19. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2016

Nach dem Beben von Lissabon

von Wolfgang Brauer

Am 11. März 2011 verwüstete ein Tsunami die ostjapanische Küste vor Tōhoku. Die bis zu 23 Meter hohe Flutwelle zerstörte unter anderem das Atomkraftwerk von Fukushima und kostete 19.300 Menschen das Leben. In Deutschland führte die Katastrophe zum zumindest schrittweisen Komplett-Ausstieg aus der Energiegewinnung durch Atomkraftwerke. Ein Schritt, zu dem sich das unmittelbar betroffene Japan bislang nicht entschließen konnte. Am 26. November 2004 verwüste ein Tsunami die Küsten Südostasiens. Ihm fielen mindestens 231.000 Menschen zum Opfer. Patong Beach, Khao Lak und die anderen verwüsteten Touristenzentren florieren wieder. Inzwischen wurde auch für den Indischen Ozean ein Tsunami-Frühwarnsystem eingerichtet. Die immer noch anhaltenden Spätfolgen der Katastrophe auf Sumatra und an der Südküste Sri Lankas spielen im öffentlichen Bewusstsein zumindest des Westens keine Rolle mehr. Geradezu symptomatisch dafür war der 2012 abgedrehte spanische Spielfilm „The Impossible“ Juan Antonio Bayonas mit Naomi Watts in der Hauptrolle: Im Zentrum der Handlung steht eine von der Todeswelle auseinandergerissene englische (im realen Hintergrund allerdings spanische) Familie, die unter dramatischen Umständen wieder zueinander findet. Ende gut, alles gut… Ein Katastrophenfilm unter Dutzenden. Die nächste Welle kommt bestimmt.
Nach dem großen Seebeben mit dem anschließenden Tsunami, das am 1. November 1755 die portugiesische Hauptstadt Lissabon verwüstete und mindestens 60.000 Menschen den Tod brachte, waren die mentalen Langzeitfolgen noch anders – zumindest unter den Intellektuellen Europas. Noch 55 Jahre nach der Katastrophe gab diese den Untergrund für eines der sprachgewaltigsten Prosastücke der deutschen Literatur, Heinrich von Kleists „Erdbeben von Chili“ (1810). Kleists Novelle voraus gingen – veranlasst durch den Untergang Lissabons – heftigste Auseinandersetzungen zwischen den Schriftstellern und Philosophen der Alten Welt, die das Denken der späten Aufklärung nachhaltig dominierten.
Der Berliner Philosoph und Publizist Horst Günther hat diese Debatten, ihre Hintergründe und Wirkungen kenntnisreich in seinem Buch „Das Erdbeben von Lissabon. Wie die Natur die Welt ins Wanken brachte – von Religion, Kommerz und Optimismus. Der Stimme Gottes und der sanften Empfindung des Daseins“ dargestellt. CORSO brachte diesen Essay jetzt wieder in einer mit zahlreichen zeitgenössischen Bildquellen versehenen Ausgabe heraus. Die Illustrationen geben dem Rezensenten zu denken: 1757 erschien in Paris ein Bildwerk mit Radierungen: „Sammlung der schönsten Ruinen Lissabons, die durch das Erdbeben und Feuer des 1. November 1755 verursacht wurden“. Auch unsere Ahnen berauschten sich also an den Darstellungen von Katastrophen, die nicht vor ihrer Haustür stattfanden. Hollywoods Schreckensästhetik scheint keine Erfindung des 20. Jahrhunderts zu sein…
Günther zeichnet zu Eingang seines Buches ein Bild der Weltsichten des aufgeklärten frühen 18. Jahrhunderts: Die blutigen Religions- und Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts schienen vorbei, Naturwissenschaften und bürgerlicher Gewerbefleiß auf dem Vormarsch: „Man fühlte sich auf dieser Erde heimisch, blickte fast ein wenig selbstgefällig darauf, wie weit man es doch gebracht habe, und es ging ja auch so vieles gut und sogar aufwärts oder glich sich doch, wie Verlust und Gewinn in einem gut geführten Handelshause, bald wieder zum Besseren aus.“ – „Whatever is, is right“, brachte es der englische Dichter Alexander Pope auf eine Kurzformel. Gottfried Wilhelm Leibniz hatte ein philosophisches System geschaffen, das darauf abzielte, eine neue Metaphysik gleichsam durch ein mathematisch begründetes „System des Optimums“ zu schaffen. Die Welt war eingerichtet, zwar noch nicht in allen Details vollkommen, aber sie schien mess- und berechenbar.
Mit dem Beben des Jahres 1755 krachte dieses Weltbild ebenso in sich zusammen wie die großen Kirchen und Paläste Lissabons, die Häuser der Armen ebenso wie das gerade erst eröffnete Opernhaus. Dass dieser Keulenschlag der Natur ausgerechnet zu Allerheiligen passierte und auch das Gebäude einstürzte, in dem sich die Inquisition gerade wieder einmal versammelte, war dem symbolversessenen protestantischen Norden geradezu ein Wink Gottes, den man sich nicht entgehen ließ. Horst Günther offeriert ein ganzes Kaleidoskop dieser moralisierenden Kommentare, von denen sicher die Verse des Leipziger Poetenfürsten Gottsched zu den Peinlichsten gehören. Aber das ist nur die Oberfläche des Diskurses.
Nachdem sich der erste Grusel ähnlich dem Staub der einstürzenden Bauten etwas gelegt hatte, setzte eine Periode tiefen Nachdenkens ein. Wenn die Welt wirklich vollkommen ist – und warum sollte Gott bei der Erschaffung dieser Pfusch geliefert haben? –, warum kam dann das Übel in die Welt und weshalb ließ er es zu, dass es sich dermaßen barbarisch austoben durfte? Günther bilanziert den Diskurs: „So zielt die Frage, die das Erdbeben von Lissabon in Gang setzt, aufs Ganze: Hätte Gott eine bessere Welt schaffen können?“ Mit dieser Fragestellung knüpften die Philosophen der Aufklärung an das Denken des großen Scholastikers Pierre Abaelard an, der den meisten wohl nur noch durch seine unglückliche Liebe zu seiner Schülerin Heloise bekannt ist.
Die nun folgende Auseinandersetzung, an der sich wohl alle bedeutenden und auch die weniger bedeutenden Geister der Aufklärung beteiligten, gehört zu den spannendsten Kapiteln der europäischen Geistesgeschichte. Horst Günther lässt seine Leser an diesem Krieg der Heroen teilnehmen – und verweist immer wieder auf Voltaire. Ansonsten ist sein Fazit ernüchternd: „Der Philosophie war es nicht gelungen, die fast gelösten Rätsel der physikalischen Welt mit den fast unlösbaren Rätseln der moralischen Welt in Übereinstimmung zu bringen. […] Man versicherte sich dessen [dem ‚Gefühl des Daseins‘ – W.B.] nach Maßgabe der Fähigkeiten, Voltaire in der heiteren Weisheit des Candide, Kant in der Resignation des Philosophen und Rousseau in der Seligkeit des Gefühls. Weiter sind wir auch nicht gekommen.“
Apropos „Candide“. Voltaires Held, den der Autor durch die beste aller denkbaren Welten gejagt hatte, kommentiert am Schluss der Erzählung: „Wohl gesprochen, aber wir haben in unserem Garten zu arbeiten.“

Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon. Wie die Natur die Welt ins Wanken brachte – von Religion, Kommerz und Optimismus, der Stimme Gottes und der sanften Empfindung des Daseins, CORSO, Wiesbaden 2016, 144 Seiten, 26,90 Euro.