18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Bemerkungen

Hans Mommsen

Am 5. November, seinem 85. Geburtstag, ist der Historiker Hans Mommsen in Feldafing bei München verstorben. Er stammte aus einer berühmten bürgerlichen Familie, doch was und wie die Arbeiter dachten, hat ihn stets interessiert: Hans Mommsen, Urenkel des Althistorikers und Literatur-Nobelpreisträgers Theodor Mommsen, erwarb sich 1963 ersten wissenschaftlichen Ruhm durch eine voluminöse Dissertation über die Nationalitätenpolitik der österreichischen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg. Auf die Beziehungen zwischen Arbeiterbewegung und nationaler Frage kam er später immer wieder zurück, doch sein Hauptarbeitsgebiet wurde der deutsche Faschismus, insbesondere dessen weltgeschichtlich sich durchsetzende Variante: der Nationalsozialismus.
Schon seine Habilitationsschrift über das Beamtentum im „Dritten Reich“, die 1966 als Buch erschien, verfolgte eine Kernfrage seiner Forschung: Wer hielt unterhalb der politischen Entscheidungsgewalt auf der mittleren Ebene der Hierarchien das System von Terror und Komplizenschaft „am Laufen“? Er sah insbesondere den Mord an den europäischen Juden nicht primär als eine von Hitler vorgedachte „Endlösung“, sondern als Konsequenz einer sich immer mehr brutalisierenden Gewaltherrschaft unter Mitwirkung Vieler. Starke Beachtung fand sein Engagement im westdeutschen Historikerstreit 1986. Hier vertrat Mommsen gegenüber Ernst Nolte, der den Nationalsozialismus vor allem als Reaktion auf den „Bolschewismus“ sah, die entschiedene Gegenmeinung: Hitlers Herrschaft sei vor allem eine Konsequenz der deutschen Geschichte. Dabei traf er sich auch mit seinem Bruder Wolfgang, der gleichermaßen die Geschichte des europäischen Imperialismus vor 1914 auf sein faschistisches Potenzial hin befragte. Manchmal schoss er über das Ziel hinaus oder hielt an Auffassungen fest, die die Forschung oft mit gutem Grund bezweifelte, so an seinem Diktum, wonach Marinus van der Lubbe der Einzeltäter des „Reichstagsbrandes“ gewesen sei. Seine wissenschaftliche Laufbahn führte Hans Mommsen vom Münchner Institut für Zeitgeschichte an die Universität Bochum, wo er als Professor von 1968 bis 1996 lehrte. Zu seinen Schülern gehören Lutz Niethammer, Detlev Peukert, Bernd Weisbrod, Siegfried Lokatis und Christopher Kopper – um nur wenige zu nennen.
Hans Mommsen, der langjähriges Mitglied der SPD war, verstand nicht, warum Historiker-Kollegen nach 1990 in der PDS und dann der Linkspartei bleiben konnten. Doch erwartete er geradezu Gegenmeinungen, um gegen diese temperamentvoll in den Ring des Meinungsstreites steigen zu können. Der hochgebildete, dabei niemals arrogante, streitbare und – warum sei es verschwiegen? – genussfreudige Historiker und Mensch hat Spuren hinterlassen, die noch lange nicht zu tilgen sind.

