19. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2016

Bemerkungen

Frau Petrys Insel-Plan

Sie gibt gern die schnippische Naive. Auf ihren Fotos scheint sie gerade aus dem jüngsten Neckermann-Katalog mit der Freizeitmode für die deutsche Hausfrau entlaufen. Ähnlich der Interviewstil: Gern antwortet sie auf Fragen, die ihr nicht gestellt wurden. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Strategie nur dummfrech ist oder ob bewusstes Kalkül dahintersteckt. Die Medien-Rezeptur der AfD-Frontfrau Frauke Petry ist jedenfalls in ihrer Schlichtheit kaum zu toppen. Jüngstes Beispiel ist ein längeres Interview, das Jochen Gaugele und Philipp Neumann für die Ostthüringer Zeitung (OTZ) mit ihr führten. Zum Auftakt nach „irritierenden Tönen“ in Sachen Waffengewalt gegen Flüchtlinge und AfD-Gaulands Äußerungen zu Jeromé Boateng befragt, schwadronierte die Dame erst einmal über die Euro-Krise und eine „zukunftsfähige Familien- und Energiepolitik“. Dann darf sie noch Journalisten-Kollegen („Lügenpresse“ skandieren die Pegida-Schreier, von deren Anführern sie natürlich immer „Abstand gehalten“ hat) inakzeptabler Interviewpraktiken bezichtigen, die „wohl“ auf „skandalisierbare Aussagen“ abgehoben hätten. Von der OTZ muss sie solches nicht befürchten. In besagtem Interview bekommt sie hinlänglich Gelegenheit, ihren Plan zur Internierung von „illegalen Asylbewerbern auf Inseln“ darzustellen. Natürlich unter „Schirmherrschaft der Vereinten Nationen auf mehrere(n) Inseln außerhalb der Europäischen Union“. Petry denkt sehr mitfühlend: Frauen und Familien will sie auf ihren Deportationsinseln vor „allein reisenden Männern“ schützen. Die Worte Stacheldraht und Lager benutzt sie nicht. Welche Inseln sie meint, sagt sie auch nicht: „Konkrete Namen sind aktuell irrelevant, solange sich Merkel weigert, unsere eigenen Grenzen überhaupt zu schließen.“ Vielleicht hat sie den Namen der Lieblingsdeportationsinsel der deutschen Rechten auch nur vergessen. Wir können helfen: Madagaskar heißt dieser Sehnsuchtsort deutscher Deportierer. Dorthin wollten die schon einmal missliebige Mitmenschen verfrachten. Damals waren es die Juden, auch die wurden von der „Mehrheitsgesellschaft“ als unerwünschte Zuwanderer betrachtet. Das nannte sich „Madagaskar-Plan“. Das Ende ist bekannt. Eine Antisemitin ist Frau Petry aber nicht. Sagt sie selbst.
Den OTZ-Reportern empfehle ich Nachhilfestunden in jüngerer Geschichte. Vielleicht merken sie dann, wem sie eine Plattform verschafften. Aber möglicherweise wissen sie, was sie tun. Damit stünden sie nun wieder in einer erfolgreichen Traditionslinie deutscher Pressegeschichte. In der des Hugenberg-Konzerns.

Günter Hayn

Die Müll-Ecke

Das unter dem schönen Namen „Kalaschnikow“ – klingt wie eine Melange der Sympathieträger „Kalinka“ und „Lunikoff“ – weltweit verbreitete Schnellfeuergewehr wird jetzt auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo als Plastik-Replik im Souvenirshop an Reisende verhökert. Die Tageszeitung neues deutschland erregte sich in der vergangenen Woche darüber zu Recht. Der Autor benannte auch die Hauptmitglieder des „Kalaschnikow“-Fanclubs: Die Sturmgewehre „werden von Polizisten wie Terroristen und anderen Kriminellen gefürchtet und geschätzt.“ Nun gehört Polizisten-bashing in linken Kreisen oftmals zum guten Ton, aber hier übertreibt das Blatt wohl doch ein wenig …

