18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Querbeet (LIX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Holtz und Rose, zwei große Theatermacher …

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„Wer nicht übt, ist nichts“, droht Caribaldi, Direktor eines verschlampten Kleinzirkus‘. Und drillt seit 22 Jahren seine vier wenig bis überhaupt nicht begabten Mitarbeiter, gemeinsam mit ihm Franz Schuberts berühmtes A-Dur-Streichquintett zur absolut perfekten Aufführung zu bringen. Sein Ziel, das Forellenquintett so zu können wie einst Pablo Casals. Alle wissen: Ist niemals zu schaffen, ist Wahnsinn. Aber dennoch: Üben! Immerzu üben! Denn für Caribaldi macht das rücksichtslose Abrackern für eine Idee den Sinn des Daseins. Üben ist für ihn Leben. Damit aufzuhören bedeutete Leere, wäre der Tod.
Thomas Bernhards hämisch als Komödie bezeichnetes Stück „Die Macht der Gewohnheit“ (uraufgeführt 1974 zu den Salzburger Festspielen) zeigt einen von der Sucht nach Vollkommenheit Getriebenen, einen besessenen Träumer (oder Utopisten). Obendrein aber offenbart diese Sisyphusiade des ewig Probenden, des ewig von Vollendung Träumenden ein Gleichnis aufs Dasein: Nämlich immerzu aufs Neue den abstürzenden Stein – hier: ein Felsbrocken aus Noten – den steilen Berg hinauf zu rollen. „Wir wollen das Leben nicht, / aber es muss gelebt werden. / Wir hassen das Forellenquintett, / aber es muss gespielt werden…“
Bernhards Farce zeigt einen schicksalsergebenen Misanthropen, der, zerrissen von dem eklatanten Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Wollen und Können, erstrebter Ordnung und erlebtem Chaos, als verbissener Dilettant immer und immer wieder strebend sich bemüht. Und dieses karikierende Porträt offenbart zugleich das Absurde, das dem Menschsein innewohnt. Bernhard umjubelt das Trotzdem, feiert das Leben – getarnt als wüste, aber kunstvolle Tirade des Trotzes und der Beichte eines alten, aufs Perfekte pochenden Klar- und Wahnsinnigen.
Das gibt eine Paraderolle für Schauspieler, zur Salzburger Uraufführung war es Bernhard Minetti. Jetzt spielt der gerade 83 Jahre alt gewordene Jürgen Holtz den Caribaldi. Sein bewundernswertes Kunststück ist, trotz aller fein ironisch ausgestellter Alterswehwehchen den machtbewussten Despoten, den bitterbösen Zampano des Leistungsterrors und der gezielt aashaften Demütigung lustvoll auszuspielen – aber gleichermaßen auch den von Bitterkeit durchtränkten Wissenden um alle Wirklichkeitsabgründe. Da funkeln Reste großer Menschenliebe, gar Schwundformen erotischer Triebe. Da mischen sich Lebensweisheit und ebensolche Lebensenttäuschung auf komisch-groteske, schmerzliche Weise. Da tobt einer, wütet und beißt giftig um sich und ist doch zugleich ein keck Verschmitzter, ein frecher Hund und tollkühner Kerl, den man in den Arsch treten und zugleich küssen möchte. Tolle Taumelei auf hohem Grat. Da muss Regisseur Claus Peymann, erprobter Bernhard-Kenner und -Könner, nicht allzu viel tun. Er lässt klugerweise den großen Meister machen und arrangiert um ihn herum die vier fein komödiantischen Mitspieler (Karla Sengteller, Peter Luppa, Joachim Nimtz, Norbert Stöß).
