19. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2016

Bemerkungen

Presse, unabhängige

Eine unabhängige Presse sei, so ist immer noch immer mal wieder zu hören, ein hohes Gut, ja nachgerade eine condicio sine qua non jeder wirklichen Demokratie.
Dem ist auch schon widersprochen worden.
Zum Beispiel: „So etwas gibt es bis zum heutigen Tage nicht in der Weltgeschichte, auch nicht in Amerika: eine unabhängige Presse. Sie wissen das, und ich weiß das. Es gibt hier nicht einen unter Ihnen, der es wagt, seine ehrliche Meinung zu schreiben. Und wenn er es täte, wüsste er vorher bereits, dass sie niemals im Druck erschiene. Ich werde wöchentlich dafür bezahlt, dass ich meine ehrliche Meinung aus dem Blatt, mit dem ich verbunden bin, heraushalte. Andere von Ihnen erhalten ähnliche Bezahlung für ähnliche Dinge, und wenn Sie so verrückt wären, Ihre ehrliche Meinung zu schreiben, würden Sie umgehend auf der Straße landen, um sich einen neuen Job zu suchen. Wenn ich mir erlaubte, meine ehrliche Meinung in einer der Papierausgaben erscheinen zu lassen, dann würde ich binnen 24 Stunden meine Beschäftigung verlieren. Das Geschäft der Journalisten ist, die Wahrheit zu zerstören, schlankweg zu lügen, die Wahrheit zu pervertieren, sie zu morden, zu Füßen des Mammons zu legen und sein Land und die menschliche Rasse zu verkaufen zum Zweck des täglichen Broterwerbs. Sie wissen das, und ich weiß das, also was soll das verrückte Lobreden auf eine freie Presse? Wir sind Werkzeuge und Vasallen von reichen Männern hinter der Szene. Wir sind Marionetten. Sie ziehen die Strippen, und wir tanzen an den Strippen. Unsere Talente, unsere Möglichkeiten und unsere Leben stehen allesamt im Eigentum anderer Männer. Wir sind intellektuelle Prostituierte.“
Sagte John Swinton. Früherer Hauptleitartikler der New York Times. Im Jahre 1880.
Wie meint doch der Volksmund so trefflich?
„Es ändert sich alles, wie es war!“

Alfons Markuske

Skandal um ein Buch 1927: „Wider den Gebärzwang!“

Unter diesem Titel erschien 1927 ein Buch, das in der Weimarer Republik vier Auflagen erlebte – und aus zwei Gründen heftig umstritten war. Darin wurde Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert, wenn die betroffenen Familien sich aus sozialen Gründen gegen einen Kinderwunsch entscheiden mussten. Im Vorwort wird deshalb betont:
„Kein Mensch ist verpflichtet, noch kann er dazu gezwungen werden, mehr Kinder in die Welt zu setzen, als er billigerweise ohne Gefährdung des eigenen Unterhalts zu gesunden, sozial und kulturell wertvollen Menschen aufzuziehen imstande ist. Wohl aber hat jedes werktätige Ehepaar nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, jeden ungewollten Kinderzuwachs, der seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage unerträglich zu gestalten droht, bewusst entgegenzuwirken. Weder die Staatsgewalt, noch die Kirche, noch sonst wer auch immer hat das Recht, ihm deshalb zu nahe zu treten.“
Außerdem wurde von höchsten Zensurstellen bestätigt, dass die Abbildungen von Geschlechtsorganen in dem Buch weder unsittlich noch jugendgefährdend waren. Der kommunistische Reichstagsabgeordnete (seit 1924) Emil Höllein war der Autor der Schrift, die schon vor dem Ersten Weltkrieg druckfertig vorlag. Höllein war im belgischen Löwen gemeinsam mit vier Geschwistern aufgewachsen. Nach dem frühen Tod der Eltern nach Deutschland abgeschoben, absolvierte er eine Lehre als Schlosser und war als Werkzeugmacher tätig. Von 1904 bis 1915 nutzte Höllein seine Sprachkenntnisse und arbeitete in der Universitätsstadt Jena als Sprachlehrer und Übersetzer. Als Autodidakt hatte er sich auch das Wissen zu dieser Spezialstudie zum Thema Geburtenregelung erworben.
Im Vorwort zur dritten Auflage seiner Schrift konnte Höllein im August 1929, kurz vor seinem plötzlichen Tod, darauf verweisen, dass Einwände durch „berufsmäßiges Muckertum“ und Versuche „bayerischer Dunkelmänner“ das Buch als „Schund- und Schmutzschrift“ verbieten zu lassen, scheiterten. Hölleins Plädoyer für einen sozialen Mutter- und Kinderschutz fand hingegen bei seinen Lesern große Unterstützung. Seine Schrift war seinerzeit auch buchkünstlerische beachtenswert. Das Frontispiz der ersten Auflage wurde von Käthe Kollwitz gestaltet. Spätere Auflagen folgten den Vorstellungen des Bauhauses über moderne Schriftgestaltung.
Emil Höllein galt als einer der talentiertesten Redner in Deutschen Reichstag. Bei Politikern anderer Parteien und einschlägigen Verbänden erwarb er sich vor allem als Sozialpolitiker ob seiner Sachkompetenz und wegen seiner Einsatzfreude hohe Anerkennung. Sein Engagement für den Erhalt gesetzlicher Regelungen zum Erwerb bezahlbarer Wohnungen und für den Ausbau des sozialen Wohnungsneubaus machte ihn weit über die Anhänger seiner Partei hinaus bekannt und verschaffte ihm Respekt. (Nur angemerkt sei: Der Deutsche Reichstag hatte in der „Zwischenkriegszeit“ eine Wohnungs-Kommission mit bemerkenswerten sozialen Aktivitäten! Eine auch heute nachahmenswerte Initiative für Parlamente in Deutschland.)
Emil Hölleins Appell gegen Gebärzwang verdiente eine Neuauflage, der Politische Werdegang dieses Arbeiterfunktionärs eine ausführlichere Würdigung.

