19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Der Untergang des Abendlandes

von Sarcasticus

Der Schlaf der Vernunft
gebiert Ungeheuer.
Francisco de Goya
Los Caprichos, Nr. 43

Ob der Untergang des Abendlandes noch aufzuhalten ist, muss seit längerem quasi täglich heftiger bezweifelt werden.
Der neoliberale Durchmarsch seit den 1980er Jahren hat den Sozialstaat derangiert und damit die wichtigste Voraussetzung dafür geschaffen, dass irgendwann Eruptionen wie in französischen Vorstädten auch in Deutschland wieder flächenbrandartig in Erscheinung treten können.
Der Finanzcrash von 2008 war nur ein Vorgeschmack auf Kommendes.
Seit kurzem haben sich, wie seit Jahrzehnten befürchtet, die perspektiv- und chancenlosen Massen aus Afrika – statt weiter wie Schafe im Angesicht der Schlachtbank auf einen frühen Tod nach lebenslangem Elend zu warten – auf den Weg in die Wohlstandsfestung Europa gemacht. Nicht zuletzt, weil die Wohlstandsfestung Amerika für sie nicht erreichbar ist.
Ähnliches gilt für das Millionenheer der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten im Nahen und Mittleren Osten – einer Ansammlung von Pulverfässern, von denen der Westen seit 2001 unter Feder- und Operationsführung der USA die meisten schon in die Luft gejagt und an weitere die Lunte gelegt hat.
Hinzu kommt: 25 Jahre nach dem zwischen den damaligen ideologischen Antagonisten in Ost und West einvernehmlichen Ende des Kalten Krieges ist die Chance, dauerhaften Frieden und Sicherheit zunächst wenigstens in und für Europa durch ein Vertragswerk des Ausgleichs und der Interessenverquickung zwischen dem Westen und Russland zu schaffen, endgültig verspielt. Es wird beiderseits wieder mit den Säbeln gerasselt, mit Kernwaffen kokettiert und mit dem Menetekel eines Dritten Weltkrieges Entertainment, Propaganda und psychologische Kriegsführung betrieben. Der neue Kalte Krieg gewinnt an Fahrt.
Und nun dürfen auch noch die allerdümmsten Hühner die Leitartikel für den Spiegel, das „Sturmgeschütz der Demokratie“ (O-Ton Rudolf Augstein über seine Gazette, nach der Spiegel-Affäre von 1962), verfassen und Öl in die diversen Feuer gießen – zum Beispiel in den Schwelbrand zwischen dem Westen und Russland.
Jüngstes Beispiel: „Russlands Aggressionen“ im Spiegel 8/2016. Autor: Mathieu von Rohr. Der muss irgendwie – wenigstens mental – vom Erfinder-Stamme des gleichnamigen -krepierers sein. Womit er jedoch andererseits nahtlos, gleichsam intarsienhaft, ins Gesamtbild des Magazins passt, in dem er sich den anderen Kaffeesatzdeutern und sonstigen strategischen Flachzangen, die im Hamburger Verlagshaus und dessen Dependancen heute die einst so renommierten Redaktionsstuben bevölkern, geschmeidig beifügt.
Hier Kostproben aus dem Repertoire des Herrn von Rohr: „Es ist offenkundig, dass Russland kein Partner des Westens ist, auch nicht im Kampf gegen den ‚Islamischen Staat‘, sondern ein destruktiver Akteur.“ Des russischen Ministerpräsidenten Medwedjews Warnung auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass die Welt in einen neuen Kalten Krieg abgleitet – Teil der Moskauer „Gesten der Einschüchterung, die den Westen davon abhalten sollen, den russischen Machtansprüchen entgegenzutreten“. Und besonders schandbar: „Dass mit Russland […] wieder zu rechnen ist, liegt allein […] am Versagen des Westens. Denn Russland ist immer nur so stark, wie der Westen schwach ist.“ Schuld sind natürlich die Hosenschisser in den eigenen Reihen: „Die Drohungen des Kreml, die strategischen Niederlagen gegen Putin und die Angst vor einer kriegerischen Konfrontation verstärken nun bei einigen im Westen den Wunsch, mit Russland um jeden Preis einen Ausgleich zu finden.“
Solchen Warmduschern muss man kräftig in die Parade fahren, und der Spiegel-Mann tut es. Er schöpft dabei aus dem üppigen Füllhorn seiner wenn auch zwangsläufig (Jahrgang 1978) überwiegend akademischen Erfahrungen und Überzeugungen – dafür aber (Pardon: Das Wortspiel ist hier unvermeidlich!) „aus vollem Rohr“: „Die Lehre aus Syrien und der Ukraine muss […] lauten: Alle Versuche, Russland durch Annäherung und Umschmeichelung zum Einlenken zu bewegen, sind gescheitert. Putin würde sich nur von einem glaubwürdigen Drohszenario des Westens (Hervorhebung – S.) beeindrucken […] lassen.“
Wie man sich ein glaubwürdiges Drohszenario gegenüber einer nuklearen Supermacht wie Russland vorzustellen hätte, spart der Schmalspur-Stratege allerdings geflissentlich aus. Was den Autor dieser Zeilen (Jahrgang 1952) nicht wundert, denn an dieser Frage sind schon sämtliche US-Nuklearstrategen zwischen 1946 und 1990 gescheitert – an Militärakademien ebenso wie in den diversen Think Tanks zwischen RAND Corporation und Brookings Institution, von Bernard Brody über Herman Kahn und Albert Wohlstetter bis Colin S. Gray. Von ihren sowjetischen Kollegen, obwohl man deren Namen bis heute nicht kennt, gilt zwangläufig das Gleiche, weil ein Drohszenario gegenüber einer mit interkontinentalen atomaren Angriffs- und Antwortmitteln in hinreichender Qualität und Quantität ausgestatteten Kernwaffenmacht immer zugleich die eigene nicht nur staatliche und gesellschaftliche, sondern auch rein physische Existenz aufs Spiel setzt. Das bis dato unumstößliche Paradigma, das diese Gegebenheit auf den Punkt bringt, lautet bekanntlich: „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.“ Wer trotzdem meint, Russland glaubhaft drohen zu können, dem kann wahrscheinlich auch kein Arzt mehr helfen.
Was natürlich nicht ausschließt, dass einschlägige Experten mit entsprechendem Viertelwissen oder funktionierender Verdrängung sich unter Ignorierung dieser Gegebenheit gegenteilig äußern – siehe von Rohr – und damit heute wieder den Zugang zu einer der fundamentalsten Erkenntnisse des Kalten Krieges blockieren: Zwischen Atommächten gibt es nur entweder gemeinsame, politisch-vertraglich geregelte Sicherheit oder, alternativ, das über beiden Seiten schwebende Damoklesschwert gegenseitiger atomarer Vernichtung mit dem permanenten Risiko eines Versagens von Sicherungen.
Allein dass dies noch einmal so vollständig in Vergessenheit geraten konnte, wie es derzeit den Anschein hat, lässt für Optimismus im Hinblick auf den Fortbestand des Abendlandes nur wenig Raum.