17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Miszellen

Von der Kraft der Musik

1999 begannen der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Daniel Barenboim und der Literaturwissenschaftler Edward W. Said ein Experiment mit Langzeitfolgen: Sie führten mit jungen Musikern gemeinsam einen Workshop durch, aus dem eines der weltweit bemerkenswertesten Jugendorchester erwachsen sollte. Das gemeinsame Handeln der beiden war schon Grund zum Erstaunen genug. Barenboim ist israelischer Staatsbürger, Said (er starb im Jahre 2001) war Palästinenser. Die Musiker hingegen waren junge Israelis, die mit jungen Arabern zusammengeführt wurden. Für manch jüdische Musiker war zudem der Ort der Gründung hoch problematisch: Man kam gleichsam im Schatten des Ettersberges im Rahmen des Kunstfestes Weimar erstmals zusammen. Barenboim und Said fanden aber eine von für alle tragfähige Traditionslinie der deutschen Klassik, die sich im Namen des Orchesters manifestieren sollte: „West-Eastern Divan Orchestra“ Und was kaum jemand zu hoffen wagte: Von der zweiten Intifada im Jahre 2000 angefangen bis zu den heutigen mörderischen Auseinandersetzungen um Gaza-Streifen und die West-Bank überstand das Orchester alle politischen Krisen. Zuletzt war es in Berlin im Sommer in der Waldbühne zu erleben. Peter Uehlings Kommentar zum Waldbühnen-Konzert in der Berliner Zeitung brachte es auf den Punkt: Das Orchester ist „eines der wenigen Projekte, in denen der abgedroschene Satz von der Verständnis stiftenden, Grenzen überwindenden Kraft der Musik zumindest ein utopisches Potenzial entfaltet“.
Von Anbeginn dabei ist der libanesische Violinist Georges Yammine, 1979 in Zerit geboren. Yammine greift in seinen Einsatzpausen und während der Proben gerne zur Leica. Über die Jahre kam dabei ein faszinierendes fotografisches Tagebuch des Orchesters heraus, von dem jetzt 98 Schwarzweiß-Aufnahmen in einem von Daniel Barenboim herausgegebenen Foto-Band zu bewundern sind. Natürlich steht Barenboim immer irgendwie im Zentrum. Wer das Glück hatte, das Orchester einmal hautnah erleben zu dürfen, weiß, wie die Musiker „ihren“ Maestro verehren. Georges Yammine gelangen Bilder, die uns vieles über die Qualen und Freuden musikalischer Arbeit aus einer Außenstehenden nicht möglichen intimen Nähe heraus erzählen. Und ihm gelangen Aufnahmen, die den Betrachter fröhlich stimmen, die deutlicher als viele wortreiche Resolutionen zeigen, dass Hoffnung auf der Welt ist. „Crossing Harmonies“ nannte Yammine ein Foto, das ich besonders mag. Es zeigt zwei junge Fagottisten, eine Frau und einen Mann, in einem spannungsvollen musikalischem Dialog, der dennoch von einer innigen Verbundenheit der beiden in diesem Moment, in dem sie die Musik sprechen lassen, zeugt. Georges Yammines Fotos klingen im Betrachter nach…

Wolfgang Brauer

Georges Yammine / Daniel Barenboim (Herausgeber): Funkelnde Hoffnung. Das West-Eastern Divan Orchestra und die Kraft der Musik, Corso Verlag, Wiesbaden 2014, 128 Seiten, 28,00 Euro.

Offene Worte

Die Veranstaltungsreihe „Gysi trifft …“ läuft seit März 2003, als Gregor Gysi auf der sparsam dekorierten Bühne des Deutschen Theaters zu Berlin sein erstes Interview mit einer illustren Persönlichkeit aus Politik, Kultur, Wissenschaft oder Sport führte, damals mit Peter Zadeck. Die Beliebtheit der Matinee – immer sonntags, 11.00 Uhr – ist seither so ungebrochen, dass immer noch Glück dazu gehört, um ein Eintrittsbillett zu ergattern.
Umso schöner, dass der Verlag Neues Leben bereits vor drei Jahren 14 dieser Gespräche zum Sich-darin-Vertiefen zwischen Buchdeckel gepresst hat: beginnend mit Armin Müller-Stahl über Henry Hübchen, Inge Keller und Mario Adorf bis zu Katharina Thalbach sowie Dieter Mann, um hier nur die Namen der Schauspieler herauszugreifen. Über seinen Start in der Bundesrepublik befragt, erfährt man von Armin Müller-Stahl zum Beispiel, er habe in populären Serien mitwirken sollen. „Ich sollte […] den ‚Alten‘ spielen. Sie boten mir sehr viel Geld, aber ich sagte Nein. Ich glaube, das war die einzige mutige Tat, die ich je in meinem Leben vollbracht habe, denn ich hatte zu dieser Zeit keine anderen Angebote.“ Dass der Song „Casablanca“ der Formation „City“ von Henry Hübchen komponiert wurde, wird „City“-Fans geläufig sein, vielen Zeitgenossen aber wahrscheinlich nicht.
Was „das Beste an der DDR“ war, wird Dieter Mann gefragt: „Ich finde die Idee einer gerechteren Welt einfach gut. Und ich bin froh, dass ich dabei gewesen bin, auch wenn in der Umsetzung dieser Idee an manchen Stellen einiges fürchterlich schiefgegangen ist.“
Man muss mit Gysi im Übrigen nicht immer einer Meinung sein. Etwa wenn er seinen Gesprächspartner Peter Scholl-Latour, der gerade bekannt hatte, dass er zu keiner Zeit seines Lebens „Sympathien für die Kommunisten“ gehegt habe, dafür aber seine Beteiligung als französischer Fallschirmjäger am Indochinakrieg ein großes Abenteuer gewesen sei, bei der Verabschiedung adelt: „Wenn unsere Zeit etwas braucht, dann sind es […] Persönlichkeiten wie Sie.“
Frage an Gregor Gysi und den Verlag: Wie lange müssen wir noch auf den nächsten Band warten?