Horst Helas

Ein Rückblick

„Die Menschheit hat den Verstand verloren“, schrieb Astrid Lindgren in Tagebüchern, die sie zwischen 1939 und 1945 führte. Damals noch nicht die berühmte Autorin, sondern Stenotypistin, Mutter, Hausfrau. Als Buch erschienen diese Aufzeichnungen, inklusive zahlreicher Zeitungsartikel, die sie damals sorgfältig sammelte und ins Tagebuch klebte, 2015. Da schreibt jemand aus dem vergleichsweise sehr sicheren Schweden, wo zwar rationiert wurde, aber nie Hunger herrschte, wie in den Kriegsländern ringsum. Sie ist sich dieses Luxus sehr bewusst und sorgt sich um all die fernen Menschen, ihre Familie und ihr Land. Das Leben auf einer Insel…
Wie sehr die Geographie des eigenen Landes, geschichtliche Erfahrungen die politische Wertung bestimmt, wird hier noch einmal eindrucksvoll demonstriert. Sie hat große Angst vor den Russen. Wenn es hart auf hart käme – lieber die Deutschen. Von Gräueln der Deutschen hat sie gehört, aber sie kennt mehr Beschreibungen russischer / sowjetischer Gräuel aus der unmittelbaren Umgebung. Der Finnlandkrieg, der alle Schweden schwer bestürzte, hat diese Angst stark befördert. Das Wüten der Deutschen in der überfallenen Sowjetunion scheint mehr am Rande. Je mehr sie von den deutschen Untaten hört, desto verzweifelter wird sie – die Russen sind keine positive Alternative. Das ist schwer mit den eigenen Bildern vom „Befreier“ und der großen Hochachtung vor dem Kampf der Sowjetvölker in Übereinstimmung zu bringen. Gerade weil da Astrid Lindgren über ihre Erfahrungen spricht, die in den letzten Kriegsjahren erste Erfolge als Autorin feierte. Sie war bekanntlich später als die berühmte Kinderbuchautorin aktiv in Friedensfragen.
Dieser Hintergrund lässt heutige Angst, ja auch Hass vieler kleiner Völker rund um Russland besser verstehen, ohne sie zu teilen. Es ist die Sicht der einen Seite. Im Konkreten scheint die Welt noch komplizierter als in der allgemeinen politischen Betrachtung. Es bleibt das Hoffen auf neue Einsichten und Erfahrungen auf allen Seiten.

Margit van Ham

Astrid Lindgren: Die Welt hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939 – 1945, Ullstein Buchverlage, Berlin 2015, 573 Seiten, 19,99 Euro.