Natürlich bleibt es der unvergessliche Abend des großen Jürgen Holtz! Der kann aufs herrlichste als lüsternes Ekelpaket erschrecken und als vertrackter Philosoph überzeugen – betörende Unterhaltung; „crescendo, decrescendo“. Man amüsiert sich blendend in diesem aberwitzigen Künstler- und Wortwitz-Drama voller Sarkasmus und Weltweisheit und noch dazu mit einem solchen des Lebens überdrüssigen, es zugleich aber selbstverliebt auskostenden, größenwahnsinnigen „Genie“ unter lauter „einfachen Geschöpfen“. Man hasst diesen Charakterkopf, aber er muss geliebt werden. Dabei wischt man sich, zugegeben, ein paar Tränen der Rührung rasch weg.

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Hier ist das Leben und dort ist die Kunst, das Andere, das aus dem Leben Kommende. Doch was heißt „kommend“. Kunst ist dem Dasein abgerungen, aus ihm gekeltert und geformt. Das hat zunächst mit Wollen und Können zu tun; aber auch mit Gefühl und Geschmack, Fantasie, Instinkt und einem unbestechlich scharfen Blick. Und mit viel Wissen. Kunst ist eine vom Leben gespeiste Erfindung. Ein geradezu genialer Erfinder ist der Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose, der zuletzt auch als Regisseur die Bühne beherrscht.
Der 1937 in Bernburg an der Saale geborene, hoch gewachsene Herr mit dem dichten, silbergrauen Haar ist ein Theatermacher. Das Besondere dieser Tätigkeit: Sie prägt ein Doppeltes; sie ist von solistischer und zugleich kollektiver Art – verlangt mithin eine spezielle Machart des Machers, will er wirklich gut sein. Nämlich Stärke im Solistischen und Kommunikativen. Ist doch der einzelne Schauspieler nichts ohne seine Kollegen, und der Regisseur nichts ohne sein Ensemble, ohne den Bühnen- und Kostümbilder. Theaterkunst ist Mannschaftssport; ist ein komplexer Organismus – klappt es nicht mit einem Organ (Sprache, Figur, Raum, Farbe, Licht, Kostüm, Frisur, Requisit, Musik) oder mit einem der Mit-Macher (Autor, Regisseur, Spieler, Ausstatter, Musiker), kommt der komplette Organismus ins Stottern. Deshalb sind große Theatermacher immer besessene Perfektionisten in der Organisation des Zusammenspiels. Folglich heißt es bei Thomas Bernhard in „Minetti“, diesem tollen Stück über einen grandiosen Spieler: „Wenn wir nachgeben, ist alles zu Ende; wenn wir nur einen Augenblick nachgeben…“ – Jürgen Rose ist so ein absolut Unnachgiebiger; zuerst gegenüber sich selbst und dann all den anderen gegenüber auf und hinter der Bühne.
Am Anfang von allem steht selbstverständlich das genaue Lesen des Stücks, Silbe für Silbe, Komma für Komma. Hat Rose bei Noelte und Kortner gelernt (was heutzutage erstaunlicherweise keine Selbstverständlichkeit mehr ist). Ansonsten gibt es, so Roses feste Überzeugung, kein wirkliches Erkennen der Figuren, ihrer Konflikte, ihres Zeithorizonts. Die Schauspielerin Cornelia Froboess über Jürgen Rose als Ausstatter (in Münchens Residenztheater, Kammerspiele): „Was unsere gemeinsame Arbeit eigentlich ausgemacht und ausgezeichnet hat, dass nämlich alles, alle Erfindungen, alles was man weggeworfen und wieder zusammengesetzt hatte, dass das alles einer einzigen Sache gedient hat: der Aufführung. Und nicht irgendeiner Eitelkeit eines Bühnenbildners, der gesagt hätte, das muss aber so bleiben und es ist mir egal, ob die da drauf laufen können oder nicht … Alles geschah mit viel, viel Liebe für die Sache. Wir wollten alle dasselbe, wir wollten es stimmig machen miteinander. Das war auch eine große Vertrauenssache. Und das gibt es so heute nicht mehr.“ – Roses Kommentar: „Es ist halt anders geworden. Heute wird oft abgeliefert und fertig. Es fehlt die kostbare Entwicklungszeit. Wir hatten das Paradies, doch das kriegen wir nie wieder.“
