18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

Wer hat die Macht?

von Stefan Bollinger

Der Wiener Historiker und Publizist Hannes Hofbauer ist als scharfsichtiger Beobachter osteuropäischer Transformationen von einem vielleicht maroden, immerhin staatssozialistischen System hin zu abhängigen, ausgebeuteten kapitalistischen Gesellschaften bekannt. Nun verdichtet er seine Analysen zu einem Großen und Ganzen: Der Kapitalismus habe eine neue, diktatorische Qualität erreicht, die EU sich zu einer Maschinerie unkontrollierter Kapital- und Profitsicherung gewandelt.
„Diktatur des Kapitals“ ist für ihn keine Wortspiel, sondern die demokratie- und machtpolitische Konsequenz eines Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, dem seit 1989/91 die Alternative abhandenkam. Denn so unvollkommen der Realsozialismus mit seinen Demokratiedefiziten und diktatorischen Entgleisungen in der Systemauseinandersetzung war, er hatte soziale Gerechtigkeit und Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche auf seine Fahnen geschrieben und zu praktizieren gesucht. An dieser Alternative musste sich der Kapitalismus reiben. Nun ist aber selbst die weit schwächere sozialdemokratische Korrekturoption zahnlos geworden und auf das neoliberale Modell eingeschworen.
Hofbauer misst die Demokratieversprechungen der EU an der Realität. Für ihn haben die Krisenprozesse seit 2007/08 nur den grundlegenden Wandel in der politischen Machtausübung moderner bürgerlicher Gesellschaften enthüllt. Politik hat sich der Ökonomie, dem Profit unterworfen. Nicht erst seit dieser Krise zieht „eine Spur der sozialen Verwüstungen und des regionalen Auseinanderbrechens durch Europa. Schmerzlich musste die Bevölkerung im Osten des Kontinents bereits in den Jahren der Wende nach 1989/91 erfahren, welche gesellschaftlichen Auswirkungen eine forciert durchgesetzte kapitalistische Rationalität mit sich bringt und wie ohnmächtig demokratisch gewählte Strukturen der Kapitalmacht gegenüberstehen.“
Völlig zu Recht erinnert er an eine andere Kapitalismusvariante in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Profitgier wurde politisch gebremst, sozialstaatlich gezähmt – ohne das Eigentums- und Akkumulationssystem in Frage zu stellen. Das war Reaktion auf Systemkonfrontation wie innere Klassenkämpfe und ermöglichte Zugeständnisse für die Masse der Beschäftigten. Die Systemkonkurrenz bewirkte „im Westen des Kontinents eine Art Wettstreit von Wertehaltungen. Die Attribute sozialistisch/sozialdemokratisch, konservativ, christlich und national repräsentierten Weltanschauungen, die sich in Abgrenzung zum kommunistisch identifizierten Gegenüber sahen. Nicht zuletzt durch das politische Primat über wirtschaftliche Prozesse im Osten sahen sich die Eliten im Westen veranlasst, ihre ideologischen Attribute als politische Handlungsanleitungen zu verstehen.“
Allerdings ist einzuschränken: Was Hofbauer skandalisiert – und was angesichts der aktuellen Krisen auch manch einstige Freunde des Kapitalismus verwirrt und dessen Gegnern Auftrieb gab, ist Wesen dieses Systems. Die Jahre zwischen 1945 und den 1970er (national unterschiedlich zu periodisieren) waren nur Ausnahmen – die aber funktionierten – und die heute das historische Gegenargument zum neoliberalen Kurs abgeben. Allerdings, nur unter konkreten nationalen wie internationalen Kräfteverhältnissen nimmt das Kapital partiell von einigen Profitinteressen Abstand. Nur so kam es zu einem Interessensausgleich der Kapitalisten untereinander und gegenüber der Arbeiter- sowie später den neuen sozialen Bewegungen. Die Bilanz dieser abgetrotzten Demokratie ist ambivalent – ihre Möglichkeiten zum Verhindern von faschistischer Diktatur und Terror, jedoch ebenso der Manipulation der Massen bis hin zur Entfremdung von Demokratie.
