18. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2015

Querbeet (LVII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Toiletten-Sex, Hauptmann-Wanderung, durchlöcherte Jeans …

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Die französische Dramatikerin Yasmina Reza ist ein Weltstar. Und obendrein schwer verliebt in das deutschsprachige Theater mit seinen wunderbaren Schauspielern (präzise Einfühlungs-Könner, feinfühlige Subtext-Bloßleger), mit seinen ingeniösen Regisseuren, die es verstehen, sogar – wenn es denn sein muss – jenseits aller Dekonstruktionen diese so wunderbar ein- und feinfühlenden Schauspieler geradewegs ins Göttliche zu treiben. Vor zwei Jahrzehnten gelang das Felix Prader an der Schaubühne mit „Kunst“ – wurde ein Welthit. Die beiden folgenden Welterfolge „Gott des Gemetzels“ und „Drei Mal Leben“ brachten Luc Bondy und Jürgen Gosch in Zürich bzw. Wien zur Uraufführung; Rezas Literaturbetriebs-Satire „Ihre Version des Spiels“ kam unter Stephan Kimmigs Regie an Berlins Deutschem Theater heraus. – Großes Reza-Rauschen im deutsch sprechenden Hochleistungs-Virtuosentheater, das so besonders gut passt für die besondere Kunst dieser Autorin, bitterböse und übelriechende Abgründe im gutbürgerlich routinierten, fein duftenden Daseinsbetrieb freizulegen. Da blitzen dann unvermutet Menschheitsdramen auf im perfekt geölten Reza-Beziehungskisten-Boulevard. Da zeigt sich urplötzlich die entsetzliche Brüchigkeit der so sehr sicher geglaubten, doch eigentlich hauchdünnen Decke des Zivilisatorischen. – Dabei spielt die Dame höchst raffiniert und unheimlich unterhaltend mit Schnitzler, Tschechow, Albee oder Allen. Tollkühne, sarkastisch schillernde Kunststücke!
Jetzt hat Yasmina Reza ein neues Stück ertüftelt – eigens für ihren Lieblingsregisseur Thomas Ostermeier, dessen Arbeiten sie bei Gastspielen der Berliner Schaubühne in Frankreich so sehr bewunderte. Doch leider, bestürzende Überraschung: In „Bella Figura“ bleibt der Hickhack, den sich zwei bedauernswerte Paare auf dem Parkplatz und danach im Nobelrestaurant liefern, eben bloß Hickhack – und weiter fast nichts. Dabei steckt, Reza-Kenner ahnen es schon, bereits im Titel höchst Theatertauglich-Katastrophales: Man möchte gute Figur machen, obgleich alle Beteiligten wissen, dass all ihr bella Mit- und Beieinander bloß große Scheiße ist. Doch, um drastisch im Bilde zu bleiben, die Scheiße kommt und kommt nicht zum Kochen.
Was soll ein Regisseur nun tun, bekommt er exklusiv auf dem Silbertablett die gepflegte Belanglosigkeit einer Weltberühmtheit gereicht? Kann ihr ja mal passieren; geschieht in den besten Familien. Trotzdem: eine Riesenenttäuschung. Doch ablehnen – unmöglich! Also versucht der arme Ostermeier, mit dem müden Blabla bella Figura zu machen. Wobei ihm seine beiden Stars, Nina Hoss und Mark Waschke, hingebungs- und aufopferungsvoll assistieren. Und noch dazu die exquisiten Stichwortgeber Stephanie Eidt, Renato Schuch, Lore Stefanek. Dennoch, es gelingt nicht. Die Chose klebt wie zäher Kaugummi am Bühnenboden. Da hebt nichts ab und bricht nichts ein oder auf. Fade Figuren rackern bloß redlich sich ab, schleppen sich von Pointchen zu Pointchen. Quasselstrippentheater! Immerhin wird, das ist man sich schuldig, gekonnt gequält an der dürftigen Strippe entlang geplappert. Macht freilich trotz einigen Aufwands an optischen Effekten sowie eines Quickies auf dem Kneipenklo keine gute Figur.

