18. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2015

Hermann Hesse und kein Ende

von Mathias Iven

Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, warum uns das Werk Hermann Hesses bis heute so fasziniert? Die seit dem vergangenen Jahr erscheinenden Hesse-Lectures versuchen darauf eine Antwort zu geben. Alleiniger Autor ist Volker Michels, der sich seit Jahrzehnten der Edition von Hesses Werk verschrieben hat. Anders als es der Reihentitel suggeriert, handelt es sich bei den in der Edition Faust erscheinenden Bändchen jedoch mitnichten um „Lectures“ im landläufig akademischen Sinn, da neben Vorträgen und Interviews auch bereits an anderer Stelle erschienene Texte präsentiert werden.
Unabhängig davon, dass sich nach der Einschätzung von Michels „zwischen Popularität und offizieller Wertschätzung“ momentan eine breite Kluft auftut, sind die Bücher Hermann Hesses als „Ermutigungen zu humanem Widerstand“ gefragter denn je. In seiner bereits im letzten Jahr unter dem Titel „Impulse zur Humanisierung“ veröffentlichten Hesse-Lecture hob Michels vor allem das dem Werk Hesses innewohnende Moment des Individuellen hervor: „Er macht uns Mut, unsere Veranlagungen und Begabungen, die uns von den Mitmenschen unterscheiden, nicht als normwidrige Marotten wahrzunehmen und irgendeinem Durchschnitt anzupassen, sondern sie als Chance zu einem eigenständigen Leben zu begreifen und zu verwirklichen.“ Und nicht nur das. Hesses Dichtungen sind „Kontrastprogramme zu den Konfliktherden unserer übervölkerten, sozial zunehmend ungerechteren materialistischen Welt“.
Einmal mehr wird das sicherlich deutlich, wenn man sich in einer Zeit von Glaubenskriegen mit dem religiösen Weltverständnis von Hesse beschäftigt. Dieser unterschied die Menschen in seinem 1932 veröffentlichten Aufsatz „Ein Stückchen Theologie“ in zwei Grundtypen: die Frommen und die Vernünftigen. Sich selbst bescheinigte er eine Art von Frömmigkeit, die nichts anderes als Vertrauen zu sich selbst sei. Denn, so Hesse: „Nicht mit Abrechnungen, Schuld und bösem Gewissen, nicht mit Kasteiung und Opfern wird der Glaube gewonnen.“
Eine solche Haltung resultierte aus Hesses Erziehung, die wesentlich durch das von den Eltern vorgelebte Christentum der Tat als einer praktizierten Nächstenliebe geprägt wurde. So sehr Hesse sich damit auch identifizierte, so erkannte er darin dennoch die verborgene Widersprüchlichkeit. Als „echter Protestant“ wehrte er sich gegen jede Art von Dogma, weil, wie er betonte, „sein Wesen ihn das Werden mehr bejahen heißt als das Sein“. Nicht dass man glaubt, sondern was man glaubt war ihm wichtig. 1918 fasste er das in die Formel: „Der Weg zur Erlösung führt nicht nach links und nicht nach rechts, er führt ins eigene Herz, dort allein ist Gott, dort ist Friede.“
Folgerichtig konnte es für Hesse keinen all-einzigen Gott oder eine all-einzige Religion geben. Mit seiner indischen Dichtung „Siddhartha“ bekannte er sich zu einem Glauben, der die fernöstliche Weisheit und das Christentum zusammenbrachte – wobei Ost und West von ihm lediglich als „vorübergehende Pole unseres Inneren“ verstanden wurden. Volker Michels bringt solcherart von Glaubensverständnis in seiner Betrachtung „Hermann Hesse und die Weltreligionen“ auf den Punkt: „Hesse [war damit] in die große, wenn auch unsichtbare Gemeinschaft jener Menschen eingetreten, die das Regionale und Dogmatische überwunden haben und stattdessen mit den kosmopolitischen Geistern aller Zeiten, Nationen und Sprachen übereinstimmen.“
Themenwechsel. Hermann Hesse nannte ihn einen „Meister der Freundschaft“: gemeint ist Stefan Zweig. Schon vor Jahren hat Volker Michels die Edition von dessen Gesammelten Werken bei S. Fischer initiiert und gemeinsam mit Donald Prater den Band „Stefan Zweig. Leben und Werk im Bild“ herausgegeben. Dass er sich auch in Zweigs Werk bestens auskennt, dokumentiert der jüngste Band der Hesse-Lectures. Darin finden sich unter anderem das nur wenig veränderte Nachwort zu dem von Michels 2006 herausgegebenen Briefwechsel zwischen Hesse und Zweig sowie zwei Beiträge, die sich mit Zweigs Beziehungen zu Indien beziehungsweise Brasilien beschäftigen.
Zweigs Bücher finden bis heute ihre Leserschaft. Michels sieht den Grund dafür in der „Ausgewogenheit und Gerechtigkeit seiner Wertung, die bei aller Parteinahme für seine tragischen Helden auch immer deren Gegner zu Wort kommen lässt“. Dabei, so erklärt er weiter, „ist ihm das Versagen des Individuums nicht weniger wichtig als seine Prägung durch die Gesellschaft“. In einzigartiger Weise sei es Zweig gelungen, „das Vergangene auf eine Weise zu vergegenwärtigen, dass wir zu Augenzeugen werden“. Allerdings darf dabei auch nicht übersehen werden, dass manch eine aus dem Zusammenhang herausgelöste Formulierung „mitunter an Glanz [verliert], zumal wenn sich Rhetorisches und Dramatisches überlagern“.
Was den Hesse-Lectures derzeit noch fehlt ist ein einheitliches Auftreten. Das betrifft weniger die Form oder das Schriftbild, als vielmehr das „Drumherum“. So wünscht man sich beispielsweise bei den zahlreichen Zitaten durchgängig Verweise auf ihre Herkunft. Und warum kann man nicht, wenn es sich um einen Wiederabdruck handelt, auf die Erstveröffentlichung verweisen? Hier sollte der Verlag nachbessern – die von Volker Michels für die Verbreitung von Hesses Werk erbrachte Lebensleistung hat es ohne Zweifel verdient!

Volker Michels: Alle Götter und Teufel sind in uns selbst. Hermann Hesse und die Weltreligionen, Edition Faust, Frankfurt a.M. 2015, 32 Seiten, 10,00 Euro.
Volker Michels: Die Tat beginnt immer mit dem Traum. Hermann Hesse und Stefan Zweig, Edition Faust, Frankfurt a.M. 2015, 128 Seiten, 14,00 Euro.