Mario Keßler, New York

Notwendige Kommentare zu einer Hass-Schrift

Ende dieses Jahres erlischt das Urheberrecht der bayerischen Staatsregierung und damit das seit 1945 in Deutschland geltende Publikations- und Nachdruckverbot für Hitlers programmatische Hetzschrift „Mein Kampf“. Das menschenverachtende Machwerk, das ohnehin schon im Ausland und im Internet zu erwerben ist, wird dann frei verkäuflich sein, wenn nicht derzeit laufende Klagen dagegen etwas anderes erbringen. Steht uns damit ein Tabubruch ins Haus? Wen interessiert dieses sogenannte „Buch der Deutschen“ heute noch außer Historikern und unbelehrbaren Alt- und Neu-Nazis?
Vor 70 Jahren standen in deutschen Haushalten mehr als 12 Millionen Exemplare des Hitler-Werkes, das Buch mit der höchsten jemals verbreiteten Auflage im deutschen Sprachraum. Ob es allerdings auch das meistgelesene Buch war darf getrost bezweifelt werden. Nach Schätzungen der Alliierten unmittelbar nach 1945 hatten es nur 20 bis 30 Prozent der deutschen Bevölkerung ganz oder teilweise gelesen. Für Mitglieder der NSDAP und Polizeibeamte war es zur Pflichtlektüre erklärt worden, Hochzeitspaare erhielten es unfreiwillig vom Standesbeamten, so erklärt sich zum Teil die hohe Auflage. Die These vom gänzlich ungelesenen Beststeller lässt sich aber wohl auch nicht aufrechterhalten. Um auf die bevorstehende Auseinandersetzung vorbereitet zu sein, arbeitet man im Münchner Institut für Zeitgeschichte schon seit einigen Jahren an einer historisch-kritischen Ausgabe von Hitlers Hetzschrift. Mit der kommentierten Edition soll ein wissenschaftliches Standardwerk geschaffen werden, um unkommentierten Ausgaben zuvor zu kommen.
Einer der Herausgeber des genannten Instituts erklärte kürzlich im Tagesspiegel: „‚Mein Kampf’ ist immer noch ein Symbol und wir Deutschen tun gut daran, mit diesem Symbol äußerst gewissenhaft und vorsichtig umzugehen.“ Dem ist zuzustimmen. Hitlers demagogischer Text soll von aufklärenden Kommentaren wissenschaftlich gewissermaßen umzingelt werden – eine „Kesselschlacht“ der anderen Art. Es geht um die Demaskierung des ungerechtfertigten Mythos dieses Pamphlets, die Offenlegung von Hass, Lüge und Halbwahrheiten. Die Münchner Wissenschaftler bekommen publizistische Unterstützung von Kollegen und der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, andere möchten die Kampf-Schrift aber lieber weiter im Giftschrank sehen. Unkommentierte Veröffentlichungen halte auch ich für wenig hilfreich.
Wer sich schon jetzt mit diesem brisanten Thema beschäftigen will, dem sei die Lektüre von Sven Felix Kellerhoff „Mein Kampf. Die Karriere eines deutschen Buches“ empfohlen. Dort klassifiziert der Autor Hitlers Werk als „ein wirres und gleichzeitig vielfach redundantes Buch“. Während die wissenschaftliche Ausgabe mit 2.000 Seiten angekündigt wird (das Original umfasste 800 Seiten) kommt Kellerhoffs Vor- und Nachgeschichte auf knapp 400 Seiten. Keine leichte Lektüre, aber sachlich erhellend.

Hans Erxleben

Sven Felix Kellerhoff: Mein Kampf. Die Karriere eines deutschen Buches, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015, 367 Seiten, 22,95 Euro.

Blätter aktuell

Die jüngsten Enthüllungen über den amerikanischen Drohnenkrieg offenbaren, wie schnell sich dieser verselbstständigt hat: Angepriesen als Mittel einer vermeintlich humanitären Kriegsführung, die Zivilisten wie die eigenen Soldaten schone, wächst die Nachfrage stetig, so die Journalisten Kai Biermann und Thomas Wiegold. Doch die zivilen Opfer sind hoch und mit der Automatisierung des Krieges verschwindet immer mehr die menschliche Verantwortung für den Einsatz tödlicher Gewalt. Auch im 70. Jahr ihres Bestehens bleibt die UNO das wichtigste Friedensprojekt unserer Zeit. Chronische Unterfinanzierung und innere Blockaden hindern sie jedoch daran, diesem Auftrag gerecht zu werden, analysiert der US-amerikanische Politikwissenschaftler James A. Paul. Angesichts globalisierter Märkte, forcierten Klimawandels und weltweiter Fluchtbewegungen bedürfe es einer globalen Ordnung heute mehr denn je. Daraus könnte, ja müsste die UNO neue Stärke beziehen. Parteien wie Syriza und Podemos stehen am Scheideweg: Sie verkörpern einen gesellschaftlichen Aufbruch und die Abkehr vom Neoliberalismus. Zugleich aber setzen sie immer wieder auf populistische Strategien. Damit droht ihnen jedoch das Scheitern als progressive Kräfte, warnt Blätter-Redakteur Steffen Vogel. Gegen die autoritäre und nationale Versuchung hilft nur konsequente Europäisierung. Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Im Endspielmodus. Siegt sich der Kapitalismus tatsächlich zu Tode?“, „Geschäftsmodell Privatschule. Der selbstverschuldete Niedergang des öffentlichen Bildungswesens“ und „Katalanische Sackgasse“.