Das Buch ergänzt wirtschaftshistorisch andere kritische Positionen wie die zum Beispiel von Frank Deppe („Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand“). Wenn Hofbauer schreibt, dass „global agierende Kapitalgruppen, euphemistisch ‚Märkte’ genannt, Parlamente und Regierungen vor sich her (treiben)“, dann geht es nicht allein um den Schutz wirtschaftlicher und sozialer Kapitalverwertungsbedingungen, sondern um handfeste Sicherung politischer Macht in den Händen der besitzenden Minderheit. Und dies ungehindert durch alle vordergründigen politischen Fassadenspielereien.
Plastisch demonstriert er das an Hand der ökonomischen Durchdringung Osteuropas, dem Überstülpen kapitalistischer Strukturen und Mechanismen – nicht in ihrer sozialstaatlichen, rheinisch-kapitalistischen, sondern in ihrer brutal-neoliberalen Ausrichtung. Das Oktroyieren der „Einheitlichen Europäischen Akte“ wirkt hier ebenso wie die neoliberal begründete Austeritätspolitik zu Lasten der Bevölkerung bei gleichzeitigem Hofieren frühkapitalistischer Oligarchen. Der Testlauf Osteuropa machte das Modell erst tragfähig und scheinbar unantastbar. Nun schlägt es auf jene westlichen Staaten zurück, die zunächst glaubten, dass Thatcherismus und Reaganomics fern von ihnen stattfänden.
Hofbauer betont: „Die parlamentarische Demokratie […] ist spätestens in den 1990er-Jahren zu einer ‚liberalen Demokratie’ mutiert. Der darin bestimmende konstitutionelle Liberalismus definiert Gesellschaft nach Parametern der Profitfähigkeit. Die einzelnen Individuen werden in dieses enge Korsett privatisierter, verrechtlichter und alle Lebensbereiche kontrollierende Muster geschnürt. Multiple Souveränitätsverluste sind die Folge, sie betreffen das kollektive Gemeinsame genauso wie die Beziehung von Einzelnen zueinander.“
Generell ist zu fragen: Für wen und für welche Themen gelten demokratische Spielregeln und wer bestimmt sie? Jeder korrigierende Eingriff wird so zu einem Angriff auf die liberale Ordnung, nur dass diese eben von dem zentralen Menschenrecht der „unternehmerischen Freiheit“ her definiert wird, wenn man den alten Harry S. Truman mit seinen Doktrinen in Erinnerung bringen darf. Die waren damals zwar ideologisch relevant für die Unterfütterung des „Freiheitskampfes“ der Völker des Realsozialismus, wurden aber in der westlichen Politikpraxis damals nur so weit ausgeschöpft, wie es Klassenkampf und gesunder Menschenverstand erlaubten. Heute stoppt hier niemand mehr.
Vielleicht deutlicher gesagt als bei Hofbauer: Es gab seit den 1970er Jahren eine putschartige Umorientierung des Kapitalismus – gegen den Ostblock und gegen die 68er, weil es technisch möglich wurde und mit allen Mitteln – des Terrors im Pilotprojekt Chile, mit ideologischen Gegenbewegung auch vor dem Hintergrund der Schwäche des Realsozialismus, dessen vermeintlicher Expansion und der Aktionen von Linksradikalen in den westlichen Metropolen (RAF, Weatherman) und schließlich des brutalen exemplarischen Klassenkampfes gegen streikende Fluglotsen in den USA oder Bergleute in Großbritannien. Bei allem Betonen der Zäsur ab 1989, der Zerschlagung der realsozialistischen Staaten ging deren wirtschaftliche Ruinierung, aber noch mehr die Zerschlagung der westlichen Arbeiterbewegung, der marxistischen Linken voraus – egal, ob Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, und egal, ob sie es schon merkten oder nicht.
Für Linke aller Couleur steht im Raum: „Politik jenseits eines wirtschaftsliberalen Korsetts wird zunehmend verunmöglicht.“ Wer das Geld hat, der bestellt die Musik, der hat die Macht. Im Sinne des Lissabon-Vertrages mit Hofbauers Worten: „Die ökonomischen Vorgaben engen den Raum für jede gesellschaftsverändernde Politik extrem ein. Immer wieder ist im Vertrag von einer ‚offenen Marktwirtschaft’ die Rede, die als strikte Vorgabe für jede wirtschafts- und währungspolitische Maßnahme betrachtet wird.“ Das haben Iren, Zyprioten, Griechen wiederholt in der jüngsten Krise erfahren müssen. Ökonomischer Zwang mit politischen Instrumenten verpackt und ideologisch gerechtfertigt sichert weit effektiver Macht als Knüppel und Kerker.

Hannes Hofbauer: Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter. Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien 2014, 240 Seiten, 17,90 Euro.