20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

„Ausharren im Paradies“

von Thaddäus Faber

Nachdem Uwe Tellkamps „Der Turm“ 2008 bei Suhrkamp erschienen war, avancierte dieser Trumm bei der Kritik und in den Medien rasch zu dem Wenderoman. Zum, wie Christoph Dieckmann zeitnah ironisierte, „künftigen National-Klassiker“ – das Buch ein „Schrein […] ein wertbeständiges, politisch unstrittiges Buch zur Aufbewahrung der späten DDR und ihres Unterganges“. Dieckmann selbst urteilte eher pejorativ: „‚Der Turm‘ ist ein Konsenschmöker.“ Das sieht der Rezensent vergleichbar, und er dürfte wohl auch nicht der Einzige ohne Verlustempfinden darüber sein, dass Tellkamp seine damalige Androhung gegenüber Dieckmann, es werde einen Teil zwei geben, nicht wahr gemacht hat. Bisher jedenfalls.
Renate Feyls „Ausharren im Paradies“ sind nach dem Erscheinen im Jahre 1992 von der Kritik keine derartigen Kränze geflochten worden. Aber immerhin zählte die Stiftung Lesen dieses Buch 1998 zu den 100 wichtigen Romanen des 20.Jahrhunderts, und mindestens für den deutschsprachigen Raum hat der Rezensent auch noch 19 Jahre später gegen diese Bewertung nichts einzuwenden.
Erzählt wird die Geschichte von Dr. Franz Kogler, Slawist, Sudetendeutscher, der im Jahr 1951 die Tschechoslowakei verlässt und sich mit seiner Familie in der DDR ansiedelt. Der an der Universität Jena, seinerzeit ein intellektuelles Biotop, das auf politische Stromlinienförmigkeit zu bringen sich die zuständigen Leitungsgremien der SED und der Staatsapparat stetig, aber nie restlos erfolgreich mühten, eine Wissenschaftlerkarriere bis zum Professor und Institutsdirektor macht. Wofür seine SED-Mitgliedschaft eine wesentliche Voraussetzung ist, auch wenn er die nicht ständig durch betont bewusstes Auftreten demonstriert. Der Zweifel, nicht an der gesellschaftlichen Idee des Sozialismus, wohl aber an deren Umsetzung in der DDR, im Einzelfall ein ums andere Mal wegdrückt – ob nach Stalins Tod und dem 17. Juni 1953, nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 oder nach dem Mauerbau 1961. Den schließlich erst der Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in der ČSSR 1968 dazu bringt, einmal – und auch das eher symbolisch – seiner Parteiführung die Gefolgschaft zu versagen. Der daraufhin sein Amt und seine Lehrerlaubnis verliert und der trotzdem – quasi als Privatgelehrter, allerdings bei vollen Bezügen, was nicht die Regel war, – zur Stange hält bis zur Implosion 1989/90.
Was Feyl für ihren Kogler diagnostizierte, galt für eine ganze intellektuelle Schicht in der DDR, zu der vor allem, aber keineswegs nur Gesellschaftswissenschaftler zählten, und die dem System aller im Laufe der Jahre zunehmenden internen Kritik und persönlichen Unzufriedenheit zum Trotz bis zum Schluss engagiert ergeben war. Einen entscheidenden Grund dafür benennt Renate Feyl: Kogler war „immer wieder von der Theorie des historischen Materialismus fasziniert. Sie war einfach und übersichtlich, gab einen klaren Begriff von der Gesellschaft und zeichnete die Richtung vor, in die sie zu steuern hatte. Einprägsam stand ihm ihre Gliederung in Basis und Überbau, in Ökonomie und Ideologie vor Augen. […] Auch das Wesen einer Gesellschaft lag offen zutage und konnte für seine Begriffe nicht schlüssiger erklärt werden als mit der Wechselwirkung von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Begannen die Produktionsverhältnisse das Wachstum der Produktivkräfte zu behindern, so mußten sie gesprengt werden, und es kam zur Revolution. Daher waren die Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte […].“ Und ebenso daher wurden in diesen Kreisen Fehlentwicklungen in der Gesellschaft, jähe Kurswechsel der politischen Führung, staatliche Willkürakte, Mangelwirtschaft und anderes mehr immer wieder entweder als Übergangserscheinungen erklärt oder als politisch notwendig akzeptiert oder als subjektive Verfehlungen Einzelner abgetan.