am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, November 2015, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Der Papst schwebt

Noch immer sieht es so aus, als könnte plötzlich Henry Fonda mit Cowboy-Hut auf den Saloon zugehen und Charles Bronson auf seiner Mundharmonika das Lied vom Tod spielen. Das Westerndorf in der Wüste, in dem Sergio Leone seinen berühmten Film drehte, steht in Spanien noch als Touristenattraktion, hat aber inzwischen seine Anziehungskraft verloren. Auf dem 24. Festival dokumentART in Neubrandenburg lief Karin Beckers Film „Pistoleros“, die die Besitzer des Geländes, José und Genara, beobachtete, die heute die Kulissen hüten. Ein junger Rumäne hilft dabei. Geschichten wie diese würzten das Festival, das subtil vom Zeitgeist berichtete. Originelle Bilder lieferte der polnische Film „Figura“ von Katarzyna Gondek. In einer Fabrik für Gartenzwerge und Dinos wird ein 14 Meter hohes Standbild von Papst Johannes Paul II. hergestellt. Letzte Arbeiten am riesigen Papst-Kopf, der Transport, bei dem JP II wie einst Lenin durch die Luft schwebt, das Zusammensetzen der Figur am endgültigen Standort: Das alles wirkt absurd und ironisiert eine übergroße Papst-Verehrung.
Als britische Produktion drehte der Franzose Benjamin Huguet, der in Spanien studiert hatte, seinen Film „The Archipelago“ auf den Faröer Inseln. Nach einigen Bildern vom Töten von Nutztieren für unsere Ernährung kommt er schnell zum eigentlichen, international aktuellen Thema: der Walfang und das blutige Abschlachten der Tiere durch die einheimische Bevölkerung. Diesen Fischern, die das Walfleisch für den eigenen Bedarf nutzen, bringt der Filmemacher durchaus Verständnis entgegen, stellt aber auch die Frage nach der Notwendigkeit. Das korrespondierte mit einer Nebenreihe des Festivals, genannt „Das große Fressen“, die nicht nur Filme präsentierte, sondern auch Workshops zum veganen Essen und Verkostungen. Das war eine der vielen Ideen, die die niederländische Festivalleiterin Heleen Gerritsen einbrachte, die aber leider nicht verhinderten, dass sich das Interesse des Neubrandenburger Publikums in Grenzen hielt.
Während die meisten Filme der dokumentART einen dokumentarischen Ansatz hatten, gewann den (nach der Hauptspielstätte des Festivals genannten) Hauptpreis „Latücht“ ein durch Bild- und Toncollagen und Animationen eher avantgardistischer Film. Susann Maria Hempel setzte sich in „Sieben Mal am Tag beklagen wir unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen“ phantasievoll mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs auseinander. Für den Durchschnittszuschauer war er nicht leicht zu entschlüsseln, aber davon waren auch nur wenige im Publikum.

fbh

WeltTrends aktuell

Maritime Konflikte in Ost- und Südostasien haben in den letzten Jahren an Brisanz deutlich zugenommen. Meist geht es dabei um kahle, felsige Inseln, die aber von hoher geostrategischer Bedeutung sind. Zu den Streitenden gehören nicht nur China, Japan und Südkorea, sondern auch die USA, die ihre besonderen Interessen in der Region verfolgen. Sollte einer dieser Konflikte eskalieren, würden sich die Folgen nicht auf die Region begrenzen lassen. Der Themenschwerpunkt der aktuellen Ausgabe der Monatsschrift WeltTrends schafft ein besseres Verständnis dieser Territorialstreitigkeiten und macht die Gefahren für den Frieden in Ost- und Südostasien deutlich. Im „Weltblick“ nimmt Lutz Kleinwächter die „Völkerflucht nach Europa“ unter die Lupe. Im „Zwischenruf“ geht Blättchen-Chefredakteur Wolfgang Schwarz dem Phänomen Cyberwarfare – zwischen Hype & Reality – nach. Im „Kommentar“ widmet sich Rolf Mützenich dem ab Anfang 2016 anstehenden deutschen Vorsitz bei der OSZE.

