17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Spiegelungen

von Erhard Crome

Zu den Eigenheiten der Wissenschaftslandschaft in Deutschland gehört, dass originelle wissenschaftliche Ergebnisse geschaffen werden, ohne dass große wissenschaftliche Institutionen im Hintergrund stehen. Das hat der Historiker Manfred Neuhaus bei der Vorstellung des neuen, von Wolfgang Geier herausgegeben Buches zu den wechselseitigen Wahrnehmungen von Deutschen und Russen in Leipzig betont. Hervorgegangen ist der Band aus einer Vortragsreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2012 und 2013; ihr Schwerpunkt lag auf Aspekten der russischen Geschichte, Kultur und insbesondere Literatur.
Im Hintergrund steht die große, alte und immer wieder neue Frage, ob und auf welche Weise Russland zu „Europa“ gehört. Vor zwanzig Jahren hatte Lew Kopelew darauf hingewiesen, dass die Antworten auf diese Frage im Westen immer Ausdruck politischer Konjunkturen waren: Auf dem Wiener Kongress 1815 war völlig klar, dass Russland zu Europa gehört – ohne Russland war der Sieg über Napoleon nicht zu erringen. Mit dem Krimkrieg 1853, als Großbritannien und Frankreich gegen Russland Krieg führten, um die Zerschlagung des Osmanischen Reiches zu verhindern, wurde lanciert, Russland gehöre nicht zu Europa. Am Beginn des 20. Jahrhunderts, als Russland in der „Entente“ gegen Deutschland gebraucht wurde, war wieder völlig klar, Russland gehört zu Europa. Nach Errichtung der Sowjetmacht 1917 wurde das Land wieder geistig exmittiert, während des zweiten Weltkrieges in der Anti-Hitler-Koalition gebraucht und wieder dazugerechnet, im Kalten Krieg im Westen erneut aus „Europa“ herausdividiert und am Ende des Kalten Krieges wieder als europäisch angesehen – brauchte man es doch unbedingt für den Zwei-Plus-Vier-Vertrag zur deutschen Vereinigung. Fünfundzwanzig Jahre später – Kopelew hat das nicht mehr erlebt, er starb 1997 – hat die Schwingungskurve die Null-Linie wieder durchlaufen und liegt tief im negativen Bereich. Die Politik des Westens gegen Russland besteht neuerlich darauf, dass er „Europa“ verkörpere, während Russland irgendetwas anderes sei. Insofern kommt das Buch in eine politisch zugespitzte Situation, in der schon wieder von Krieg die Rede ist.
In der Einführung verweist Wolfgang Geier auf das insbesondere von Lew Kopelew angeregte große Werk der „West-östlichen Spiegelungen“: Russen und Russland aus deutscher Sicht und Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. Der Verweis ist Programm. Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts gab es wenige in Archiven oder Chroniken enthaltene Berichte über Wahrnehmungen von Russen durch Deutsche und vice versa. Der Großfürst von Moskau Iwan III. hatte die mongolisch-tatarische Herrschaft beseitigt, immer mehr Gebiete russländischer Erde erobert und eine Frau kaiserlich-byzantinischer Herkunft geehelicht. So wurde die Idee geboren, dass Russland nach dem Fall Konstantinopels (1453) das „Dritte Rom“ sei. Die deutschen Kaiser, erst Maximilian I., dann seine Nachfolger Karl V. und Ferdinand I., schickten Sigmund von Herberstein (1486-1566) nach Moskau, um Informationen über jenes Reich zu erhalten und zu sondieren, ob gemeinsame Handlungen gegenüber dem Polnisch-Litauischen Königreich und gegen das Osmanische Reich möglich wären. Im Ergebnis veröffentlichte Herberstein einen ausführlichen Bericht über Russland, beginnend mit der Vorgeschichte seit der Kiewer Rus, der in mehreren europäischen Sprachen erschien. Es war zu jener Zeit der umfassendste und genaueste Bericht über Russland. Eine „geopolitisch-strategische Verständigung zwischen Wien und Moskau scheiterte“ allerdings, wie Wolfgang Geier betont, nicht zuletzt an den konfessionellen Gegensätzen zwischen Katholizismus und Orthodoxie.
Die Auslandsfeldzüge 1813-1815 brachten es mit sich, dass viele russische Offiziere das Gesehene mit den Wirklichkeiten in Russland verglichen und über die Zustände im eigenen Land erschreckten. Hier begann, wie Erhard Hexelschneider in seinem Beitrag hervorhebt, gleichsam die russische revolutionäre Bewegung: Fünfzig Offiziere, die 1813 an der Völkerschlacht bei Leipzig teilgenommen hatten, gehörten zu den Adelsrevolutionären, die am 25. Dezember 1825 in St. Petersburg an dem Aufstand (deshalb „Dekabristen“) gegen Zar Nikolaus I. teilgenommen hatten.
