19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Ein virtuelles Gremium

von Bernhard Mankwald

Im Mittelpunkt der Berichterstattung über die Wahlen in den Vereinigten Staaten am 8.November steht die Frage, ob Hillary Clinton oder vielleicht doch Donald Trump die Nachfolge von Präsident Obama antreten wird. Gerade in dieser Personalfrage fällt aber am Wahltag allenfalls eine Vorentscheidung. Auf lokaler und regionaler Ebene sowie in den Einzelstaaten wird eine Vielzahl von Positionen besetzt; auf Bundesebene geht es um die Abgeordeten und ein Drittel der Senatoren des Kongresses sowie um einen sehr elitären Kreis von gerade einmal 538 Personen, der einige Wochen später die Chance hat, die Frage der Präsidentschaft mit absoluter Mehrheit zu entscheiden. Dazu haben diese Auserwählten genau einen Versuch – unter sehr ungünstigen Bedingungen.
Die Existenz des „Wahlmännerkollegiums“ hat sich gewiss schon bis nach Deutschland herumgesprochen. Dabei ist jedoch selten davon die Rede, dass dieses Gremium nie als Ganzes zusammentritt. Als Einheit existiert es also nur auf der Ebene der Vorstellungen – gewissermaßen in einer „virtuellen Realität“. In der materiellen Realität dagegen geben die „Electors“ ihre Stimmen in 51 getrennten Versammlungen in den Bundesstaaten und im Hauptstadtdistrikt ab. Die Ergebnisse werden an den Kongress weitergeleitet, bei dem dann das weitere Verfahren liegt.
Man vergleiche damit die Bundesversammlung in Deutschland, deren Mitglieder sich in ihrer Gesamtheit zu einem Plenum zusammenfinden. Ihr stehen zwei Wahlgänge zur Verfügung, um mit absoluter Mehrheit das neue Staatsoberhaupt zu ermitteln; im dritten genügt dann die einfache Mehrheit. Die katholische Kirche verfährt rigoros und schickt ihre höchsten Funktionäre so lange in Klausur, bis eine Zweidrittelmehrheit sich auf ein neues Oberhaupt geeinigt hat. Die verstreuten Gremien in den USA dagegen müssen sich auf Anhieb mit absoluter Mehrheit einigen – sonst geht das Recht zur Wahl an den Kongress über. In diesem Fall wird der neue Amtsinhaber nach einem sehr umständlichen Verfahren vom Repräsentantenhaus unter den drei bestplazierten Bewerbern gewählt, sein Stellvertreter vom Senat unter lediglich zwei Kandidaten. Der Hintergedanke bei dieser Regelung muss es gewesen sein, die Entscheidung möglichst oft den Abgeordneten vorzubehalten – mit dem weiteren Hintergedanken, sie ihnen derart zu erschweren, dass unterdessen der vom Senat auf unproblematischere Weise gewählte Vizepräsident zum Zuge kommt.
Zur Wahl durch den Kongress ist es seit 180 Jahren nicht mehr gekommen. Angesichts der Umstände ist dies eine enorme organisatorische Leistung, die wenig gewürdigt wird. Dazu gehört allerdings auch das rücksichtslose und bis heute nicht wesentlich modifizierte Prinzip, demjenigen alle Wahlmänner eines Einzelstaats zuzusprechen, der dort eine noch so knappe relative Mehrheit der Urstimmen erreicht. Auf diese Weise kam bisher fast immer die erforderliche Mehrheit im Electoral College zusammen –  auch wenn ihr gelegentlich wie bei der Wahl von George W. Bush im Jahr 2000 nur eine Minderheit der Wählerstimmen zugrunde lag.
Erstaunlich ist die Disziplin, mit der die Electors ihrer Parteilinie folgen. In etwa der Hälfte der Staaten müssen sie sich auf diese Vorgabe verpflichten oder können im Fall der Abweichung bestraft werden. Ob solche Strafbestimmungen sich aber mit der Bundesverfassung vereinbaren lassen, wurde noch nie ernsthaft auf die Probe gestellt, da sie bisher nicht angewandt wurden. Einzelne Abweichungen sind oft zu beobachten; dass John F. Kennedy bei seiner Wahl im Jahr 1960 gleich 15 Stimmen der Wahlmänner abhandenkamen, war allerdings eine Ausnahme. Bei einem knappen Wahlergebnis könnte ein solches Maß an Eigenwillen einen erfolgreichen Wahlgang auf dieser Ebene vereiteln – und eine weitere Kandidatur ins Spiel bringen.