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 109 (November) 2015 (Schwerpunktthema: „Maritime Konflikte in Asien“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Kontinuität & Wandel

„Obwohl nichts so gewiß ist wie jedermanns Altwerden, weiß unsere Kultur nicht zu sagen, wie alte und hinfällig werdende Menschen angemessen und in leidlicher Würde leben können, seit die Familie das offensichtlich nicht mehr leistet.“ Der Satz scheint von heute, entstammt aber tatsächlich dem 1976 erschienenen Roman „März“ von Heinar Kipphardt. Jedoch keineswegs alles ist seither beim Alten geblieben. Kipphardt hatte in „März“ mit Blick auf die damalige Bundesrepublik auch vermerkt: „Die Schule geht nicht von den Bedürfnissen der Kinder aus, sondern von denen der Wirtschaft. Wenn die Kinder die Schule verlassen, haben die meisten ihre Eigenarten verloren, ihre schöpferischen Fähigkeiten eingebüßt und sind für das Erwerbsleben vorbereitet. Wo der Prozeß der Kapitulation auf Schwierigkeiten stößt, stehen Sonderchulen, Erziehungsheime, Jugendgefängnis und Jugendpsychiatrie zur Verfügung.“ Der in dieser Hinsicht herbeigeführte Wandel, von dem als Fortschritt zu sprechen sich die Feder, respektive Tastatur allerdings sträubt, war so einschneidend, dass ein Großteil der heutigen Schulabgänger nicht einmal mehr auf das Erwerbsleben vorbereitet ist.

Alfons Markuske

Gewehre auf Killerfische

Manfred Karge und Bertolt Brecht – eine unendliche Geschichte! Helene Weigel holte den Schauspielabsolventen als Regieassistent 1961 ans Berliner Ensemble, wo er schnell mit Matthias Langhoff ein erfolgreiches Regie-Team bildete. Als beide 1969 zu Besson an die Volksbühne gingen, kam die Partnerschaft mit Heiner Müller hinzu, ohne dass Brecht aus dem Auge verloren wurde. Abgeschoben in den Westen, folgten beide Claus Peymann, der Karges neuer Guru wurde. Inzwischen ist Karge als Schauspieler und Regisseur längst ein Urgestein an Peymanns Berliner Ensemble. Als Autor hatte Karge mit seinem Erstling „Jacke wie Hose“ nach einer Brecht-Geschichte viel Erfolg. Gelegentlich werden auch andere Stücke von ihm aufgeführt. Mit Hermann Beil las er sein Stück „Killerfische“ im Berliner Ensemble. Jetzt brachte es das mit anspruchsvoller Literatur erfolgreiche Theater im Palais auf die Bühne. Renate-Louise Frost inszenierte es, und die Schauspieler konnten den Text auswendig. Lobenswert. Zwei Männer im Bademantel treffen sich im Vorraum zu einer „Anwendung“ in einem Kur-Hotel. Der Erfahrenere gibt dem Neuling Verhaltenstipps, und der revanchiert sich mit kleinen Geschichten aus seiner Vergangenheit, etwa von seiner Auseinandersetzung mit einem Kellner. Mit freundlichen kleinen Pointen, darunter über die titelgebenden Killerfische, meint man, einem Boulevard-Stück beizuwohnen. Aber es gibt auch Anspielungen auf Flüchtlinge und einen blutigen Schluss, von dem man nicht weiß, ob er real oder ein Albtraum ist. Frau Frost hat die Schauspieler Carl Martin Spengler und Matthias Zahlbaum allzu gleichförmig, stets nur nebeneinandersitzend geführt. Sie sitzen und schwafeln. Der im Stück angelegte Gegensatz der beiden wird nicht ausgespielt. So kommt das Ende einigermaßen überraschend und lässt die Zuschauer nach einem doch allzu kurzen Theaterabend eher ratlos zurück. Weiterdenken verlangt der Autor, aber er macht es dem Konsumenten allzu mühevoll. Vielleicht wäre der Abend mit einem Brecht-Lehrstück nach der Pause gewinnbringender!
Manfred Karge hat sich jetzt einen zu lange vergessenen Einakter von Brecht vorgenommen. Ende November hat das Spanien-Stück von 1937 „Die Gewehre der Frau Carrar“ am BE Premiere. Weil Berlin Berlin ist, braucht er sich vielleicht keine Sorgen zu machen, aber er sollte sich schon warm anziehen, denn Wolfgang Bordel ist ihm an der Vorpommerschen Landesbühne Anklam mit einer aufregenden Inszenierung zuvorgekommen. Entgegen seiner Gepflogenheit läßt Bordel das Stück vom Blatt spielen, orientiert sich aber an Vorbildern. Vielleicht hat er gelesen, daß noch vor seiner Geburt der MDR eine Hörspielfassung des Stücks produzierte, in der Ernst Busch sang. Ihn, an dem er sich nach eigener Aussage immer wieder aufrichtet, baute Bordel in seine Inszenierung ein. Dabei schafft er eine Mischung zwischen unbekannten Aufnahmen Buschs und Liedern, die zumindest der DDR-Bürger mitsingen kann. Nie verselbständigt sich jedoch die Musik. Auch Titel, die später entstanden sind, unterstützen das Anliegen Brechts, nachzudenken über Neutralitätsgehabe in revolutionärer Situation, über Menschlichkeit in kriegerischen Auseinandersetzungen, über Ungerechtigkeit von Arm und Reich, über verfehlte Methoden, um Sicherheit zu erlangen. Szenografin Gesine Ullmann hat die Bühne an die vorgesehene Fischerhütte angelehnt, aber mit den verwendeten Fertigteilen erinnert sie deutlich an die Situation heutiger Flüchtlinge. Wenn Bordels Schauspieler Birgit Lenz, Raiko Rölz, Martin Puhl, Marit Lehmann, Johannes Langer und besonders Gerda Quies als alte Frau Perez auch nur „Provinz“ sind, können sie doch vielen allzu selbstgefälligen Schauspielern Berliner Bühnen in dieser eindringlichen Brecht-Inszenierung mehr als das Wasser reichen! Die als „Hochburg der Rechten“ verschriene Stadt Anklam (mit Spielstätten unter anderem in Zinnowitz und Barth) kann durchaus ein Hort linker Gedanken sein!

