19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

Explodierende Ampel

von Frank-Rainer Schurich

„Die Straßen von Berlin sind dermaßen lang und gerade, dass man meinen könnte, ein römischer Imperator hätte sie eigens für Wagenrennen bauen lassen. Es schien mir unmöglich, dass ein einzelner Mensch sich durch all diese Straßen schleppen konnte“, schreibt Roger Boyes in seinem unterhaltsamen Buch „My dear Krauts“ über die Entdeckung der Deutschen. Und weil die Straßen so lang und gerade sind, hat Berlin schon immer eine besondere Rolle in der Entwicklung des automobilen Verkehrs gespielt.
Aber der Reihe nach. Das Kraftfahrzeug, wie das Auto oder das Automobil auch heißt, hatte sich vor 1900 durch die Erfindung von schnelllaufenden Verbrennungsmotoren von Daimler und Benz aus der mit einem Motor ausgerüsteten Kutsche entwickelt und einen rasanten Siegeszug um die Welt angetreten. Es war zunächst die Kutsche der Reichen, denn die kleinen Leute konnten sich solch ein Gefährt nicht leisten.
Sieben Jahre nach seiner Konstruktion wurde das erste Automobil, ein Dreirad von Benz, 1892 in Berlin zugelassen, und zwar unter dem amtlichen Kennzeichen IA – 1. Der Kaufmann und Eigentümer des Textilkaufhauses in der Breiten Straße in Berlin-Mitte Rudolph Hertzog fuhr das Auto stolz durch Berlin, womit sich die städtischen Verkehrsmittel erweiterten. Bislang waren nur Droschken, Pferdeomnibusse und Straßenbahnen unterwegs gewesen.
Es wird erzählt, dass sich Kaiser Wilhelm II. dieses amtliche Kennzeichen sichern wollte – die Nr. 1 der später für alle Kraftfahrzeuge der Stadt üblichen Kennzeichenfolge. Die Nr. 1 zu sein, war ja auch standesgemäß, aber trotz Intervention musste sich der Kaiser mit einem nachrangigen amtlichen Kennzeichen begnügen. Das war also wie heute – die Wirtschaft hat das Sagen.
Erich Honecker hat wahrscheinlich das Kennzeichen IA – 1 nie benutzt, aus Furcht vor dem Klassenfeind. Er hat sich’s ja beschaffen können! Sein Volvo 264 TE Top besaß die Autonummer IAA 9-11. Der Generalsekretär muss hellseherische Fähigkeiten gehabt haben, weil er mit 9-11 (Nine-Eleven) die baldige Explosion des Arbeiter- und Bauernstaates, die eigentlich eine Implosion war, kommen sah.
Doch zurück zur Vorgeschichte. Weil das Automobil bessere Straßen verlangte, um bequem reisen zu können, entwickelte sich allmählich eine Verkehrsinfrastruktur – so würden wir heute dazu sagen. Auch die Städte wurden immer größer, wodurch zu erklären ist, dass Berlin so lange und gerade Straßen hat. Denn die Autos sollten ja schnell von einem Ort und zum anderen gelangen.
So ist es nicht verwunderlich, dass die erste deutsche Ampel 1924 auf dem Potsdamer Platz in Berlin stand. Sie hatte fünf Ecken, fünf waagerecht montierte Lampen und ersetzte sogar zehn Polizisten! Im Signalturm saß ein Polizist, der die Zeit mit einer Stoppuhr maß, Schalthebel umlegen musste und so die Lampen aufleuchten ließ. Bis zum Ampelzeitalter hatte man sich ziemlich mühselig und gefahrvoll mit Hupen und Klingeln über die jeweilige Verkehrsführung und Vorfahrt verständigt, oft mit eklatanten Folgen.
Die Ampel ist aber keine deutsche Erfindung. Bereits 1868 waren am Londoner Trafalgar Square versuchsweise Signalampeln mit roten und grünen Gaslaternen montiert worden. Doch die ganze schöne Konstruktion explodierte. Die Idee von einer intelligenten Verkehrsregelung ohne Polizisten wurde deshalb nicht weiter verfolgt. Erst 1914 ging in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio die erste elektrische Ampel im Betrieb. Ob diese Ampel heute noch zu besichtigen ist, konnte nicht ermittelt werden. Aber die erste deutsche Ampel in Berlin am Potsdamer Platz steht mittlerweile rekonstruiert und als Denkmal des Verkehrs voller Pracht am angestammten Platz zwischen den Hochhäusern von Kollhoff & Co.
Drei Jahre vor der Ampel am Potsdamer Platz wurde die „Automobilverkehrs- und Übungsstraße“, kurz genannt AVUS, fertiggestellt und feierlich eröffnet. Die neue, fast 20 Kilometer lange Strecke war zu ihrer Zeit die größte Autorennbahn der Welt. Die Planungen für eine Autobahn gehen aber im Deutschen Reich bis auf das Jahr 1909 zurück.
Jedenfalls fanden die ersten Automobilrennen auf der AVUS am 24. und 25. September 1921 statt. Fritz von Opel siegte im Hauptrennen mit dem international beachtlichen Schnitt von 129 Kilometer in der Stunde – und nicht die Wagen von Daimler und Benz. Auf einem Foto aus dem Jahr 1928 kann man am Dach eines Tores mit zwei Durchfahrten aber dennoch MERCEDES BENZ und AUTOMOBIL-STRASSE lesen – als Werbung für das kommende Massenverkehrsmittel.
Neue Automobil-Straßen machten aber auch Angst vor einen kommenden Verkehrschaos oder wurden geschont, wie man neue Sachen bekanntlich viel schonender behandelt als alte.
Der mecklenburgische Dichter Fritz Reuter erinnert sich aus seiner Kinderzeit, dass ein gebesserter Weg der Schrecken der Umgebung war. Und er erinnerte sich daran, dass ein wohlmeinender Pächter einmal zu seinem Vater sagte: „Führen Sʼ den annern Weg, jo nich desen! Desen hewwen wi betert.“ Was zu gut Deutsch heißt: „Fahren Sie den anderen Weg, ja nicht diesen! Diesen haben wir geteert.“
Das ist Mecklenburg! In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es ganz andere Transportmittel, wie ein leider bei der Räumung des Schlosses Schwerin verloren gegangenes Gemälde beweist (der Künstler konnte nicht ermittelt werden): Das Post-Hundefuhrwerk als Postverbindung Neubrandenburg-Friedland. Zu sehen war ein Postbediensteter mit seiner Klingel in der Hand neben von einem Hunde gezogenen zweirädrigen Leiterwagen, auf dem ein Holzkoffer stand. Was mögen das damals für Wege gewesen sein…
1914 gab es in Berlin schon 6651 Personenkraftwagen (Pkw) und 1598 Lastkraftwagen (Lkw); 2015 waren’s 1.165.215 Pkw und 85.664 Lkw, insgesamt waren also 1.250.879 Kraftfahrzeuge polizeilich zugelassen. Das ist eine Steigerung um das 151-fache. Diese Explosion war damals aber wirklich noch nicht vorauszusehen.