19. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2016

Bemerkungen

Matrosen und Könige

Es war schon eine Sternstunde, als Hilmar Thate 2008 beim Frühlingsfest des Friedrich-Wolf-Hauses in Lehnitz aus dem Text des Dichters „Kunst ist Waffe“ rezitierte. Er war links geblieben, auch wenn er 1980 in den Westen gegangen war. „Ich habe nicht die DDR verlassen, sondern das Politbüro. Die Riege der alten Männer an der Spitze der DDR hat mit ihrer kleinbürgerlichen Beschränktheit das Land ruiniert“, sagte er der Journalistin Bärbel Beuchler. Thate war noch Friedrich Wolfs Zeitgenosse, hatte in dessen Todesjahr 1953 im Berliner Rundfunk in seinem Hörspiel „Krassin rettet Italia“ gesprochen und am Maxim Gorki Theater seine „Matrosen von Cattaro“ gespielt. Den Matrosen Bartuscheck verkörperte Thate 1958 in dem DEFA-Film „Das Lied der Matrosen“ über die Novemberrevolution als seine erste große DEFA-Filmrolle, der viele folgten. Kurioserweise griff Regisseur Konrad Wolf den Bartuscheck 1961 in seinem unbekannt gebliebenen Gegenwartsfilm „Leute mit Flügeln“ auf, ließ die Rolle des gereiften Mannes von Erwin Geschonneck spielen, während Thate dessen Sohn verkörperte – also quasi seinen eigenen Sohn spielte. Die anspruchsvollste Rolle bei Konrad Wolf, dem Sohn des Dramatikers, war zweifellos der Rolf in Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“, in dem er überzeugend die Wandlung des Professorensohns zum Widerstandskämpfer gestaltete. Bei Konrad Wolf hatte Thate übrigens 1955 in einem „sozialistischen Heimatfilm“ mit dem Titel „Einmal ist keinmal“ zwischen Horst Drinda und Fritz Decho vor der Kamera debütiert.
Trotz der Erfolge bei Film und Fernsehen – die Titelrolle eines unkonventionellen LPG-Vorsitzenden in dem Mehrteiler „Daniel Druskat“ brachte ihm 1976 seinen zweiten Nationalpreis ein – war Thate ein Mann der Bühne. Seine produktivsten beiden Jahrzehnte erlebte er in den sechziger und siebziger Jahren am Berliner Ensemble und dem Deutschen Theater. Als Galy Gay in Brechts „Mann ist Mann“ und als „Richard III.“ wurde er jeweils als „Schauspieler des Jahres“ ausgezeichnet. Die Theaterkarriere setzte er ab 1980 in Westberlin und Wien fort, wo er auch häufig mit seiner Frau Angelica Domröse auftrat, beispielsweise in Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Die prägenden Regisseure, mit denen er jetzt zusammenarbeitete, waren Peter Zadek, George Tabori und Ingmar Bergman auf der Bühne, Rainer Werner Fassbinder und Thomas Brasch beim Film.
Vor der Kamera wollte Thate nur ausgewählte Charaktere übernehmen, beispielsweise die Titelrolle in Dieter Wedels „König von St. Pauli“ (1998). Das Angebot, einen „Tatort“-Kommissar zu spielen, lehnte er ab. Für den verbohrten Wachschützer in Andreas Kleinerts „Wege in die Nacht“ wurde Thate 1999 in Karlovy Vary als bester Schauspieler ausgezeichnet, ebenso in Jutta Brückners „Hitlerkantate“ 2005 in Batumi.
Nach seinem 80. Geburtstag zog sich Hilmar Thate aus der Öffentlichkeit zurück, mit Liebe von seiner Frau Angelica betreut. Am 14. September ist er mit 85 Jahren gestorben. Es bleibt sein Anspruch, dem Publikum immer wieder Anstöße, Antworten zu geben: „Wie sieht unser Zusammenleben aus, wie verhalten wir uns untereinander, wie können wir unser Leben verändern, es bewußter, also besser leben.“

F.-B. Habel

Nicht vergessen – Chelsea Manning

Es war sehr ruhig geworden um Whistleblowerin Chelsea Manning, ehemals Mike Manning. Zu 35 Jahren Haft in einem Militärgefängnis verurteilt, weil Mike Bilder über Kriegsverbrechen der USA im Irak weitergegeben hatte. Hohe moralische Ansprüche eines amerikanischen Menschen, über Befehle und politische Interessen seines Landes gestellt, wurden mit aller Härte bestraft. Human rights – ein Wort so gern bemüht von scheinheiligen Politikern, wenn es ihnen in den Kram passt – spielten da keine Rolle.
Mike Manning hatte vor seiner Verurteilung bekannt, dass er seinen Körper umwandeln wolle, er sei nun Chelsea. Man hat sie in ein Männergefängnis des Militärs gesteckt. Vielleicht habe ich zu viele amerikanische Filme über das Gefängniswesen in den USA gesehen, über die Brutalität, die auch unter den Gefangenen herrscht. Wie kann ein Mensch, der sich zur Frau erklärt und zugleich als „Verräter“ gebrandmarkt ist, in so einem Gefängnis überleben? Bereits 2012 hatte laut nd ein Berichterstatter der Vereinten Nationen Chelseas Haftbedingungen als Folter bezeichnet.
Nun ist klar, Chelsea geht es sehr schlecht. Sie hat einen Selbstmordversuch begangen. Es drohen aufgrund dieses Selbstmordversuches neue Strafen wie unbefristete Einzelhaft sowie neun zusätzliche Haftjahre. Widerstand gegen Gefängnispersonal wird ihr vorgeworfen und der Besitz verbotener Gegenstände. In diesen Tagen findet eine Anhörung bezüglich dieser Vorwürfe statt – ohne ihren Anwalt. Man mag das alles nicht weiterdenken. Es ist ein Alptraum und zu befürchten ist, dass sich schon bald wohl trotz der Bemühungen von Solidaritätsgruppen wieder Schweigen über ihr Schicksal senken wird. Dennoch gibt es wenigstens eine positive Veränderung. Nach einem fünftägigen Hungerstreik soll ihr ein operativer Eingriff zur Geschlechtsangleichung ermöglicht werden.
Das Herstellen von Öffentlichkeit über Chelsea Mannings Behandlung im Militärgefängnis bleibt lebenswichtig.