Frank Burkhard

Film ab

Da kenne sich noch einer aus mit der chinesischen Obrigkeit. Der Roman „Der Zorn der Wölfe“ von Lü Jiamin, der zum nach der Mao-Bibel zweithäufigst verkauften Buch in der Volksrepublik avancierte, war wegen seiner Kritik am chinesischen Umgang mit den Mongolen im Lande zurzeit der Kulturrevolution nicht wohlgelitten. Aus ähnlichen Gründen ist Jean-Jacques Annauds Film „Sieben Jahre in Tibet“ seit seiner Premiere im Jahre 1997 im Reich der Mitte verboten. Trotzdem ließ dieselbe Obrigkeit vor sieben Jahren bei eben diesem Regisseur anfragen, ob er eben jenes Buch verfilmen wolle. Und dann ließ man ihm drei Jahre Zeit, für das Projekt ein Rudel Wölfe aufzuziehen, und im Übrigen, nach des Regisseurs persönlichem Bekunden, beim Filmen und Schneiden völlig freie Hand.
Dass Annaud, der mit seinem Erstling „Sehnsucht nach Afrika“ 1977 gleich den Oscar für den besten ausländischen Film gewann, mit Tieren kann, hatte er bereits mit den Filmen „Der Bär“ (1988) und „Zwei Brüder“ (2004) unter Beweis gestellt. Auch dieses Mal sind ihm grandiose Bilder gelungen – von mongolischen Landschaften, aber vor allem Porträts von Wölfen. Deren im Erwachsenenstadium bernsteinfarbene Augen strahlen eine so gnadenlose Kälte aus, dass im Vergleich dazu Rotkäppchen ein Plot fürs Sandmännchen ist. Trotzdem sind nicht die Wölfe die Feinde der mongolischen Schafzüchter und Nomaden, sondern die von den Wölfen gejagten Gazellen. Denn die fressen das Steppengras, das die Nomaden für ihre Herden benötigen. Zu wenige Wölfe bedeuten auch zu viele Hasen und Murmeltiere – mit vergleichbaren Folgen für die Grasnarbe. So kann aus der obrigkeitlich angeordneten und exekutierten Ausrottung der Wölfe nichts Gutes erwachsen.
Ein Film für gefühlige Tierfreunde und Zartbesaitete ist der Streifen allerdings nicht. Denn wenn ein Wolfsrudel eine Pferdeherde im bitter kalten Winter in einen Schneesee treibt, wo die Tiere einbrechen, qualvoll verenden und sich am nächsten Morgen als bizarr drapiertes Gefrierfleisch präsentieren, ergibt das Bilder, wie man sie hierzulande bisher nur aus Expositionen von Gunter von Hagens kannte. Schlussendlich bleibt manches Fragezeichen: Dass in einem mit im Prinzip nicht überspringbarer Einzäunung gesicherten Kral Wölfe, wenn die menschlichen Jäger nahen und die Zeit knapp wird, in der Lage sind, Tierkadaver so aufeinander zu häufen, dass die Flucht doch noch rechtzeitig gelingt, muss Verhaltensforschern jedenfalls bisher verborgen geblieben sein.