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Merkwürdige Sitten reißen im östlichen Thüringen ein: Bereits zum vierten Male (!) fand am ersten Septemberwochenende im Rathaus des Städtchens Gefell ein „Baby- und Kindersachsenbasar“ statt. So kündigte es jedenfalls die Ostthüringer Zeitung an. Nun könnte man meinen, das wäre ein Tippfehler in der Überschrift des bebilderten Freizeittipps gewesen. Mitnichten! Auch im Text wird auf den Kindersachsenbasar aufmerksam gemacht. Schwangere erhielten übrigens eine halbe Stunde vor der offiziellen Eröffnung Zutritt. Ein Kindersachse wäre schließlich doch ein zu possierlicher Spielkamerad für den lieben Nachwuchs.

G.H.

Aus dem Mühlschen Hinterhalt

Lust und Liebe, Frust und Hiebe oder der Geruch von Fräulein Tückmantel sind die Themen von Karl Otto Mühls neuer Satirensammlung. Der Altmeister aus Wuppertal lässt uns der Erfahrungen teilhaftig werden, die ein Literat macht, der die „Wasserhauptverwaltung“ in einem günstigen Licht erscheinen lassen soll, dem aber nicht deutlich gesagt wurde, „zu welchem Ereignis das Werk des Schriftstellers benötigt würde, und auch nicht, was darin am besten gesagt oder wenigstens versteckt zum Ausdruck gebracht werden sollte“ (in der Satire „Wassersuche“). Mühl beschreibt die Höhen und die Ebenen künstlerischen Schaffens, er „kennt“ einen Dichter „und weiß daher, wie diese Prozesse in ihm ablaufen“ („Der Künstler und sein Werk“). Ja, er thematisiert mit reichlich Ironie „das erschreckende Unverständnis, das uns Schriftstellern immer wieder bei Rezensenten begegnet“ („Damenbauch“).
Vor allem aber lässt der im Schicksalsjahr 1923 geborene Dramatiker, Romanautor, Aphoristiker und Geschichtenerzähler, der sich gern selbst und daher zu Recht auch andere auf die Schippe nimmt, den Leser an den Erfahrungen eines Seniors teilhaben, etwa denen mit altersgerechter Ernährung.
Insgesamt umfasst das von Torsten Krug sorgfältig lektorierte und von Barbara Meynen nicht minder sorgsam korrigierte Bändchen 23 Texte, und wer vorn zu lesen anfängt, stellt schnell fest, dass sich die Storys von Seite zu Seite steigern. Manches erinnert, wie der „Mann ohne Kopf“, bei dem es einen typisch Mühlschen Seitenhieb auf „Schönheitschirurgen mit Galgenvogelgesichtern“ gibt, an Kurt Kusenberg.
Herrlich die Satire „Es naht das Meer, es nah’n die Geusen“, in der die Übernahme einer kleinen Fabrik durch niederländische Heuschrecken abgehandelt wird, übrigens der einzige Text, in dem Mühl auch politische Zeitkritik betreibt: Die Holländer erwähnen „nie den Krieg, der vor mehr als fünfzehn Jahren zu Ende gegangen war. Da sollte es ja zu Übergriffen von Seiten der Deutschen gekommen sein, ja, zu Deportationen von Juden. Mit Recht erwähnten die Gäste das nie. War ja auch richtig, wir waren es schließlich nicht gewesen, das waren die anderen, die vor uns, sagten viele, und da auch nur die echten Nazis“.
Das hat jeder schon erlebt, aber kaum einer so treffend zu Papier gebracht: „Lauter freundliche Menschen“ lernt man an Hotlines kennen. Kostprobe gefällig? „Die Dame empfing mich am Telefon wie einen alten, privilegierten Freund“. Nur helfen tut einem so schnell niemand. Was „Eduard Zorn“ dem Präsidenten der Bundesärztekammer schreibt, soll hier nur angedeutet werden, geht es doch um die zahlungspflichtigen Zusatzangebote, mit denen der sowieso schon schockierte Patient zur Ader gelassen wird („Designer-Füllung“).
Der Rezensent – um zum Schluss zu kommen – hat Mühls Geschichten in einer Situation gelesen, in der ihn was auch immer gewaltig auf die Palme und die Geistesblitze, feinen Formulierungen und witzigen Einfälle wieder heruntergebracht haben. Seniorengerechtes Lesen: Danke, Karl Otto!