Die Mittel, mit denen die fast immer geübte Disziplin erzielt wird, lassen sich am besten an den „Party Conventions“ studieren, auf denen die Kandidaten nominiert werden. Man muss sie sich wohl als eine Art gruppendynamischen Polit-Karneval vorstellen. Bei den Demokraten verlief das Treffen auch in diesem Jahr nach dem bewährten Muster: Zuerst präsentierten sich die einzelnen Delegationen, die zum größten Teil durch parteiinterne Vorwahlen in ihrem Stimmverhalten festgelegt sind; die Abstimmung über die Kandidatur war daher eher eine – wenn auch zeitraubende – Formalie. Es folgten Lobreden auf die erwählte Kandidatin von möglichst vielen angesehenen Vertretern der Partei, die diese zum Abschluss in ihrer Dankesrede erwiderte. Man trennte sich im allgemeinen Vorsatz, hinauszugehen und der Gegenpartei einen harten Wahlkampf zu liefern. So erwächst aus dem Partikularinteresse an der jeweils eigenen Kandidatur das gemeinsame Interesse der Gesamtpartei.
Bei den Republikanern dagegen fiel vor allem auf, wer alles nicht am Konvent teilnahm: zwei frühere Präsidenten namens Bush, die ehemaligen Kandidaten für dieses Amt McCain und Romney, die meisten unterlegenen Anwärter auf die Kandidatur und viele prominente Kongressmitglieder der Partei. Viele Kritiker distanzieren sich vom gewählten Kandidaten und versuchen so, die eigene Mehrheit im Kongress – und damit natürlich auch etwaige eigene Mandate – zu retten.
Ein überzeugender Sieg einer derart uneinigen Partei wäre erstaunlich; ein Präsident, dessen Beziehungen zu einem Großteil der eigenen Abgeordneten denkbar schlecht sind, hätte es sicher nicht leicht. Der Einfluss des Staatsoberhauptes auf die Gesetzgebung beruht ja im wesentlichen auf informellen Absprachen; ansonsten bleibt ihm sein Vetorecht, das mit genügender Mehrheit aber auch überstimmt werden kann.
Die unbestrittene Domäne des Präsidenten – oder vielleicht demnächst der Präsidentin – ist aber der Oberfehl über die Streitkräfte. Der antike politische Theoretiker Aristoteles hätte in diesem Amt wohl ein monarchisches Element der Staatsordnung gesehen. Die Amtszeit ist zwar auf vier Jahre beschränkt (bei Wiederwahl maximal acht Jahre), die Möglichkeit beliebig häufiger Wiederwahl wurde aber erst im Jahr 1951 abgeschafft. In beiden Häusern des Kongresses ist von solchen Beschränkungen jedoch nicht die Rede. Um ihre Mandate fürchten müssen daher nur diejenigen Inhaber, die nicht in ausgesprochenen Hochburgen der jeweiligen Partei kandidieren. Angesichts der Kosten für die diversen Wahlkämpfe kann man also im Repräsentantenhaus und vor allem im Senat ausgesprochen oligarchische Elemente dieser Staatsverfassung sehen.
Die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten verwenden ein hohes Maß an demokratischem Engagement auf das recht paradoxe Ziel, die Wahl eines quasimonarchischen Staatsoberhaupts ihrer Volksvertretung vorzuenthalten und statt dessen einer gleich elitären, aber wenigstens räumlich volksnäheren Körperschaft zu sichern. Bei etwas zeitgemäßeren Institutionen könnten sie mit gleichem Aufwand vermutlich mehr erreichen. Die Hindernisse für Verfassungsänderungen sind aber so groß, dass höchstens eine sehr unliebsame Überraschung bei der Wahl zu einer Änderung des Verfahrens führen dürfte.