19. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2016

Ängste, Parteienkonkurrenz und die AfD

von Waldemar Landsberger

Die Versicherung „R+V“ hat vor wenigen Tagen eine Studie über „die Ängste der Deutschen“ veröffentlicht. Warum, ist nicht abschließend zu beantworten; an der Spitze rangieren ausschließlich gesellschaftliche Probleme, gegen die es keine Versicherung gibt, und zwar in Ost und West in völliger Einmütigkeit: auf Platz 1 „Terrorismus“, Platz 2 „Spannungen durch Zuzug von Ausländern“, Platz 3 „Politischer Extremismus“, Platz 4 „Überforderung von Behörden/ Bürgern durch Asylbewerber“ und Platz 6 „Überforderung der Politiker“. Die ausgewiesenen Prozentzahlen liegen nahezu ausnahmslos bei zwei Dritteln.
Nimmt man den üblichen „linken“ Jargon, der nur zu oft mit Eifer das Wort „Rassismus“ benutzt, auch wenn es gar nicht um „Rassen“, sondern um Religion geht, etwa bei Moslems, so sind zwei Drittel der Deutschen „Rassisten“. Eine solche Sichtweise aber ist völlig abwegig. Vielmehr sollte man die Befunde ernst nehmen, um die Lage im Land zu verstehen. Die Pressemitteilung über die Studie beginnt denn auch so: „Alarmierende Nachrichten über Terroranschläge und gewaltbereite Extremisten, harte Auseinandersetzungen über die Flüchtlingskrise und die Einwanderungspolitik: Die aktuellen politischen Themen treiben die Sorgen der Deutschen auf Spitzenwerte“. Das bedeutet, die Ängste der Menschen vor terroristischer Gewalt speisen sich aus den Nachrichten aus Frankreich, Belgien, Istanbul und dem Nahen Osten, nicht aus Propaganda, die irgendwer hierzulande macht. Das betrifft auch die Sorgen angesichts des Zuzugs von Ausländern und der Überforderung im Lande; viele Menschen reflektieren diese als ihre Alltagserfahrungen, trotz aller Sonntagsreden der Politiker, die von den Befragten wiederum für überfordert und damit unfähig zu sachgerechtem Handeln gehalten werden.
Es ist dies der Hintergrund, vor dem die „Alternative für Deutschland“ monatelang bei Umfragen um zwölf, zum Teil bis 15 Prozent bundesweit lag, auf Landesebene oft noch höher. Sie hat diesen Hintergrund nicht geschaffen, sondern ist dessen politischer Ausdruck; sie passt scheinbar am besten zu den Ängsten, die regierenden Politiker aller anderen Parteien gehören ja zu den „überforderten“. Ob die AfD-Politiker aber nicht-überfordert sind, müssen sie nun praktisch beweisen. Vor allem in den Landtagen, in die sie einzogen. Der Trend bekam nun eine Delle wegen der Auseinandersetzungen in der Landtagsfraktion Baden-Württemberg. Politiker der konkurrierenden Parteien sahen laut jubelnd den Anfang vom Ende, die entsprechenden Medien frohlockten: Die zerlegen sich!
Betrachtet man die Vorgänge jedoch in aller Sachlichkeit, wie der Biologe unter dem Mikroskop ein seziertes Insekt, zeigt sich ein etwas differenzierteres Bild. Zunächst einmal wollen die Regierenden und die anderen Parteien jede neue Parteienkonkurrenz möglichst in der Wiege ersticken. Das geht am besten auf der Ebene symbolischer Chiffren, die zu den Tabus gehören, die von der breiten Mehrheit der Gesellschaft geteilt werden. Das sind „Mauer und Stacheldraht“, „Unrechtsstaat DDR“, Stasi und „Kommunismus“ gegen links und alles, was zur offenen NS-Tradition gehört, gegen rechts, dazu Antisemitismus, der gern auch gegen links eingesetzt wird.
Erinnern wir uns an die Anfangszeit der Linken. Sie hatte es geschafft, in den niedersächsischen Landtag zu kommen. Dann durchsuchten die Medien die Liste der Gewählten und fanden eine schlichte Frau, die von der DKP kam und bereit war, stolz in ihrer neuen Rolle ein Interview zu geben. Auf entsprechende Fragen hin erklärte sie die Mauer zu einem historisch erforderlichen Schritt, woraufhin eine Welle der Empörung durch das Land ging, in der neuen Linkspartei würden sich Anhänger von „Mauer und Stacheldraht“ verbergen, dies stünde für die ganze Partei. Die Linke, die eigentlich Frieden und Kampf gegen Hartz IV auf dem Zettel hatte, musste unerquickliche Rückzugsgefechte führen, die nicht zu gewinnen waren, und am Ende musste die unglückselige Person, die über keine systematische politische Bildung verfügte, aus der Fraktion ausscheiden.