Karl Otto Mühl: Aus dem Hinterhalt. Satiren. Brockmeyer-Verlag, Bochum 2016,124 S., 11,90 Euro.

Matthias Dohmen

Medien-Mosaik

Jonas Rothländer ist ein Regie-Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Mit seinem ersten langen Film „Fado“ hat er Glück. Er bekam in diesem Jahr Preise auf Festivals in Potsdam und Berlin. Das Beziehungsdrama hat Tempo und bietet keine schnellen Schlüsse an: Der Held leidet an Realitätsverlust. Es geht um ein Paar, den Berliner Krankenhausarzt Fabian (Golo Euler) und die Architektin Doro (Luise Heyer). Nach ihrer Trennung ging sie nach Lissabon. Als er mit seinem Beruf nicht mehr klarkommt, folgt Fabian ihr und will versuchen, die Beziehung wieder zu kitten. Er beginnt, in Lissabon als Armenarzt zu arbeiten.
Rothländer gibt dem Film eine eigene Atmosphäre, die sich zuspitzt, als Fabian in rasender Eifersucht Wahnvorstellungen hat. Die Hauptdarsteller tragen den Film ganz und gar. Liebhaber komplizierter menschlicher Bindungen kommen auf ihre Kosten – die von Fado-Musik allerdings weniger.

Fado. Regie Jonas Rothländer, Verleih missingFILMS, ab 1. September in ausgewählten Kinos.

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Gesine Lötzsch und Petra Pau waren im schwierigen 15. Deutschen Bundestag ab 2002 die einzigen Vertreter ihrer Partei, der damaligen PDS. Sie wurden nämlich direkt gewählt, während ihre Partei unter der 5-Prozent-Hürde blieb. Damals erhielten die Abgeordneten am Morgen des 19. Dezember ganze 600 Seiten eines überarbeiteten Gesetzestextes, die bis zur am gleichen Tag geplanten Abstimmung niemand gelesen haben konnte. Petra Pau beantragte, am darauffolgenden Montag noch einmal zusammenzutreten, nachdem am Wochenende alles studiert worden wäre. „Gottlose Type!“, rief ihr daraufhin Peter Ramsauer von der CDU/CSU angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes zu. Niemand aus den anderen Parteien folgte dem kommunistisch verseuchten Vorschlag, so dass das Gesetz schnell verabschiedet wurde. „Somit trat ein Gesetz eilends in Kraft, das alsbald Millionen Bürgerinnen und Bürger in Armut treiben und deutsche Sozialgerichte hoffnungslos überlasten sollte. Im Volksmund wird es ‚Hartz IV‘ genannt.“ So schreibt die gelegentliche Blättchen-Autorin Petra Pau, inzwischen Vizepräsidentin des Bundestages, in ihren „unfrisierten Erinnerungen“. Das schmale Bändchen versammelt Anekdoten, die in der besten Tradition dieser literarischen Gattung stehen, denn sie bauen nicht nur auf den Witz, sondern auf das Nachdenken über eine bestimmte gesellschaftliche oder auch rein menschliche Situation. Diese Erinnerungen nannte Pau sehr treffend „Gottlose Type“. Ob sie sich dafür bei Ramsauer bedankt hat, ist nicht überliefert.

