20. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2017

Besuch bei Vater Gleim

von Wolfgang Brauer

Der Domberg in Halberstadt wird von zwei imposanten Kirchen dominiert. Am westlichen Ende des Domplatzes befindet sich die romanische Liebfrauenkirche, ein absichtsvoll wehrhaft wirkender Bau, eine wahre „ecclesia militans“ aus dem 12. Jahrhundert. Die gleichsam bauliche Antwort der „ecclesia triumphans“, der ihrer geistigen Alleinherrschaft sehr sicheren Kirche des späten Mittelalters, liefert der ihr in gerader Linie am anderen Ende des Platzes gegenüberstehende, den Heiligen Stephanus und Sixtus geweihte gotische Dom. Der ist, nicht nur mit seinen pfeilhaft aufragenden Türmen am Westportal, geradezu ein Lehrbuchbeispiel französischer Kathedralbaukunst, das man eher zwischen Straßburg und Amiens vermuten würde – aber nicht am Nordrand des Harzes.
In den Schatten der Nordseite des Kathedralchores duckt sich förmlich ein bei näherem Hinsehen durchaus imposantes Bürgerhaus aus dem 17. Jahrhundert, das durch den schönen Kontrast zwischen dem aus Kalksandstein errichteten Erdgeschoss und dem aus einem sehr regelmäßig gearbeiteten Fachwerk erstellten Obergeschoss besticht. Das steil aufragende Dach tut das Seinige zur Wirkung des Gebäudes dazu.
Es handelt sich um das Gleim-Haus, eines der ältesten deutschen Literaturmuseen, das zudem den Vorzug genießt, einen der wenigen nahezu komplett erhaltenen Dichternachlässe des 18. Jahrhunderts zu beherbergen. Der Mann, der dem Haus seinen Namen gab, in ihm mehr als 50 Jahre lebte und von hier aus ab 1747 das wohl am weitesten geflochtene Netzwerk der deutschen Aufklärung spann, war der Sekretär des evangelischen Domstiftes Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803). Gleim erging es irgendwie wie seinem Haus: Er stand immer ein wenig im Schatten. Zu Unrecht, wie ich meine.
Die akademische Literaturwissenschaft rümpft bei der Nennung seines Namens gern die Nase und nimmt ihm immer noch die „Preußischen Kriegslieder von einem Grenadier“ (1757/1758) übel: „Und böt uns in der achten Schlacht / Franzoß und Russe Trutz, / So lachten wir doch ihrer Macht, / Denn Gott ist unser Schutz.“ Das klingt unsäglich für heutige Ohren, aber diese „Kriegslieder“ wurden seinerzeit massenhaft gesungen, selbst Goethe bescheinigte ihnen in „Dichtung und Wahrheit“ einen „hohen Rang unter den deutschen Gedichten“. Er war selbst frei nicht von pro-friderizianischen Empfindungen. Gleims Kriegslieder entsprachen in der ersten Phase des Siebenjährigen Krieges durchaus einem damals von vielen positiv empfundenen preußisch-deutschen Patriotismus.
Dem Gleim jetzt den guten Menschen aus Wandsbek, Matthias Claudius, mit seinem „Kriegslied“ friedensbewegt entgegenzusetzen wäre unlauter. Claudius schrieb sein Lied 20 Jahre später, da sah auch Gleim die Sache entschieden anders: „Fort, fort aus aller Welt! / Fort Krieg und Kriegesheer! / Fort Krieg und Kriegesheld! / Krieg ist mein Lied nicht mehr.“ Und dem 18. Jahrhundert warf er vor: „Das Reich der Tugenden, das Reich / Der Wissenschaften lag vor euch, / Und ihr erwähltet Waffen!“ Kriegsverherrlichung geht anders. Der Mann war ein guter Zeitbeobachter.
Seine sonstigen Dichtungen sind ähnlich umstritten. Die deutsche Poesie der späten Aufklärung gilt vielen als langweilig, die Dichtung der Anakreontik – Gleim verhalf diesem Stil in Deutschland 1744 mit seinem „Versuch in Scherzhaften Liedern“ zum Durchbruch – als bloße, seicht dahinplätschernde Rokoko-Verspieltheit. Dieses bis zum heutigen Tage vernichtend wirkende Vorurteil hat nicht zuletzt damit zu tun, dass einige der berühmtesten „Anakreontiker“ – Klopstock, Lessing, Herder, aber auch Schiller und Goethe beispielsweise – spätestens ab 1770 andere Wege gingen. Es ignoriert, dass es gerade Dichter wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim und sein Freundeskreis waren, die einem staubtrockenen Rationalismus, der sich letztendlich in der Endlosschleife der Rechtfertigung alles Bestehenden verfing, den Garaus bereiteten. Die Urstoffe jeder guten Dichtung, Emotion und Sinnlichkeit, hielten wieder Einzug, die strengen Formen des Barock wurden aufgebrochen: „Anakreon, mein Lehrer, / singt nur von Wein und Liebe; / […] Er krönt sein Haupt mit Rosen, / Und singt von Wein und Liebe; / Er paaret sich im Garten, / Und singt von Wein und Liebe“. Natürlich wird Amor gebührend gewürdigt: „[…] ich muß ihm folgen. / Kommt, er soll die Nimfen schießen. / Seht! Er schießt schon. Laßt mich laufen.“ – Das ist zugleich ein hübsches Stückchen Selbstironie.