Von Hassleben bis Verona

Vom Wedding geht es wieder mal in die Uckermark. In Deutschlands einziger Theater-Soap „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ steht wieder einmal „Vati“, der autoritäre katholische Pfarrer der Ortschaft, der – so will es die Soap – eine Frau und zwei Kinder hat, im Mittelpunkt. Die „Mutti“ blüht auf, denn ihr Unterdrücker ist verschwunden. Der sitzt nach einem verlorenen Beleidigungsprozess – auch das eine Unwahrscheinlichkeit, die man im Schwank nicht ernst nehmen sollte – in der JVA Boitzenburger Land ein. Döner-Diner-Besitzer Ahmed besucht die Türkei und beglückt von dort aus seine Kinder per Skype. Und die Trainerin Jutta von Da hat plötzlich vor lauter Einsamkeit eine erstaunliche Gewichtszunahme zu verzeichnen.
In der neuen Folge „Alle allein zu Haus“ hat Autor Philipp Hardy Lau dem Typenarsenal neue Situationen gegeben, in denen die Darsteller mit Hausherrn Oliver Tautorat an der Spitze in mehreren Rollen ihrem Affen Zucker geben können. Manchmal scheint der Klamauk doch zu wenig mit aktuellen Spitzen versetzt – bis auf einen auf Erdogan gemünzten Gag. Es hätte sich angeboten, auf die Situation in Hassleben einzugehen, wo man sich derzeit um die Vor- und Nachteile einer Schweinemastanlage streitet. Immerhin wird ganz real um eine Kollekte für den Verein „Lebenshilfe Uckermark“ gebeten – in der Premiere wirkte das noch zu zaghaft. Regie führte Xinia Rabil (hinter dem Pseudonym versteckt sich ein Ensemblemitglied). Für einen Choral ließ man die Strophen verteilen, und es wurde zum Mitsingen aufgefordert. Dafür hätte es aber eines witzigeren Textes und einer eingängigen Melodie bedurft. Fazit: viel gelacht und geschmunzelt, aber das Level hätte höher sein können!
Lachen und Schmunzeln kommt auch bei Shakespeare-Komödien nicht zu kurz. Die Berliner Gruppe „Reißverschluss“, die sich unter Leitung von Joachim Stargard seit einigen Jahren Stücken des Elisabethanischen Theaters widmet, hat im Shakespeare-Jubiläumsjahr das selten aufgeführte Stück „Zwei Gentlemen aus Verona“ auf die Bühne gebracht. Es gibt auch viel Heiteres, beispielsweise köstliche Chargen. Martin Hamann gibt zwei Väterrollen, gut und witzig voneinander abgesetzt. Auch Diener Lanz und sein Hund Crab haben groteske Auftritte. Im Kern des Stückes finden Stargard und seine Darsteller, die im Probenprozess viel Eigenes einbrachten, zumeist Ernst, Nachdenkliches, bestürzend heutige Verhaltensweisen. Die beiden wohlhabenden jungen Freunde Valentin (Lukas Wagner) und Proteus (Lukas Hablitzel) brechen nacheinander aus Verona auf, um am Mailänder Hof das Glück zu suchen. Valentin kann die Liebe von Silvia (Gloria Maqami), der Tochter des Herzogs, gewinnen. Doch an dem damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg ist auch Proteus interessiert. Als er in Mailand eintrifft, täuscht er seinen Freund und intrigiert hinter seinem Rücken. Der Treulose versucht es mit Korruption, die Liebende gerät in Zweifel, glaubt aber an die Liebe. Am Schluss, wenn sich der (bei „Reißverschluss“ nicht vorhandene) Vorhang schließt, sind viele Fragen offen, und der Zuschauer geht nachdenklich nach Hause.
Stargard hat wieder ausschließlich mit jungen Leuten gearbeitet, deren Stärken er nutzt und deren anfängliche Defizite mit der neuen Erfahrung ausgleicht. Auf der leeren Bühne gibt es kaum Requisiten, aber im Kostüm spiegeln sich sowohl das 16. Jahrhundert als auch die Kleidung von heute und ergänzen sich. So schafft es „Reißverschluss“, den Übervater Shakespeare ohne Vereinfachungen in die Gegenwart zu holen.

F.-B. Habel

Alle allein zu Haus, Prime Time Theater Berlin-Wedding, 16. Juni bis 4. Juli.
Zwei Gentlemen aus Verona, Gruppe „Reißverschluss“ im Gallus-Theater Frankfurt a.M., wieder am 14. und 15. Juni, im Theaterforum Berlin-Kreuzberg vom 23. Juni bis zum 26. Juni.