Petra Pau: Gottlose Type. Eulenspiegel-Verlag, Berlin 2015, 144 S. mit Fotos, 9,99 Euro.

bebe

Aus anderen Quellen

„Deutschland ist ein widerwilliger, zugleich unsensibler und unfähiger Hegemon“, meint der Philosoph Jürgen Habermas, „der das gestörte europäische Machtgleichgewicht zugleich nutzt und verleugnet. Das weckt Ressentiments insbesondere in den Ländern der Euro-Zone. Wie muss sich ein Spanier, Portugiese oder Grieche fühlen, der im Zuge einer vom Europäischen Rat beschlossenen Sparpolitik seinen Arbeitsplatz verloren hat? Er kann die deutschen Regierungsmitglieder, die diese Politik in Brüssel durchgesetzt haben, nicht belangen. Denn er kann sie weder wählen noch abwählen. Stattdessen konnte er während der Griechenlandkrise lesen, dass dieselben Politiker eine Mitverantwortung für die sozial desaströsen Folgen, die sie doch mit solchen Sparprogrammen billigend in Kauf genommen hatten, entrüstet ablehnten. Solange diese undemokratische Fehlkonstruktion nicht abgeschafft wird, darf man sich über antieuropäische Stimmungsmache nicht wundern.“
Jürgen Habermas: Die Spieler treten ab, Die Zeit (online), 16.7.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„Krisen markieren potenzielle Wendepunkte einer Entwicklung, deren weitere Richtung durch Handlungsentscheidungen politisch verantwortlich handelnder Akteure herbeigeführt oder beeinflusst wird“, schreibt Hans-Joachim Giessmann und fährt fort: „Krisenprävention zielt darauf ab, die ihnen zugrundeliegenden Konflikte gewaltfrei zu bearbeiten bzw. die Rahmenbedingungen friedlicher Zusammenarbeit zu verbessern. Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik besitzt dieses Ziel bekanntlich Verfassungsrang.“ Als für Deuschlands internationales Engagement besonders geeignete Mittel betrachtet der Autor „vor allem Verhandlungsunterstützung, Hilfen zum demokratischen Staatsaufbau, zur Entwicklung föderaler Strukturen, zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit, zur Entwicklung eines demokratisch kontrollierten Sicherheitssektors sowie zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Mitwirkung in Prozessen der Nachkriegskonsolidierung und gesellschaftspolitischen Stabilisierung“.
Hans-Joachim Giessmann: Prioritäten, Voraussetzungen und Gestaltungsansätze erfolgversprechender Krisenprävention, PEACE LAB 2016, 16.8.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„Die russische Militärdoktrin vom Dezember 2014“, vermerkt Wulf Lapins, „zählt zu den ‚grundlegenden Aufgaben der Streitkräfte‘ auch die ‚Gewährleistung der nationalen Interessen in der Arktis‘. Im selben Monat wurde das Strategische Kommando Nord mit Befehl über mindestens sieben Brigaden und Stabsitz in Seweromorsk (geschlossene Stadt), 20 Kilometer vom Stützpunkt der Nordflotte in Murmansk errichtet. Ein halbes Jahr später, am 26. Juli 2015, dem Tag der russischen Kriegsmarine, unterzeichnete Präsident Wladimir Putin in Baltijsk/Exklave Kaliningrad öffentlichkeitswirksam die neue Marinedoktrin. Die Schwerpunkte der Seepolitik liegen auf der Präsenz im Atlantik und in der Arktis. Vizepremier Dimitrij Rogosin zufolge sind bis 2020 vier Milliarden Euro für den Bau ziviler und militärischer Infrastrukturobjekte in der Arktis geplant.“
Wulf Lapins: Ein Lied von schmelzendem Eis und Feuer. Wie Russland den Rohstoffwettlauf in der Arktis mit militärischer Infrastruktur gewinnen will, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 3.8.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Definitionen des Darknets reichen von: alles, was nicht mit Google auffindbar ist – so auch verschlüsselte Firmennetzwerke – bis zu Tor, einem Anonymisierungsnetzwerk“, erläutert Jan Girlich, einer der Sprecher des Chaos Computer Clubs. Auf die Frage, wie die Hacker Community das Darknet sehe, antwortet er: „Es wird als ein Bestandteil der Demokratie verstanden. Wir müssen solche Mittel in der Welt zur Verfügung haben, um in Notfällen kommunizieren zu können. […] Das Darknet ist wie ein Küchenmesser – in 98 Prozent der Fälle wird damit kein Schaden angerichtet.“
Jan Girlich: „Das Darknet ist wie ein Küchenmesser“, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 28.7.2016. Zum Volltext hier klicken.