19. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2016

Deutschland gegen Ende 2016

von Stephan Wohanka

„Die Frau is unmöglich als Regierungsmensch. Die hat nichts gemacht. Ja, Physikerin, von der Politik hat se keine Ahnung. Sie könn Käse kaufen, der soll zwei Monate halten. Der is im Kühlschrank schon nach einer Woche vergammelt, noch verpackt. Soll se sich doch mal holen.“ So Volkes Stimme kurz vor der Berliner Abgeordnetenhauswahl. Und eindeutig zu interpretieren – Merkel regiere nicht nur schlecht, sondern sei auch für die mangelnde Haltbarkeit von Käse verantwortlich. Erstere Behauptung ist völlig legitim; man kann Merkel politische Fortune absprechen, anderer politischer Meinung sein. Die zweite ist natürlich mehr als 25 Jahre nach der deutschen Einheit mehr als skurril. Zu vermuten ist, dass die Sprecherin obiger Worte eine frühere DDR-Bürgerin ist, denn hier wird ein Politikverständnis artikuliert und in die Jetztzeit gedehnt, welches in der DDR praktiziert wurde: Das Politbüro oder gar der Generalsekretär des ZK der SED hatten sich selber in die Pflicht genommen, für alles und jedes zu sorgen. Im Gegenzug „verzichtete“ die Bevölkerung auf grundlegende zivilgesellschaftliche Freiheiten und hielt es für selbstverständlich, Versorgungsmängel, Engpässe und so auch einen gammligen Käse der Führung anzulasten. Menschen, die derartiges heute noch äußern, sind immer noch nicht in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit angekommen; ihnen sind die repräsentative Demokratie und ihr Funktionieren fremd geblieben. Wo mögen mögliche Ursachen liegen?
Vielleicht darin, dass dieses „Sich-kümmern-von-oben“ paternalistisch, ja populistisch war und so nolens volens „Nähe zum Volke“ herstellte. Die Menschen fühlten sich von den Machthabern gegängelt und bevormundet, aber zugleich auch wahrgenommen und anerkannt. Diese Nähe war also nicht nur sozialistische Propaganda. Im Vergleich dazu scheinen die heutigen Regierenden weit weg zu sein und bedienen diese Art der Anerkennung nicht mehr. Namentlich Merkel – „Physikerin“ – gilt als kühl und berechnend. Von ihr ist keine Zuwendung zu erwarten. Nur einmal zeigte sie Gefühle – als es um die Flüchtlinge ging…
Vor ein paar Tagen in einem Berliner Theater. Ausverkauft. Alle wollen Navid Kermani – muss man ihn Blättchen-Lesern noch vorstellen? – hören. Eingangs der Veranstaltung wird erwähnt, was einige Zeit vorher durch die Medien ging: „Kermani for president!“ Hierzulande. Diese Vorstellung hatten jedenfalls einige Vertreter der linken Kulturszene. Es ist ein knappes Jahr her, dass sein Name erstmals genannt wurde. Nach seiner weitgespannten Rede als Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels machten zwei Sätze die Runde durch die Paulskirche: „Kermani müsste irgendwann Gaucks Nachfolger werden. Was für ein Zeichen wäre das.“ Politiker aus ebendiesem Spektrum griffen die Idee auf. Sogar Altkanzler Schröder soll begeistert sein. Ein deutsch-iranischer Intellektueller, ein gläubiger schiitischer Moslem sollte deutscher Bundespräsident werden – geht mehr? In einer in der Süddeutschen Zeitung laufenden – und so natürlich nicht repräsentativen – Abstimmung bringt es Kermani immerhin auf über 60 Prozent Zustimmung. Dieses Votum gewinnt aber an Gewicht, wenn man es mit der Wichtung anderer veritabler Kandidaten vergleicht: So kommt Norbert Lammert auf ein gutes Drittel Zustimmung, Wolfgang Schäuble will dagegen gar niemand, aber beinahe 90 Prozent sind gegen ihn, und auch Gregor Gysi kommt mit 60 Punkten nicht an Kermani vorbei.
Jedoch sagen einige, die Kermani schätzen, aber auch, dass es nach einem Jahr der nationalen Überforderung durch 900.000 arabisch-muslimische Flüchtlinge doch überzogen oder mindestens verfrüht wäre, einen Moslem ins Schloss Bellevue zu schicken.
Ich will nicht richten, ob Kermani ein passender Kandidat, gar ein guter Präsident wäre – ich denke eher nicht –; nein, mir macht zu schaffen, wie es um unser Land bestellt ist. Beide beschriebene Begebenheiten und ihre Hintergründe haben neben dem Faktischen einen hohen Symbolcharakter und markieren – so denke ich – mehr als nur ein simples Nebeneinander, mehr als nur einen Riss durch die Gesellschaft, sondern stehen für zwei politische Haltungen, ideelle Welten, die nichts mehr miteinander zu tun, haben, die kaum etwas verbindet: Da Menschen, die die Wiedervereinigung wohl nur kurzzeitig als Akt der Befreiung erlebten – hier Teile der kulturellen und politischen Elite, deren multikulturelles Credo, mehr noch, deren gesamter Habitus dem der Erstgenannten diametral entgegensteht. Letztere meinen, dass Kermanis religiöse Ausrichtung ein immenser Vorteil sei, wenn Integration und kulturelle Selbstveränderung zu den größten nationalen Aufgaben der nächsten Jahre zählen. Erstere wiederum reizt dieses „Multikulti“, die Vielfalt des „neuen“ Deutschland bis aufs Blut und führt zu heraus gebrüllter Wut „auf die da oben“. In einem Land zu leben, in dem ein „halb“-deutscher Muslim für das höchste Staatsamt gehandelt wird, befeuert diese Aggression nur noch. Da nützt es auch nichts, wenn Kermani als „Brückenbauer zwischen Islam und Christentum“, als „Versöhner zwischen den Kulturen“, gar als „moralische Instanz“ gilt.
Sollte er so stimmen, ist das ein ziemlich trostloser Befund. Wie damit umgehen? Ich habe keine Rezepte; als Chronist muss man – denke ich – sie auch nicht in jedem Falle haben… Nur noch etwas Symbolisches: Ich beende diesen Text am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit, begangen seit 1990. Diesmal in Dresden.