Klingt pessimistisch; nach einem Halbjahrhundert Theaterarbeit für viele bedeutende Bühnen (etwa das Stuttgarter Ballett, für Münchens Staatsoper, Kammerspiele, Residenztheater, für Salzburg, Wiener Staatsoper, Hamburger Schauspielhaus oder Berliner Schillertheater). Jetzt ist, so Roses Beobachtung, vieles kurzlebig, irgendwie rasch hingeworfen, eindimensional auf einen Gag hin verkürzt. Schnapsideen und spekulative Effekthascherei dominieren sowie das vermeintlich Authentische, das platt-plakativ-journalistische Kopieren oder Ablichten von Realitäten. Das Theater produziert sich als flink zeitgeistiger Stücke-Durchlauferhitzer. Da stören langwierig dialogisch-kollektive, aufwändig penible Forschungs-, Detail- und Probenarbeit sowie akribisches Rollenstudium. Man mag nicht länger akzeptieren, dass Umwege oft zielführender (allerdings meist auch kostspieliger) sind als ein schnurstracks Geradeaus. Rose, ganz die alte große Schule: „Die Figuren werden nicht mehr ausgelotet und entwickelt, der gemeinsame kreative Prozess fällt weg, das Gespräch, die Zwiesprache, das Ausprobieren und Entdecken.“
In München würdigen jetzt zwei parallel gestaltete Ausstellungen das profunde, viel bewunderte Lebenswerk von Jürgen Rose. Der Blick geht zurück in seine Anfänge als Ausstatter des „Stuttgarter Ballettwunders“ Anfang der 1960er Jahre und reicht bis zu den jüngsten Arbeiten, beispielsweise die Ausstattung für Wagners „Ring“ in Genf, Regie Dieter Dorn. Diese so faszinierende und aufschlussreiche Zeitreise (300 Inszenierungen) verdeutlicht die durchaus schwierigen, aber dennoch „paradiesischen“ Theaterzustände, unter denen der „kreative Prozess“ stattfinden und Furor machen konnte. Erstaunlich dabei, zu welch stilistischer Vielfalt er führte. Früh schon fand Rose zur offenen Raumbühne und zu Abstraktionen – wenn sie denn der künstlerischen Wahrheitsfindung dienten. Die beiden wahrlich begeisternden Schauen im Münchner Theatermuseum am Hofgarten sowie in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Königsbau der Residenz präsentieren den Glanz und die Intelligenz und auch emotionale Kraft des Rose-Theaters, das (vermeintlich altmodisch) dem jeweiligen Stück dient, aber auch seinen Spielern. Und zugleich beide, Stück wie Spieler, herausfordert durch poetische, meist auch verstörende Vergegenwärtigung. Rose ist Illusionist und Realist zugleich. Und freilich ein besessener Idealist. Deshalb auch das sentimental-doppeldeutige Motto seines Künstlertums wie das seiner Lebens-Schau: „Nichts ist so lebensfüllend wie Theater“.
Wer es nicht bis zum 18. Oktober nach München schafft, findet im 255-Seiten-Katalog (Henschel Verlag Berlin) eine Auswahl signifikanter Bilder (delikate Zeichnungen, suggestive Szenenfotos und Figurenporträts); dazu hintergründige Textbeiträge prominenter Autoren, durchweg Roses Kollegen, die er, davon erzählen sie anschaulich und begeistert, permanent zum Mitdenken animierte. Zur fragenden Auseinandersetzung. Das Buch und freilich noch intensiver die beiden Ausstellungen imaginieren eine so opulent-großartige wie differenziert feinsinnige Hommage auf einen epochalen und – dies vor allem – vorbildlichen Theatermacher; oder anders: Theaterentwickler. Bravo!