Clemens Fischer

„Der letzte Wolf“, Regie: Jean-Jacques Annaud. Derzeit in den Kinos. 

Der Tagelöhner-Poet

Der englische Lyriker John Clare (1793-1864) ist sicher nur versierten Lyrikfreunden oder Kennern der englischen Literaturgeschichte bekannt, dabei zählen seine Gedichte zu den besten Beschreibungen des englischen Landlebens im 19. Jahrhundert. So erzielte seine erste Gedichtsammlung „Poems Descriptive of Rural Life and Scenery“ 1820 einen Sensationserfolg mit 3.000 Buchverkäufen und drei Nachdrucken. Die Werke des großen John Keats kamen zur gleichen Zeit gerade einmal auf 200 verkaufte Exemplare.
John Clare, als Sohn eines Landarbeiters geboren, muss schon als Junge zum Familieneinkommen beitragen. Die Mutter, eine Analphabetin, schickt ihren Sohn aber in den Wintermonaten, wenn die Feldarbeit ruht, in die Schule. Schnell entwickelt der wissbegierige Junge eine Liebe zu Büchern und fängt an, seine Gedanken und Beobachtungen in Gedichten festzuhalten, die er auf losen Zetteln niederschreibt. Erst als Siebzehnjähriger kauft er sich ein gebundenes Notizbuch. Dann endlich der sensationelle Erfolg mit „Poems Descriptive“. In London wird er als „Tagelöhner-Poet“ der literarisch interessierten Gesellschaft präsentiert. Im folgenden Jahr erscheint ein zweiter, ähnlich erfolgreicher Gedichtband. Doch von seiner Armut kann er sich dadurch nicht befreien; dazu kommen gesundheitliche und psychische Probleme. Bald hat sich auch die Neuartigkeit seiner Gedichte abgewetzt, der Geschmack der Leser hat sich verändert. Sein dritter und vierter Gedichtband verkaufen sich nur mager. Clare steckt in einer tiefen Depression. Mit 44 Jahren wird er als freiwilliger Patient in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Trotz aller Fortschritte verlässt Clare eigenmächtig die Klinik und begibt sich auf einen zirka 150 Kilometer langen Fußmarsch in Richtung Heimat, wo er fünf Monate bleibt. Danach wird er in eine staatliche Anstalt eingewiesen, wo er den Rest seines Lebens (immerhin 23 Jahre) verbringt. Anfänglich schreibt er immer Gedichte, ehe seine lyrische Stimme um 1850 gänzlich verstummt. Siebzigjährig stirbt John Clare am 20. Mai 1864.
Mit „Reise aus Essex“ ist nun ein Hörbuch erschienen, das (auch im Zusammenspiel mit dem umfangreichen Booklet) erstmals den deutschen Leser (und Hörer) mit dem Werk von John Clare bekannt macht. Es ist eine schmale Auswahl von Gedichten und dramatischen Szenen, die von einigen Volksmusikstücken, die Clare selbst gesammelt hatte, begleitet werden. Insgesamt eine gute Stunde kraftvolle Lyrik („Der Abend krümmt sich scheinbar über die Wiesen…“) oder kritische Selbstbespiegelung („Ich bin – doch was ich bin, will keiner wissen“).