Bereits hier wird das Problem einer neuen Partei deutlich: aus dem jeweiligen politischen Feld strömen Personen in die Partei, die es entweder schon in ein, zwei oder drei anderen versucht hatten, ohne politisch „etwas zu werden“, oder Frustrierte, die noch nie eine politische Heimat hatten, und sie hier endlich zu finden hoffen. Eine neue Partei ist offen für jede Art von Karrieristen, obskuren Welterlösern und Gesundbetern, die meinen, den Stein der Weisen in der Tasche zu haben, um den sie endlich eine Gemeinde scharen möchten. In der Linken hatte der Prozess vom Zusammengehen von PDS und WASG 2005 bis zur faktischen Konsolidierung der Partei ab 2012 etwa sieben Jahre gedauert. Zwischendurch hatten die Medien und die konkurrierenden Parteien noch eine Parteivorsitzende zerstört, weil sie ein paar unbedachte Worte über den Kommunismus geäußert hatte.
Nun also Wolfgang Gedeon von der AfD in Baden-Württemberg. Laut Wikipedia war der Mann ursprünglich Katholik, später Maoist. Beides Lehren, die von Bekehrung und Glaubenseifer leben. Danach brach er mit Mao und wurde glaubenslos. Sein Berufsleben hat er als praktischer Arzt verbracht. 2005 gab er die Praxis auf, um ein Werk zur Rettung der Welt oder zumindest des Abendlandes zu schreiben: „Christlich-europäische Leitkultur. Die Herausforderung Europas durch Säkularismus, Zionismus und Islam“. Das Opus erschien 2009 in einem Kleinverlag und fand keine Beachtung.
Hier ist eine Anmerkung zu machen, die von grundsätzlicher Bedeutung ist: Linke Theoriebildung kommt von der abendländischen Philosophie her; nach Marx gibt es eine Verzweigung der Richtungen, die nur noch mit den verschiedenen christlichen Theologien vergleichbar ist, die jedoch dazu führt, dass all die linken Autoren, die heute zu Hause handgeschnitzte Texte über das ultimative Ende des Kapitalismus verfertigen, immer aus einem riesigen, humanistisch ausgerichteten Fundus schöpfen können. Auch dann, wenn ihre eigenen Texte auf weit niedrigerem Niveau verbleiben. Rechte Theoriebildung ist wesentlich schwerer zu machen. Im deutschen Schrifttum zu suchen, führt leicht zu obskuren Quellen aus der Nazi-Zeit oder eines älteren Antisemitismus. So hat ein handgeschnitzter Text von rechts leicht absurde Argumentationsfiguren zur Folge, die den Horizont des Grundgesetzes verlassen. Auf dieses sowie die Traditionen von Konservatismus und Liberalismus hat sich die AfD jedoch auf ihrem Programmparteitag verständigt.
Der Pensionär Gedeon hatte sich am Gründungsprozess der AfD in Süddeutschland beteiligt, kam auf die Kandidatenliste und rückte in den Landtag ein. Danach begann man sich mit den Abgeordneten zu befassen, der Blick fiel auf Gedeon und seine Schriften. Im März war die Landtagswahl, im Juni, nach dem Suchen, erschien der erste Text zu Gedeons Schriften, auf der Webseite „netz-gegen-nazis“, das von der „Amadeu-Antonio-Stiftung“ betrieben wird. Die nachfolgenden Publikationen bezogen sich auf diesen Text. Der zweite Leser war dann Armin Pfahl-Traugber, der früher beim Verfassungsschutz gearbeitet hat, jetzt Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung ist und sich sein Leben lang mit Rechtsextremismus befasst hat. Der Befund „Antisemitismus“ ist offensichtlich zutreffend. Allerdings ist das in den Medien benutzte Wort „Äußerungen“ irreführend; Gedeon hatte sich nicht gestern geäußert, sondern es ging um Texte von vor sieben Jahren, die aus aktuellem Anlass hervorgeholt wurden.
Die nun folgende Krise in der AfD ist hausgemacht: Gedeon zeigte sich uneinsichtig, ein Teil der Landtagsfraktion wollte ihn nicht ausschließen, Parteivorsitzende Petry mischte sich in die Fraktionsdinge ein, obwohl doch der Co-Vorsitzende der Partei Meuthen der Fraktionsvorsitzende ist. Der will sicherstellen, dass die Partei ein bürgerliches Gesicht und keinen Nazi-Geruch hat. Doch die Fraktion spaltete sich, der Streit durchwabert die ganze Partei. Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt meinte, die beiden hätten „das kleine Einmaleins der Politik“ noch nicht verinnerlicht. Wenn das anhält, wird es nichts mit dem großen.
Der Spiegel-Autor Jan Fleischhauer (No. 27/2016) nutzte übrigens auch diese Gelegenheit zu der Forderung, nun endlich müssten auch die „Antisemiten“ in der Linkspartei bekämpft werden.