Gleims Verlobung mit der Blankenburger Amtsmannstochter Sophie Mayer platzte 1753. Er blieb bis an sein Lebensende unverheiratet. Seine Nichte Sophie Dorothea führte ihm den Haushalt.
Das hatte literatur- und kulturgeschichtliche Folgen. Gleim hatte als Domsekretär recht ordentliche Dienstbezüge. Er war offensichtlich auch ein recht guter Verwalter des familiären Vermögens und erwirtschaftete respektable Überschüsse. Die investierte er „in Kunst“. Da ist zuvörderst seine Porträtsammlung, die er in besonderen Räumlichkeiten seines Hauses zusammenführte, die er „Freundschaftstempel“ nannte. Geschuldet war diese Idee vordergründig dem exzessiven „Freundschaftskult“ jenes Zeitalters der Empfindsamkeit. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Beat Hanselmann zählte allein im von Gleim veröffentlichten Briefwechsel mit seinem Freund Johann Georg Jacobi 13.242 Küsse und 260.022 Umarmungen …
Hauptsächlich war es sicherlich das im kulturellen Windschatten gelegene Halberstadt, dass den von der Berliner Aufklärung geprägten Gleim dazu trieb, möglichst vieler seiner Freundinnen und Freunde wenigstens im Porträt um sich zu haben. Dass er die Bilder, wo nötig, bezahlte, war für ihn selbstverständlich. Die Liste der Maler seiner Sammlung ist eine Art „Who is Who“ der deutschen Porträtmalerei der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Von Anton Graff über Angelica Kauffmann, Johann Caspar Füssli, Georg Melchior Krauss bis hin zu den drei Tischbeins ist fast alles vertreten, was Rang und Namen hatte. Zum Lebensende Gleims waren es etwa 150 Bilder, von denen noch 130 in Halberstadt vorhanden sind. Ein Gang durch die Räume dieses Hauses ist ein Gang durch die deutsche Literatur jener Jahrzehnte. Schiller und Goethe fehlen. Die waren aber auch nie da. Goethe besichtigte den „Tempel“ nach Gleims Tod und muss – glaubt man seinem Bericht – zutiefst erschüttert gewesen sein.
Nicht ganz nebenbei gehören zum Sammlungsbestand des Hauses über 10.000 Briefe mit etwa 500 Briefpartnern. Das ist ein Schatz, der längst nicht erschlossen ist. Ich fand beim Rundgang zwei bemerkenswerte Gleimbriefe, die viel über das Selbstverständnis des Domsekretärs aussagen. Am 23. Mai 1796 schrieb er an Jean Paul, er nannte ihn in einem anderen Zusammenhang „Millionair an Verstande“, „sie sollen arm sein“ und schickte mit dem Brief 50 Taler an den tatsächlich notleidenden Schriftsteller. An seinen Freund Ramler schrieb er über den begabten Fabeldichter Magnus Gottfried Lichtwer „ … er ist ein fürtrefflicher Gesellschafter. Schade, daß er Akten dreschen muß!“ Lichtwer war Konsistorialrat und Strafrichter in Halberstadt. Das sicherte seiner Familie zwar eine gutbürgerliche Existenz. Unter den Aktenbergen wurde aber das von Gleim geschätzte schriftstellerische Talent erdrückt.
Übrigens ist auch die Gleimsche Bibliothek noch mit über 12.000 Bänden vor Ort in einem guten Zustand erhalten und nutzbar. Das Haus selbst verfügt inzwischen über einen 1995 fertiggestellten Erweiterungsbau, der sich in seinen Bauformen dezent zurückhält und dem barocken Original den Vortritt lässt.
Wer als Besucher meint, einen geweihten Ort literarisch-sakraler Andacht zu betreten, wird oft überrascht sein: Das vorbildlich von einem Trägerverein geführte Haus pflegt eine äußerst kreative pädagogische Arbeit. Und als ich in tiefste Betrachtungen versunken vor dem Porträt der Anna Louise Karsch (der „Karschin“, 1722–1791) stand, riss mich verführerischster Blechkuchenduft aus diesen. Im Nachbarraum fand ein Kaffeenachmittag für die Halberstädter Lesepaten statt, und die Damen trugen ihre selbstgebackenen Kuchen durch den „Freundschaftstempel“. Gleim hätte das gefallen. Ich bekam Hunger – und brach mein Nachdenken über den banausenhaften Umgang des im Vergleich zum armen Halberstadt doch sehr reichen Berlins mit seiner Literaturgeschichte ab. Friedrich Nicolais (1733–1811) Porträt hängt in Halberstadt. Sein Haus in der Berliner Brüderstraße, einer der Hauptorte der deutschen Aufklärung, wurde von der Stadt verschleudert.