mvh

Alte Charité

von Peter Hacks

So viele Schwestern hatte ich noch nie.
Ich bin im Bett und außer Leibsgefahr.
In meinem Bauchfleisch steckt ein Stück Charpie.
Der Arzt stellt gerne seine Krankheit dar.

Durch hohe Fenster blick ich in den Westen.
Von Osten blick ich und von oben her:
Aus jenem üblen von den deutschen Resten
In den, worin mir noch viel übler wär.

Novemberbäume stehn besonnt und kahl,
Es sind die gleichen hüben oder drüben.
Natur kann weder retten noch betrüben.
Den Möwen ist die Mauer ganz egal.
Aus fernem Dunst taucht rötlich eine Eule,
Es ist die Nike auf der Siegessäule.

Peter Hacks, Hundert Gedichte, © 2004 Eulenspiegel Verlag Berlin.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

 

Chagalls Heuwagen

Ambroise Vollard (1865–1939), bedeutender Kunsthändler, Galerist und Autor in Paris, lässt den „Malerpoeten“ Marc Chagall (1887–1985), zur Zeit wohnhaft in Berlin, wissen, dass er ihn kennen lernen möchte. Auch wolle er ihn für Illustrationen zu Gogols „Tote Seelen“ gewinnen. Marc Chagall fährt am 1. September 1923 nach Frankreich. Die Begegnung beider trägt Früchte. – Der Künstler beginnt mit den Radierungen zu Gogols Roman.
Vollard, der Verleger und Anreger, bringt La Fontaines Fabeln ins Gespräch. Diese in heiterer Ironie verfassten kurzen Texte, zumeist mit moralisierendem Schlusspunkt versehen, wecken aufs Neue des Malers Interesse für Tiere und Pflanzen. Hinzu kommt seine Freude an der französischen Landschaft, die Anteilnahme am Leben der Bauern, an ihrer Arbeit und dem dörflichen Treiben.
Chagall reist. Nach der Normandie, in die Bretagne und die Auvergne. Vornehmlich in Gouache-Malerei finden seine Eindrücke ihren Niederschlag. Das Farbenspiel wird zum Farbenrausch. Überschwänglich, „fast zügellos“, folgen die Bilder aufeinander, und sie erlauben zudem Einblicke in Chagalls damalige Empfindungswelt. Schreibt er doch: „Kunst scheint mir vor allem ein Seelenzustand zu sein.“
Durch diese lebensfrohen Tage zieht der Heuwagen. Zwei bunte Zugtiere im Gespann, hoch beladen, geschickt gestapelt – welches eine Kunst ist! Obenauf stehet ein Mann, der das Stapeln recht gut kann. Im Hintergrund wird bereits eine weitere Hocke aus frischem Heu zusammen geschoben, in Kürze herangeschleppt und in die Höhe gegabelt. Nun stellt sich die Frage, wie gelangt der Oberhochstapler von dort oben wieder zu Boden, ohne das Fuder ins Wanken zu bringen?
Dessen ungeachtet strahlt das Motiv in voller Leuchtkraft. Am wolkenreichen Himmel überbieten sich Lila und Weiß. Die Landschaft liegt im Licht vieler Farben. Man spürt die Mittagshitze und den leichten Wind, hört Zuruf und fernes Donnergrollen. Das Heu duftet nach Aromen der Wiesenkräuter. Man möchte sich hineinlegen, in die Sonne blinzeln, Pans Flötengedudel lauschen; und wird sich fühlen wie Gott in Frankreich.
Marc Chagall schreibt rückblickend über diese Jahre: „Das war die glücklichste Periode meines Lebens.“

Renate Hoffmann

Marc Chagall: Der Heuwagen, um 1925, Öl, Gouache auf Papier auf Leinwand. 50,8 x 66 cm. In Privatbesitz.

Aus anderen Quellen

„2006 begannen Bemühungen, die Arbeiten der UNO, einschließlich des Sicherheitsrates zu reformieren. Auch, um Transparenz herzustellen“, schreibt Petra Erler in ihrer Rezension des Buches „Perilious Interventions – The Security Council and the Politics of Chaos“ („Hochriskante Interventionen – der Sicherheitsrat und die Politik des Chaos“) des langjährigen indischen Karrierediplomaten Hardeep Singh Puri und schlägt einen ernüchternden Bogen in die Gegenwart: „Zehn Jahre später ist der Sicherheitsrat nach wie vor ein intransparentes Gremium.“ Das Buch ist das Werk eines Insiders – Puri war bei der UNO tätig, von 2011 bis 2012 auch direkt im Sicherheitsrat, als Indien dort nichtständiges Mitglied war – und gestattet mehr als nur einen Blick hinter die Kulissen. Nach Puris Auffassung war zum Beispiel „die Autorisierung von Luftschlägen gegen Libyen durch den UN-Sicherheitsrat am 17. März 2011 ein großer strategischer Fehler“.
Petra Erler: Im Gemauschel des UN-Sicherheitsrates fehlten gemeinsame EU-Positionen zu Krieg und Frieden, EurActiv, 14.09.2016. Zum Volltext hier klicken.