Und dann gab es da natürlich noch den Klassenfeind vor der Haustür, die BRD, der man keine Munition liefern dürfe, weswegen auch der gesellschaftspolitische Totschlagsslogan des SED-Apparates „Keine Fehlerdiskussion!“ geschluckt wurde – und sei es widerwillig, denn wer denken konnte, empfand ja durchaus, was Feyl auf diesen Punkt brachte: „Parteidisziplin bedeutete zunehmend den Verzicht auf die eigene Meinung.“
Im Arbeitsalltag gab man im Übrigen sein Bestes, denn, so ein verbreitetes Credo von pro DDR Engagierten: „Wenn jeder an seinem Platz sein Bestes gibt, dann muss es doch werden…“
Auf diese Weise trug diese Schicht das Ihrige dazu bei, dass die Altmänner-Riege (Feyl: „ein säkularisiertes Kardinalskollegium“) an der Spitze der SED, die insgesamt schon seit Jahrzehnten dem revolutionären Potenzial nach von einer Zwillingsschwester der westdeutschen Unionsparteien (Bundestagswahlkampfslogan 1957: „Keine Experimente!“) nicht zu unterscheiden war, sakrosankt blieb und die Agonie des Systems über den point of no return hinaustreiben konnte. Der Rezensent zumindest wertet dies bis heute als seinen – nolens, volens – ganz persönlichen Beitrag zum Kollaps der DDR. Und das nicht zuletzt, weil ihm der Glaube an obrigkeitliche Verheißungen wie die des XXII. Parteitages der KPdSU, also an das, Zitat Feyl, „greifbar nahe Ziel: Eure Generation wird im Kommunismus leben“, längst verloren gegangen war (nicht allerdings an die gesellschaftliche Idee als solche) und er durchaus, wie Kogler, empfand dass es „so, wie es war, […] nicht bleiben [konnte]“.
In den letzten Jahren der DDR, als die wirtschaftliche, geistige und gesamtgesellschaftliche Stagnation zwar offiziell immer noch in ständige Erfolgsmeldungen umgemünzt wurde, stimmten, wie bis zum Mauerbau schon einmal, erneut viele Menschen mit den Füßen ab, stellten Ausreisanträge, flohen in westdeutsche Botschaften oder gleich über Ungarn. Die Mehrheit der Bevölkerung allerdings, die – aus welchen Gründen auch immer – hier blieb, musste sich fast bis zum Schluss gegebenenfalls den Maßregelungen seitens der staatlichen Organe aussetzen. Etwa wenn anlässlich des Todes naher Angehöriger in Westdeutschland selbst (oder gerade?) treuen Genossen, Verantwortungs- und Funktionsträgern Reisegenehmigungen verwehrt wurden, und zwar – gesetzlich ausdrücklich so sanktioniert – ohne Angabe von Gründen. Renate Feyl zog die bittere Bilanz: „Wen der Staat in den feindlichen, finsteren Westen entließ, dem schenkte er großzügig die Freiheit; wer sich dagegen entschieden hatte, in den lichten Auen des sozialistischen Paradieses auszuharren, der wurde behindert und eingeengt.“
Das friedliche Ende des real existierenden Sozialismus jedenfalls, da kann der Autorin noch ein weiteres Mal zugestimmt werden, war auch für die Koglers – hier nicht als Familie der Hauptfigur begriffen, sondern als die Kreise in der DDR, für die Franz Kogler exemplarisch steht – durchaus ein guter Grund, eine Flasche Sekt zu öffnen und darauf zu trinken, „einem Trugbild der Geschichte so glimpflich entkommen zu sein“. Auch wenn mancher aus diesen Kreisen das in diesem Leben wohl nicht mehr zu erkennen, geschweige denn einzugestehen vermag.

Renate Feyl: Ausharren im Paradies, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1992, 455 Seiten, 22,90 Euro.