Manfred Orlick

John Clare: Reise aus Essex, Buchfunk Hörbuchverlag GbR, Leipzig 2015, 1 Audio-CD, 14,99 Euro.

Medien-Mosaik

Wer an Werner Klemke denkt, dem fallen sicherlich einige der über 800 Bücher ein, die er illustriert hat, oder Das Magazin, für das er viereinhalb Jahrzehnte lang die Titel (oft auch Rücktitel) gestaltete. Zu seinem immensen Schaffen, für das er im In- und Ausland mehrfach ausgezeichnet wurde, zählen Titel für Kinderzeitschriften wie ABC-Zeitung und Frösi, er schuf Plakate, Bühnenbilder, von ihm gibt es Abziehbilder und Speisekarten, Plattenhüllen und Briefmarken. Doch zu den Comic-Zeichnern der DDR wird er nicht gezählt – zu Unrecht! Herausgeber Guido Weißhahn rückt das mit einer neuen Publikation gerade. In der Reihe „Klassiker der DDR-Bildgeschichte“ hat er das „Gesamtwerk“ zusammengefasst. Ab Februar 1951 erschienen in der NBI 25 Folgen mit „Herrn Kannitverstahn“, einem begriffsstutzigen Zeitgenossen, der den Zug der neuen Zeit nicht ganz begreift. Im Zeichen der Quartierwerbung für die Weltfestspiele geht ihm schließlich doch ein Licht auf. Nahtlos schlossen sich für ein knappes Jahr die Abenteuer von „Lutz und Evchen“ an. Auch an den frechen Rangen wird ein Wandel zum Positiven spürbar. Hat da die Redaktion hineingefunkt? Während Lutz und Evchen am Anfang noch zu Streichen aufgelegt sind, verbotenerweise auf hohe Masten klettern oder einen Volkspolizisten foppen, wandeln sie sich schnell zu aufgeweckten Kindern, die gedankenlose Erwachsene auf den rechten Weg führen oder älteren Mitbürgern helfen. Man sieht den hingeworfenen Strips an, dass Werner Klemkes erster Job der eines Trickfilmzeichners war. In der Serie „Burattino“, die er 1982/83 für die Illustrierte Freie Welt nach einer Vorlage von Alexej Tolstoi schuf, war er bereits zum Grafiker gereift.

Werner Klemke: Lutz, Evchen und Herr Kannitverstahn, Holzhof Verlag, Dresden 2015, 36 Seiten, 6,00 Euro.

*

Wie man mit einer Lebenskrise besser umgehen kann, indem man das Problem personifiziert, hat schon Andreas Dresen in „Halt auf freier Strecke“ gezeigt, als der Protagonist die Krebserkrankung als Gegenspieler hatte. Axel Ranisch hat sich nun – angeregt durch seine Freunde und Hauptdarsteller Heiko Pinkowski und Peter Trabner – dem Thema Alkoholmißbrauch gewidmet. Pinkowski spielt den Architekten Tobias, einen Familienvater, dessen bester Freund (die) Flasche (Trabner) ist. Wir sehen das feucht-fröhliche Paar in immer prekäreren Situationen – Tobias gefährdet das Leben seiner Kinder, als er sich endlich zu einer Therapie überreden läßt. Ranisch nahm das Thema ernst, wäre aber nicht Ranisch, wenn er nicht humorvolle Spitzen einbauen würde. Dazu agiert Robert Gwisdek als Troubadour mit eigenen, die Situation kommentierenden Liedern. Der Film tippt auch andere Suchtkrankheiten an (darunter Ranischs Oma Ruth Bickelhaupt als Medikamentenabhängige) und ist auf intelligente Weise unterhaltsam.

Alki Alki, Verleih missingFILMs, ab 12.11. in ausgewählten Kinos.

