Gefahren für die Pressefreiheit in Deutschland weist Daniel Moßbrucker, Reporter ohne Grenzen, im Kommentar hin. Die neue Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS) sieht er als neue Spionagebehörde, die unter anderem das Ziel verfolgt, verschlüsselte Kommunikation zu brechen. Damit räume sich die Bundesregierung neue Überwachungsbefugnisse ein.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 126 (April) 2017 (Schwerpunktthema: „Zwei Staaten, ein Staat oder …“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Streifzüge durch das Thema Populismus

Ist Populismus eine sinnerfüllende Kategorie, fragt das in Wien erscheinende Magazin Streifzüge. Man ist sich anhand der Beiträge nicht sicher, mehr laufe da in den Analysen auseinander als zusammen – „Produktive Unsicherheit“ heißt es.
Peter Klein schreibt zum Beispiel über Populismus und blinde Vergesellschaftung, Manfred Sohn analysiert das Grundsatzprogramm der AfD. Franz Schandl überschreibt seinen Artikel mit „Die affirmative Revolte. Vom österreichischen Ausnahmefall zum europäischen Paradigma“.
Ein kurzer Auszug mag neugierig machen auf weitere Beiträge:
„Politik (und insbesondere Wahlkampf) ist Show, nicht bloß auch, sondern immer mehr nur. Die USA spielen diesen ‚democratic circus‘ (David Byrne) schon länger vor, der alte Kontinent ist da etwas weiter hinten, aber Österreich ist in Europa durch die Haiderei durchaus Avantgarde gewesen. Die Installierung von Laune und die Mobilisierung von Stimmungen samt deren Verwandlung in Stimmen ist die der Marktwirtschaft analoge Aufgabe der Politik. Im Populismus wird diese beständig an die Werbung und deren Praktiken angepasst. Diese fortschreitende Kommerzialisierung der Politik ist in der Parteienkonkurrenz selbst angelegt. […]
Klassische Interessen treten zusehends zurück. Ohne den kommerziellen Klamauk kann Politik in der Medien- und Eventgesellschaft nicht mehr existieren. Populistisch ist Politik sowieso, nicht nur die der bevorzugt als Populisten bezeichneten.“
Viel Diskussionsstoff.

mvh

Streifzüge. Magazinierte Transformationslust, Nr. 69, Frühling 2017, Wien, Einzelheft: 7,00 Euro, kompletter Jahrgang: 15,00 Euro.