von Konstantin Wecker
Liebe Leserinnen und Leser des Blättchens, ich hatte die Ehre, 1995 den Kurt-Tucholsky-Preis der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft zu erhalten. Für die Preisrede habe ich mir allerlei Gedanken zu meiner Verbundenheit mit Tucholsky gemacht…
Ich glaube, wer dem Kurt Tucholsky die Spiritualität abspricht und ihn nur in das Schwarzweiß der politischen Beschränktheit verbannt, geht an dem Phänomen seiner unglaublichen Anziehungskraft vorbei. Es bringt mich immer wieder zum Schmunzeln, wenn man versucht, den großen Toten, dessen Genie den einen oder anderen anscheinend immer noch so sehr aus der Ruhe bringt, da ans Bein zu pinkeln, wo man sich gerade mal wieder ideologisch und moralisch überlegen glaubt. Und selbst wenn fundamentalistische Feministinnen aus Mangel an aktuellen Stoffen leichenfleddernd seine Beziehungen zu den Frauen ausweiden, können sie diese nicht schmälern. Die Frauen liebten ihn, den dicken Mann, den Dichter, und ich kenne auch heute noch einige, die mit Begeisterung mit ihm in der Abendstunde still nach ihren Mäusen gehen würden.
Was treibt einen Autor eigentlich dazu so wie Tucholsky, und hier möchte ich mich ihm blutsverwandt an die Seite stellen, jedes auch nur annähernd gemachte Bett gleich wieder zu verlassen, jedem Lager, wenn es zur Heimstatt zu werden droht, gleich wieder skeptisch den Rücken zu kehren, jedem Gedanken, der das Spielerische verlässt und zur Lehre zu werden droht, gleich wieder zu misstrauen, um dann doch oft in einsamen Stunden an dieser Heimatlosigkeit zu verzweifeln. Was ist das für ein fernbestimmtes „Du musst“, das plötzlich einen Benn mit einem Tucholsky und einen Morgenstern mit einem Hölderlin und einen Mörike mit einem Wecker auf diese gemeinsame Reise schickt, an deren Ende bejubelt und verspottet, verehrt und für verrückt erklärt, nichts erhellt ist, was nicht schon von anderen erhellt wurde, nichts erspart bleibt, was man sich gerne gespart hätte, kaum einer am Grab steht von denen, deren Leben sie so unsäglich bereichert haben, weil sie etwas aus jenen Welten zu vermitteln verstanden, die zu berühren unser einziges Ziel sein sollte und die zu versäumen ganz sicher unser Verderben ist. Lohn gibt es keinen für einen Weg, dem man ohne Wenn und Aber folgen muss, weil es der einzige und eigene ist.
Manchmal wird einem die Hinwendung Tucholskys zu religiösen Fragen gegen Ende seines Lebens als launische Schwäche eines kranken Mannes und frustrierten Satirikers angetragen – bitte begehen Sie nicht die Dummheit, etwas zu tun, was Tucholsky sich nie und nimmer gestattet hätte: die Teile eines Lebens oder Werkes, die man nicht versteht, nur deshalb kleinzumachen, weil man vielleicht noch nicht die Größe hat, sie zu verstehen. Diese Seite seines Wesens zu vernachlässigen, ja, so zu tun, als existierte sie nicht, heißt, Tucholsky des Wesentlichen seines Werkes zu berauben.
Gehört wird auch der Spötter nur, wenn er ein Liebender ist, vielleicht oft ein verzweifelt Liebender, aber einer, der immer eintritt ins Leben und damit für das Leben, und manchmal auch wie Kurt Tucholsky austritt aus dem Leben – und gestatten Sie mir ein Zitat aus einem Lied – „sich das Leben nimmt, um es nie mehr zu verlieren.“
Jetzt sieht es allerdings fast so aus, als würde ich den politischen Tucholsky übersehen wollen. Wer weiß, wie feig ich damals gewesen wäre, was hätte ich mich in der DDR getraut, wenn Leib und Leben bedroht ist, gar Folter dräut und vor allem dieses Nichtmehrgehörtwerden, wenn sich Schreckensvisionen gar nicht durchgeistigt dem eigenen Traum entgegen stellen und sich Schlächter zu Visionären hochsteilen – wer wagt es, jemandem Verrat anzukreiden, dem die hohe Stirn klein getreten wird?
Meine Anleitung für den couragierten Mitbürger sieht nur vor, sich nicht schon in die Hose zu machen, bevor ein konkreter Anlass zur Feigheit gegeben ist, und das sollten sich die Kleinmütigen, so sie mutigen Willens sind, ruhig mal einverleiben. Oft versäumt man ja nur diesen Moment, der sich immer ausmachen lässt zwischen Drohgebärden und Prankenhieb, und meist ist dieser Hieb nicht die Folge von Widerspruch, sondern die Antwort auf das Fehlen jeglichen Widerstands.
Was macht den Leuten so ein gutes Gefühl, wenn sie von Tucholsky reden, obwohl sie ihn so wenig gelesen haben? Man liebt ihn gerade für das, womit er am meisten zu kämpfen hatte, und ich behaupte, die gleichen Feinde, die ihm damals das Leben schwer zu machen versuchten, würden ihn heute frei von politischer Couleur ihren Kurt nennen. Tucholsky war ein Held, gerade weil er keinen geraden Weg ging, gerade weil auch sie ihn heute nicht für sich vereinnahmen dürfen. Es ist schon komisch – immer ist im Nachhinein der aufrecht gewesen, der zu seiner Zeit seiner Nichteindeutigkeit wegen beschimpft wird, und liederlicher Lebenswandel scheint meist nur den Zeitgenossen liederlich und wird dem Biographen gar als riskantes Durchleben eines immer suchenden Dichters geadelt. Man kann auch durch die Last, Vergnügen auf sich zu nehmen, zu höchsten Weihen gelangen. Oder wie ein Freund zu sagen pflegt: „Genießen war noch nie ein leichtes Spiel.“
Tucholsky war ein Held und uns deshalb menschlich stets näher als die unbelebten und unleidend unleidigen Schreiber, die sich so gerne einen Helden aus der Feder zaubern würden. Die Dichter sind ihren Werken viel näher als es uns die Professoren eingestehen wollen, und hinter jedem aufrichtigen Satz steht ein Kapitel aufrichtigen Lebens.
Wenn jemand schreibt: „Am Schluss hatte ich so ein Training, dass ich mich während der Metzelei“ (gemeint ist eine seiner zahllosen schmerzhaften Operationen) „mit dem Veterinär über Greta Garbo unterhalten habe. Es war weniger Tapferkeit als Wurstigkeit; wenn die Knochen herausbullern, tut es im Grunde doch weh. So tief kann man nicht betäuben“, dann komme ich nicht umhin, sicherlich, wie das nun mal so ist, immer des eigenen Schicksals eingedenk, ja sogar vergleichend abwägend, und manchmal schäme ich mich dafür, also komme ich nicht umhin, mich vor diesem Dichter, der dies alles trug und weiterlachte, der einfach durch sein Dasein uns allen hilft, nicht an der Willkür menschlichen Tuns zu verzweifeln, mich vor diesem Menschen, mit dem ich so gerne einmal zusammen Klavier gespielt hätte, zu verneigen und zu hoffen, einen Teil seines Erbes in meiner Tonart weitertragen zu dürfen.
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Schlagwörter: Courage, Heimatlosigkeit, Konstantin Wecker, Kurt Tucholsky, Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, Satire