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Im Nest namens Erkner vorm Rand der Reichshauptstadt lebte Gerhart Hauptmann, der spätere Literatur-Nobelpreisträger, mit seiner ersten Ehefrau. Hier war man sexuell wie literarisch schwer aktiv, hier kamen die Söhne Ivo, Eckart, Klaus zur Welt. – Es waren „grundlegende Jahre“ in Erkner, erinnert sich G. H. „Mit der märkischen Landschaft aufs innigste verbunden, schrieb ich dort ‚Fasching‘, ‚Bahnwärter Thiel‘ und mein erstes Drama ‚Vor Sonnenaufgang‘. Die vier Jahre sind sozusagen die vier Ecksteine für mein Werk geworden“, heißt es in einem rückblickenden Brief zu Weihnachten 1936 an die Gemeinde. – Die betreibt seit 1987 mit beträchtlichem Aufwand im „Ecksteinhaus“ (eigentlich Villa Lassen, benannt nach den einstigen Besitzern, die Hauptmanns waren ihre Mieter) ein sehr feines, frisch und geistreich hergerichtetes und mit vielfältigen Veranstaltungen aufwartendes Literaturmuseum – zugleich zentraler Veranstaltungsort des Städtchens in Märkisch-Oderland vor den Toren Berlins mit S-Bahn-Anschluss. Das Museum verwahrt wertvollste Archivmaterialien und Bibliotheksbestände und gibt höchst anschaulich und pointiert einen Gesamtüberblick über das von schweren politischen Widersprüchen aber auch künstlerischen Höchstflügen gezeichnete Leben des Ruhmreichen.
Soeben erschien im Verlag für Berlin-Brandenburg ein Museumsführer (8 Euro), der eigentlich sehr viel mehr ist als bloß Katalog. Das zeigt sich schon in der Autorenschaft: Stefan Rohlfs, Museumswissenschaftler und rühriger Direktor des Hauptmann-Hauses, hat sich mit dem Literaturwissenschaftler Robert Schieding zusammengetan. Ihr reich illustriertes Werk bringt ein Porträt des Dramatikers in seiner Frühphase, verweist auf die Umstände seines Schaffens, sonderlich auch die familiären. Obendrein wird das schriftstellerische Schaffen in Bezug zur damaligen Zeit erörtert und Hauptmanns Stellung in der Weltliteratur beleuchtet. Zudem gibt es – Literatur-Touristen aufgepasst! – prima Tipps für herrliche Spaziergänge in Erkner und um Erkner herum auf den Spuren des Dichters.

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Mit dem Begrüßungsgeld war Brigitte P. „völlig überfordert“. 100 Westmark und dieser Warenrausch. Das irritierte derart, dass sie schlicht bloß nach einem Deo griff – „La Frou“. Hans R. nahm aus gleichem Anlass die Queens-LP „The Game“, Ursula M. holte sich endlich echte Lewis. Die abgewetzten Jeans – wie das leere Deo und die angenagte Platte – liegt jetzt unter Glas als Exponat in der Ausstellung des Berliner Deutschen Historischen Museums „Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft“.
Zum Anfang vom „Übergang“ gehört die Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz kurz vor dem Mauerfall mit ihren genialisch-witzigen Plakaten. „Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der man nicht sitzt, wenn man nicht hinter ihr steht“, heißt es da. Die pittoreske Sammlung der damals immerhin noch staatsfeindlichen Sichtagitation wurde hervorgekramt aus dem Keller der Berliner Volksbühne, wo sie bislang lagerte. Hervorgekramt ist hier das rechte Wort. Denn viele Exponate stammen aus privaten Kramkisten geschichtsbewusster Ostler.
Da gibt es die Mitbringsel der ersten Fernreisen in bislang verbotene Gebiete; Barbara B. kaufte in der Provence beispielsweise rustikale Steingutteller, Marianne Sch. Brachte von Mallorca ein Badetuch mit — Banalitäten, die zu Reliquien wurden. Daneben das mit unheiligem Zorn warnende Protestplakat eines Häuslebesitzers aus Kleinmachnow gegen westdeutsche Rückübertragungsforderungen: „Für grundstücksfremde Personen (Wessis) ist das Betreten dieses Grundstücks strengstens untersagt!“ Und um die Ecke die Vitrine mit Kündigungsschreiben an die Kollegen der in Abwicklung befindlichen volkseigenen Betriebe. Ein Schritt weiter Geschichten über Monitor aus dem herzigen neuen deutsch-deutschen Liebesleben. Und spektakuläre Fotos der gigantischen Aufbauarbeit der so unglaublich verfallenen Ost-Orte. Dazu passend ein besonders anrührendes Dokument: der originale Zettel mit dem Aufruf zum Wiederaufbau der Frauenkirche Dresden.
Es sind aufgehäufte Geschichtsschnipsel, die sich da im Pei-Bau des DHM zu einem Puzzle fügen, das die Zeit zwischen dem Herbst 89 und den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung imaginiert. Doch soll sich jeder auf unterhaltsame Weise sein eigenes Bild basteln aus diesem pittoresken (gelegentlich auch erschütternden) Sammelsurium. Vom tollkühn stromlinienförmigen Entwurf eines Fernsehers des Italieners Luigi Colani für die RFT AG Staßfurt – ein letzter Versuch, der leider auch nicht den Untergang dieser einst so stolzen sozialistischen Firma verhindern konnte – bis hin zum Umlaufkartei-Gerät der Stasi, das dann für die Arbeit der Gauck-Behörde so eminent wichtig wurde. Daneben das speziell Anarchische dieser Zeit: die Hausbesetzer in der Mainzer Straße Ostberlins. Oder eine Nachbildung des Eingangs vom legendären Techno-Tempel „Tresor“ in der Leipziger Straße Berlin-Mitte. Und in der Ohrmuschel wummert’s leise …