Ein spezielles Kapitel der beiderseitigen Beziehungen stellen die Soziotope der jeweils anderen in beiden Ländern dar. Wolfgang Geier beschreibt in einem weiteren Beitrag die „Deutsche Vorstadt“ Moskaus, die seit dem 16. Jahrhundert schrittweise entstand – Nicht-Rechtgläubige durften sich nach strenger orthodoxer Vorschrift nicht innerhalb der russischen Stadt ansiedeln – und in der nicht nur deutsche Kaufleute, Handwerker und Gelehrte lebten, schließlich auch Fremde aus anderen Ländern, und andererseits „Charlottengrad“, Berlin als Ort russischer Emigration nach der russischen Oktoberrevolution 1917. Zwischen 1918 und 1923 verließen zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Russen (beziehungsweise frühere Staatsangehörige des Russischen Reiches) Sowjetrussland und die Sowjetunion, hauptsächlich in Richtung Mittel- und Westeuropa. In Berlin (damals etwa 3,8 Millionen Einwohner) lebten 1919 etwa 70.000 Russen, 1923 mindestens 300.000, überwiegend in Charlottenburg (deshalb „Charlottengrad“) und in der Nähe des Kurfürstendamms. Sie kamen in mehreren Wellen, flüchteten vor der Revolution, vor dem Bürgerkrieg, dem Weißen und Roten Terror, dem russisch-polnischen Krieg oder waren Intellektuelle, die auf Geheiß Lenins 1922 des Landes verwiesen wurden. So gab es unter den russischen Migranten in Berlin Feinde der Bolschewiki, Künstler und Geschäftsleute, aber auch Abgesandte der Bolschewiki, die die Idee der Revolution im Westen vorantreiben sollten. Bereits in den 1920er Jahren verlagerten sich die Zentren der russischen Emigration weiter nach Westen, nach Paris, London oder in die USA. Etliche gingen auch zurück nach Sowjetrussland, von denen jedoch kaum einer den Stalinschen Terror der 1930er Jahre überlebte.
Volker Hölzer schreibt über den „Leipziger Osteuropahistoriker“ Friedrich Braun (1862-1942). Der war eigentlich Wissenschaftler für Indogermanistik und Germanistik in St. Petersburg, wurde auf Grund seiner Verdienste in den russischen Dienstadel befördert und dennoch während des ersten Weltkrieges wegen seiner Deutschstämmigkeit zwangsweise emeritiert. Nach der Oktoberrevolution konnte er in Russland wieder arbeiten und wurde zu einem Arbeitsaufenthalt nach Deutschland geschickt. In Leipzig durfte er parallel dazu Vorlesungen zur germanischen Philologie halten, musste allerdings 1921 eine schriftliche Erklärung zu seinem „prorussischen Verhalten“ während des ersten Weltkrieges abgeben. Er beschloss, nicht in die Sowjetunion zurückzukehren und erhielt 1926 eine Professur für osteuropäische Geschichte. Er arbeitete sehr zielstrebig daran, in Leipzig eine osteuropäische Geschichtsausbildung aufzubauen. Das endete mit der Errichtung der Naziherrschaft – mit seinen liberalen Ansichten passte er nicht ins Bild, Mitarbeiter wurden zwangsweise entlassen und er ließ sich 1933 emeritieren. Inzwischen war er über siebzig Jahre alt. Mit der Sowjetunion hatte er 1927 gebrochen. Über die russische Intelligenz schrieb er, sie habe mit der Oktoberrevolution Selbstmord begangen: „Sie starb, indem sie sich erfüllte.“
In die Gegenwart kommt Willi Beitz mit seinem Beitrag über den russischen Schriftsteller Valentin Rasputin. Der betonte Ende der 1990er Jahre, die innere Spaltung Russlands sei nicht mehr nur eine in Reiche und Arme, wie 1917, sondern in jene, die das zeitgenössische Spektakel akzeptierten, und diejenigen, die es „endgültig ablehnten“. Dies habe schon mit Gorbatschow angefangen; wörtlich Rasputin: „Die ‚Revolution‘ Gorbatschows und Jelzins agierte nicht nur gegen den Kommunismus als Ideologie und Eigentumsform, sondern auch gegen das tausendjährige Russland und seine ethischen Regeln, Traditionen, seine jahrhundertealten Volksbräuche und seine Kultur.“ Auch er beklagt, nun für die Gegenwart, das Verschwinden der Intelligenzia. Seine Kritik ist konservativ. Aber wenn man heute von Deutschland aus auf Russland schaut, gehört auch sie zum Bild.

Wolfgang Geier (Herausgeber): Deutsche und Russen. Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, Verlag WeltTrends, Potsdam 2014, 192 Seiten, 15,90 Euro.