18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

Fliegt ein Engel durch den rauchigen Himmel

von Margit van Ham

In Wendezeiten und danach, als man sich fragte, wer man eigentlich sei und Identitätsanker, das Zuhause suchte, gab es einen, der mit seinen Liedern genau diese Stimmung wiedergab: Gerhard Gundermann.

und ich sehe auf der strasse nach norden
dieser teil der welt ist ganz anders geworden
ich schwimme mittendrin in meinem alten hemd
gehöre noch dazu und bin noch ziemlich fremd
und ich frag mich was ich bin was ich war

Er beschrieb den Abschied von der Arbeit – so viele konnten diese Erfahrung aus eigenem Erleben nachvollziehen. Es hatte ja Hunderttausende im Lande betroffen.

da fliegt ein engel durch den rauchigen himmel über dem revier
er hat jetzt fast ein halbes leben auf mich aufgepasst jetzt trennt er sich von mir

abschied geht einfach ich gebe nur den helm ab
nehm das handtuch die stiefel und vom spind das schloss
das alte hemd das mir ein betrunkener schelm gab
das zerreiss ich und schon lässt mein schutzengel los

60 Jahre wäre er jetzt geworden – wehmütig macht der Gedanke an seinen frühen Tod im Jahr 1998 noch heute. Gundermanns Texte sind inzwischen auch im Westen angekommen. Die zeitlose Poesie und Rauheit der Lieder gehen so direkt ins Herz und berühren hier wie da auch junge Leute, die ihn gar nicht mehr selbst erlebt haben, und auch nicht diese Zeitenwende. Das sollte Gundermann – oder Gundi wie er liebevoll, aber auch manchmal vereinnahmend genannt wird – freuen, wenn er vielleicht seinen Dienst bei den „Engeln über dem Revier“ ableistet oder das „Frühstück für immer“ genießt.
Wie die Berliner Zeitung schrieb, sind derzeit an die zwei Dutzend Programme mit Gundermann-Liedern im Lande unterwegs. Da gibt es seit 2001 die Randgruppencombo aus Tübingen, die alte Seilschaft von Gundermann natürlich, die Schauspielbrigade Leipzig, Axel Prahl und Andreas Dresen, um nur einige zu nennen. Buschfunk sei Dank für diese Möglichkeiten! (Prahl und Dresen hatten bei ihrem Geburtstagskonzert für Gundermann in Berlin mit ihren/seinen Liedern berührt; ihr Zwischengeschwätz und „Gundi-Gehabe“ wollten aber so gar nicht passen. Schade. Und Leute – ein Gundermann-Publikum will seine Texte hören und mitsingen, aber nicht Rhythmusklatschen …!)
Richard Engel hat im Berliner Babylon seine ungeschnittene Dokumentation über Gerhard Gundermann gezeigt, die den Zeitraum von 1983 bis 1998 umfasst (vielleicht wird es auch eine DVD dieser Aufnahmen geben). Drei Stunden, die sich lohnen, um dem Arbeiter, Baggerfahrer im Braunkohlerevier und dabei Umweltbesorgten, dem Vater, Ehemann – und dem Poeten und Musiker noch einmal nahezukommen. Den für seine Umwelt auch schwierigen Anspruch auf unbedingte Ehrlichkeit zu erleben. Den Glauben an die gerechte Sache und seinen Zweifel. Er war als 18-Jähriger IM geworden, später beendete er die Zusammenarbeit, wurde selbst ein „operativer Vorgang“. Parteiausschluss aus der SED. Das Leben zwischen Auftritt und Schicht – Gundermann wollte von der Hände Arbeit leben, als Künstler unabhängig sein. Die Nachwendezeit, Verlust seiner „Liederwerkstatt“ – der Bagger war kreativer Ort – und das Outing des Ex-IM, Gespräche mit den Betroffenen. Das Ignorieren gesundheitlicher Probleme und die Freude über Nachkömmling Linda (du bist in mein Herz gefallen …). Da hat jemand gebrannt und ahnte, dass er wohl nicht viel Zeit haben werde.

und ich habe keine zeit mehr
ich stell mich nicht mehr an
in den langen warteschlangen
wo man sich verkaufen kann
und ich habe keine zeit mehr
ich nehm den handschuh auf
ich laufe um mein leben und gegen
den lebenslauf

Ach Gundi, denkt man… hättest Du doch. Aber – wären seine Lieder so authentisch geworden, so anrührend, hätte er hausgehalten mit seiner Kraft? Er hat wohl diese Frage vorweggenommen und sie selbst beantwortet.

ich mache meinen frieden mit dir du grosser gott
ich nehm’ was du mir bieten kannst, leben oder tod
ich will mich nicht mehr drängeln und will mich nicht verpissen
und wer mich angeschissen hat will ich auch nicht mehr wissen
so fülle meinen becher ich trink ihn bis zur neige
nun gib mir schon mein kreuz oder eine geige