18. Jahrgang | Sonderausgabe | 9. Januar 2015

Humanismousse au chocolat

von Georg Schramm

Als 14-jähriger bekam ich für meine ehrenamtliche Arbeit in der Schulbücherei als Geschenk zwei Bände „Tucholsky Ausgewählte Werke“. Ich las sie mit zunehmender Begeisterung und in meiner Phantasie dachte ich mir kleine Texte aus, in denen ich Tucholsky nacheiferte; ich habe mich aber nicht getraut einen aufzuschreiben.
Aber seine Texte haben meine politische Haltung und später meinen Stil nachhaltig geprägt.
In meinem ersten Kabarett-Programm sang ich ihm zu Ehren a capella das Lied „Anna-Luise“. Und einer meiner – wie ich finde – schönsten Texte „Bürgerliche Wohltätigkeit“ ist Kurt Tucholsky gewidmet und nach seinem wunderbaren gleichnamigen Lied benannt. Der Text war nicht Teil eines Kabarettprogramms, sondern wurde von mir als Festrede bei einer Wohltätigkeits-Gala vorgetragen.

Bürgerliche Wohltätigkeit
(Rede im Steigenberger Insel-Hotel Konstanz)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Wohltäterinnen und Wohltäter!
Wir erleben in vielfacher Hinsicht einen bemerkenswerten Abend. Ein exquisites Buffet, schöne Frauen und große Weine einer alten Kulturlandschaft, zusammengeführt in einer festlichen Ballatmosphäre, die wir nicht zuletzt der sorgfältigen Auswahl der Gäste verdanken: Wo gibt es das heute noch? Und: Wem verdanken wir dieses kulturelle Kleinod? Es lohnt sich, dieser Frage kurz nachzugehen.
Auf den ersten Blick ist es ein scheinbarer Missstand, der diesen glanzvollen Abend hervorbringt. Beim millionenteuren Bau der neuen Kinderklinik fehlen am Ende ein paar zehntausend Mark für die kindgerechte Ausstattung. Professor Schwenk, der Klinikleiter, hat uns ja den unmittelbaren Anlass dargestellt. Aber lassen Sie uns noch für einen Moment der Frage folgen, weshalb derartige Ereignisse wie der heutige Wohltätigkeitsball so selten geworden sind. Es hat ja zu allen Zeiten die großen Bälle der Burschenschaften, der Logen, Rotarier und Lions Clubs gegeben, die wesentlich der Unterstützung und Förderung des männlichen akademischen Nachwuchses dienten. Auch die Stahlindustrie hat zu Beginn des Jahrhunderts, in den schweren Zeiten der Weimarer Republik und in der Krisenzeit der siebziger Jahre den notleidenden und bedrängten Parteien Unterstützung zukommen lassen.
Gänzlich unvergessen aber die Hilfe im Kleinen: Die unzähligen Feste und Basare rühriger Bürgersfrauen, die sich die Finger wund strickten für die wärmende Winterkleidung der einfachen Soldaten, die zum Wohle des aufsteigenden Bürgertums ins Feld zogen. Natürlich brauchen wir heute keine Pulswärmer mehr für die Infanterie zu stricken. Und ein Ball wie dieser mit einer Spendensumme von 20 bis 30.000 Mark könnte gerade mal den Sitzgurt vom Schleudersitz des neuen Abfangjägers der Luftwaffe finanzieren.
Fraglich ist auch, ob die von uns so beschenkten Kampfflieger die Spende auch mit einem dankbaren Leuchten ihrer dunklen Kinderaugen und einer kleinen Flugvorführung mit dem neuen Spielzeug vergelten würden. In diesem Bereich ist also aus gutem Grund die Gemeinschaft aller Steuerzahler notwendig, und – dies sei anerkennend hinzugefügt – sie wird in diesem Bereich ihrer Aufgabe auch gerecht. Aber wenn man oben den wehrhaften Arm des Volkskörpers mit der finanziellen Decke wärmt, werden unten die Füße kalt. Die Decke fehlt an der Basis des Gemeinwesens. Auch hier gibt es jedoch Grenzen des für die Spendenbereitschaft so wichtigen guten Geschmacks.