Eine Klaviermelange mit südkoreanischen Wurzeln

Von wegen verknöcherte und vergeistigte ältere Herren als Protagonisten an den weißen und schwarzen Tasten. Die Zukunftshoffnung am Klavier ist jung und weiblich. Die aus Südkorea stammende Younee offenbart Charme wie Charisma. Auf ihrem Debutalbum „Jugendstil“ griff sie noch auf bekannte Komponisten wie Mozart, Beethoven oder Rachmaninoff zurück. Ihr neuestes Album “My Piano” enthält nun elf Eigenkompositionen.
Younee zelebriert hierauf keine künstliche Virtuosität, sondern nimmt den Zuhörer auf eine Reise mit, die sich einer strikten Schubladisierung verweigert. „Crossover“ heißt das Zauberwort, wenn Klassik, Jazz und Blues eine Melange eingehen. Und Younee macht hieraus einen gefühlvollen, temporeichen Ohrenschmaus zwischen Furioso und Pianissimo, zwischen dem verhaltenen „Ansbach Blues“ und dem fulminanten „Toccata And Blues In E Minor“. Ob Younee wirklich „unique“ ist, wie es die Werbebotschaft des Plattenlabels verkündet, mag sich nach zwei Alben noch nicht erschließen. Sie ist zweifelsohne aber auf einem guten Wege, sich diese bereits attestierte Einzigartigkeit zu erspielen.

Thomas Rüger

Younee: My Piano, Fulminantmusic 2016, 16,00 Euro.

Blätter aktuell

Ob Österreich oder Frankreich, Polen oder Ungarn: Der Populismus überschwemmt die Europäische Union und droht durch fortschreitende Renationalisierung deren Existenz zu gefährden. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot geht auf Ursachenforschung und identifiziert als Kern des Übels die selbstgefällige politische Mitte Europas. Diese traue sich nicht, das vorherrschende Demokratiedefizit der Union offen anzuprangern. Anstelle dieser kollektiven Verdrängung gebe es nur eine einzige Chance: die dringend notwendige politische Union.
In den vergangenen bald acht Jahren der Amtszeit Barack Obamas kam es zu einem erstaunlichen Zusammenspiel – von Energiepolitik, Freihandel und militärisch gesicherter Außenpolitik. Der Sprach- und Kommunikationswissenschaftler Malte Daniljuk bilanziert die beiden Legislaturperioden und ordnet sie in die US-amerikanische Tradition ein. Dabei identifiziert er nicht nur die strategische Linie Barack Obamas, sondern auch einen alten Bekannten der US-Außenpolitik: den Neorealismus.
Die Veröffentlichung der „Panama Papers“ hat schlagend deutlich gemacht, dass unsere bisherigen Erkenntnisse über die globalen Eliten den Realitäten heillos hinterherhinken. Denn durch das Ende des Kalten Krieges und die fortschreitende Privatisierung und Finanzialisierung wurden die Karten völlig neu gemischt. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Anthropologin Janine R. Wedel fordert ein radikales Umdenken – um endlich die demokratische Kontrolle über die Schatteneliten zurückzuerobern.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „‚Mut zur Tat‘: Der rechte Terror als neue deutsche Normalität“, „Kolumbien: Alles oder nichts für den Frieden“ und „Wie die Rente sicher bleibt“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Juni 2016, Weitere Informationen im Internet.

WeltTrends aktuell

Mit seinem Projekt „One Belt, One Road“, auch „Neue Seidenstraße“ genannt, will China die weitere ökonomische Erschließung Eurasiens vorantreiben. Das kann große Vorteile für die beteiligten Staaten bringen, aber auch die Geopolitik ist im Spiel. Strebt China eine Rolle als Moderator oder Schiedsrichter in Eurasien an?
Experten aus der Region beschäftigen sich im Themenschwerpunkt mit der chinesischen Initiative und ihren möglichen Auswirkungen. Wang Yiwei (Beijing) erläutert das Konzept, das weit über infrastrukturelle Korridore hinausgeht, während es Nadine Godehardt (Berlin) aus deutscher Perspektive analysiert. Sultan Akimbekov (Almaty) verweist auf die Rolle Kasachstans als Drehscheibe für die Transportwege in Eurasien. Auf die Herausforderungen für Russland gehen Ruslan Grinberg und Iwan Starikow (Moskau) ein.
Über verpasste Chancen im Ost-West-Verhältnis äußert sich Horst Teltschik, ehemaliger Sicherheitsberater von Kanzler Kohl, im WeltBlick. Keine Regierung im Westen habe in den letzten zwei Jahrzehnten den ernsthaften Versuch unternommen, eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung zu erreichen, nun müsse Deutschland die Chance seiner OSZE-Präsidentschaft nutzen. Helmut Scholz (MdEP) untersucht die Probleme in den Handelsbeziehungen zwischen China und der EU, Ralf Havertz die gefährliche Lage auf der koreanischen Halbinsel.
Angesichts der in jüngster Zeit verschärften Debatte über Auslandseinsätze der Bundeswehr weist Gregor Schirmer in der Analyse nach, dass es keine völkerrechtlichen Verpflichtungen zu solchen Einsätzen gibt.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 116 (Juni) 2016 (Schwerpunktthema: „Neue Seidenstraßen“), Potsdam / Poznan. Weitere Informationen im Internet.