*

Kleine Filme in kleinen Häusern, große in großen! Im Berliner CineStar IMAX-Kino und im Filmpalast am ZKM IMAX in Karlsruhe hat sich die Technik ab sofort so sensationell (und teuer) verbessert, dass jetzt erst mal Sensationsstreifen wie „James Bond 007 – Spectre“, im Dezember, dann „Star Wars“ gezeigt werden. Wer Popcorn-Kino mag, kommt auf seine Kosten, denn man kann erstmalig auf dem europäischen Festland das duale IMAX Laser-Projektionssystem erleben, das noch schärfere Bilder in 2D und noch hellere Projektion in 3D bietet. Und wer bisher dachte, dass sich die Tonqualität der modernen Kinos nicht mehr steigern lässt, wird eines besseren belehrt. Die weiterentwickelte IMAX Tontechnologie hat einen noch kraftvolleren Ton. Das neue System wurde auf 12 einzelne Kanäle plus Sub-Bass umgerüstet, und beinhaltet zusätzliche Seitenkanäle und Überkopfkanäle. Wer Hollywoods Meisterkomponisten kennt, ahnt, was ihn erwartet. Schön muss es sein, mit dieser Technik Musical- oder Opernfilme zu erleben! Aber Derartiges ist momentan nicht in Sicht.

bebe

Aus anderen Quellen

Auf die Frage, wie es zur ebenso homogenen wie einseitig negativen Russland-Berichterstattung der hiesigen Leitmedien nach Ausbruch des Ukraine Konflikts gekommen sei, verweist die frühere ARD-Korrespondentin in Moskau, Gabriele Krone Schmalz, auf Relikte aus dem Kalten Krieg: „Es ist nichts langlebiger als Feindbilder.“ Darüber hinaus gehe die Schnelligkeit heutiger elektronischer Medien zulasten sorgfältiger Recherche und Analyse – Journalisten ständen unter permanentem Druck, der Konkurrenz zuvorzukommen. Auch zunehmender Kostendruck führe zu Qualitätsabfall und mindere die Medien- und Meinungsvielfalt. Vielfach werde daher quasi nur noch nachgebetet, was von den Leitmedien vorgegeben werde. Aber: „Ein demokratisches System sollte einem Journalisten die Freiheit geben, überall zu recherchieren, wo er das möchte.“ Es dürfe nicht alles, was nicht in den Mainstream passe, marginalisiert, ja diskreditiert werden. Und: „Wenn Politiker Entscheidungen mit Blick darauf treffen, wie sie in den Medien aufgenommen werden, dann ist aber nun schwer was falsch in unserem System.“
Interview mit Gabriele Krone-Schmalz, L.I.S.A. – Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, 05.10.2015. Zum vollen Wortlaut hier klicken.

*

Vor vier Jahren, daran erinnert Constanze Kurz, Autorin, Informatikerin und Sprecherin des Chaos Computer Clubs, war auf „Geheiß der Regierung in Washington […] im Jemen ein sechzehnjähriger Junge getötet worden. Die gezielte Ermordung eines Jugendlichen an sich durch einen bewaffneten Flugroboter in einem fernen Land ist grausamer Alltag im Drohnenkrieg. Heranwachsende ab zwölf Jahren können nach Militärlogik als legitime Ziele definiert sein. Den Unterschied aber machte seine Staatsangehörigkeit: Es war ein Junge aus Denver, Colorado. […] Im Fall des minderjährigen amerikanischen Bürgers erfolgte dieses Todesurteil zudem ohne irgendeinen Verdacht, der gegen ihn vorgelegen hätte.“ Den brauchen die Entscheider in den USA offenbar längst nicht mehr, denn „auch Metadaten der Kommunikation aus den weltweiten Überwachungsprogrammen der Five-Eyes-Geheimdienste [liefern] die Zielparameter für die Drohnenangriffe“, wie der ehemalige NSA- sowie CIA-Chef Michael Hayden bereits 2014 unumwunden eingeräumt hatte: „We kill people based on meta-data.“
Der Autorin geht es um die deutsche Mittäterschaft an diesem und vielen weiteren Drohnenmorden: „Wir können uns in Deutschland nicht länger damit herausreden, dass ja nicht wir über die Drohnenmorde entscheiden und nichts damit zu tun hätten. Denn die Militärstützpunkte in Ramstein und Stuttgart sind die technische Klammer, die Deutschland zum wichtigen Faktor bei den gezielten Tötungen macht.“
Constanze Kurz: Amerikas Drohnenkrieg Wir können uns nicht herausreden, FAZ.NET, 20.10.2015. Zum Volltext hier klicken.