Stellen Sie sich vor, die oben genannte Summe fehlt im benachbarten Etat: Beim Dienstwagen des Landrats reicht es nicht für die S-Klasse. Der Landrat wäre gezwungen, einen nur mit dem unbedingt Erforderlichen ausgestatteten VW oder Opel fahren zu lassen mit allen schädlichen Konsequenzen für seine psychische Entwicklung. Ein Wohltätigkeitsball mit Tanzeinlage der Schreibkräfte und Tombola des Personalrats wäre kaum denkbar, das Spendenaufkommen eher gering. Der adäquate Platz von Wohltätigkeitsveranstaltungen ist deshalb ohne Zweifel der soziale Bereich. Nur hier ist eine finanzielle Lücke sinnvoll und trifft auch auf das schlummernde Bedürfnis potenzieller Spender.
Und noch ein anderer, sehr wichtiger Aspekt soll hier erwähnt sein: Wir dürfen nicht nur einseitig den Nutzen der Spende für den Beschenkten sehen, sondern auch den Output für den Spender. Professor Schwenk hat in seinem Einladungsschreiben zu Recht auf das in den USA sehr viel weiter verbreitete und bewährte System privater Spenden und „Welfare“-Veranstaltungen hingewiesen, die heute ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens höherer Schichten in den USA geworden ist. Wie groß der allseitige Nutzen daraus ist, belegt vielleicht am besten die Äußerung eines berühmten New Yorker Psychoanalytikers: „Viele Manager und beruflich Selbstständige können ohne ihr soziales und finanzielles Engagement in Welfare-Organisationen die Kälte des Berufslebens nicht mehr ertragen. … Das soziale Elend ist geradezu notwendig, um dort durch Wohltätigkeit Schuldgefühle abzubauen und der Freizeitdepression und Drogen- und Therapieabhängigkeit Besserverdienender vorzubeugen.“
Eine eindrucksvolle Symbiose.
In unserem Land ist es in der Wiederaufbauphase nach dem Krieg zur Errichtung eines so umfassenden öffentlichen Sozialnetzes gekommen, dass ein Verfall des Wohltätigkeitsstrebens in bürgerlichen Kreisen die Folge war. Und der kleine Mann auf der Straße gewöhnte sich daran, soziale Leistungen als ein forderbares Bürgerrecht anzusehen. Erst jetzt dringt wieder ins Bewusstsein aller – und unser Abend leistet in diesem Sinne einen wichtigen Dienst –, dass bestimmte soziale Leistungen eine Gabe sind, die erst dann gewährt werden kann, wenn bestimmte Spielregeln wie steuerliche Entlastung Besserverdienender und Verzicht auf ihre Diffamierung eingehalten werden. Dieses neue gesellschaftliche Verständnis wird auch uns hier Versammelte mit dem Obolus von 150 Mark Eintritt aus der Anonymität namenloser Steuerzahler herausführen und uns zu in der Lokalpresse gefeierten Wohltätern unserer Gesellschaft machen. Und wir können dadurch nicht nur unsere gesellschaftliche und politische Position festigen, sondern steigern auch unser persönliches Selbstwertgefühl.
Zusammenfassend sollten wir in diesem gelungenen Abend eine Gelegenheit sehen, den Wirkmechanismus eines modernen Staates zu demonstrieren: das Nehmen und Geben der bürgerlichen Führungsschichten. Oder wie der von uns allen so verehrte Kurt Tucholsky sagte: Wir nehmen die Mark, aber wir geben den Pfennig. So löst sich der scheinbare Widerspruch, liebe Festgäste. Und wenn sich Ihnen nun das Buffet öffnet, denken Sie daran: Mousse au Chocolat ist etwas Feines, aber was Sie heute Abend erhalten, ist mehr, ist Humanis-mousse au Chocolat, Wohltat mit Geschmack. Guten Appetit!

Hören Sie diesen und andere Beiträge zukünftig auf Radio Wanderbuehne. Informationen dazu finden Sie hier.

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