Corbinian Senkblei

Birgit Rasch (Herausgeberin): offene worte. gysi trifft zeitgenossen, neues leben, Berlin 2011, 238 Seiten, 17,85 Euro.

Raubkunstdebatte – kein Ende in Sicht?

Im Jahre 2006 übergab der Senat von Berlin Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Berliner Straßenszene. 1913“ aus dem seinerzeitigen Bestand des Brücke-Museums an die Erbin des Erfurter Schuhfabrikanten und Kunstsammlers Alfred Hess. Dessen Witwe, Thekla Hess, hatte das Bild 1936 an den Sammler Carl Hagemann verkaufen müssen. Das Verkaufsdatum war für die Rückerstattung in diesem Falle wesentlich: Auf der Grundlage der entsprechenden „Handreichung“ der Bundesregierung zum Umgang mit Raubkunst ist davon auszugehen, dass solche „Geschäfte“ nach dem 15. September 1938, dem Tag der Verkündigung der „Nürnberger Gesetze“, einen rassisch begründeten Verfolgungshintergrund hatten. Die „Kirchner-Affäre“ zog beträchtliche Kreise nach sich, es handelte sich immerhin um ein zentrales Werk dieser bedeutenden Berliner Expressionismus-Sammlung. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen die beteiligten Senatsmitglieder auf. Die Oppositionsparteien CDU und Grüne erzwangen einen Sonderausschuss des Abgeordnetenhauses. In einer wochenlang die Feuilleton-Seiten der deutschen Presse beherrschenden Debatte verstieg sich die FAZ anlässlich eines Gespräches mit dem damaligen Chef des renommierten Berliner Auktionshauses Villa Grisebach, Bernd Schultz, zu der Überschrift „Man sagt ‚Holocaust’ und meint Geld“. Im Ergebnis dieser Debatten führte das Moses Mendelsssohn Zentrum im April 2007 in Potsdam eine Konferenz unter dem Titel „Eine Debatte ohne Ende? Raubkunst und Restitution im deutschsprachigen Raum“ durch, deren Ergebnis von Julius H. Schoeps und Anna Dorothea Ludewig in einem gleichnamigen Buch publiziert wurden.
Jetzt haben die Herausgeber den Band in einer überarbeiteten und aktualisierten Fassung neu ediert. Der Grund ist ein sehr banaler. Auch wenn es inzwischen einige spektakuläre Restitutionsfälle gab, und einige Institute, so die Museen und Bibliotheken der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, geradezu vorbildlich mit in ihren Sammlungen vermuteten Nazi-Raubgut umgehen: Nach sieben Jahren ist nach Einschätzung der Herausgeber „einiges, aber nichts Grundlegendes passiert“. Solange die Museen, Archive und Bibliotheken weder über die Mittel noch das Personal für eine qualifizierte Bestandspflege verfügen, wird sich das auch nicht ändern. Das von Bund und Ländern geplante „Zentrum Kulturgutverluste“ wird sicher die Informationslage verbessern. Für eine qualitativ andere Restitutionspraxis wird es allenfalls einen Placebo-Effekt haben können. Herausgeber und Autoren weisen – auch anhand internationaler Vergleiche immer wieder darauf hin, dass aufgrund eines fehlenden Kunstrückgabegesetzes in Deutschland der rechtlich abgesicherte Handlungsrahmen ein sehr begrenzter ist. Privatsammlungen, der „Fall Gurlitt“ machte das erst jüngst wieder deutlich, entziehen sich in Deutschland jedem staatlichen Zugriff. Im Zwielicht steht zudem zunehmend der Kunsthandel. Hildebrand Gurlitt bildete da nur die Spitze eines Eisberges. Der bei Hentrich & Hentrich erschienene Band bringt sowohl für den neugierigen Laien als auch für um vertieftere Kenntnisse bemühte Kundige wertvolle Anregungen. Um es allerdings mit aller Deutlichkeit zu sagen: Die in der NS-Zeit von der künstlerischen Moderne im Rahmen der Aktionen „Entartete Kunst“ leergefegten deutschen Museen sind mit dem „Raubkunst“-Begriff der Autoren des Sammelbandes nicht gemeint. Die Museen waren da vielfach Mittäter. Hier geht es ausschließlich um Bestände, an denen Blut, Leid und Tränen haften.

Wolfgang Brauer

Julius H. Schoeps / Anna-Dorothea Ludewig (Herausgeber): Eine Debatte ohne Ende? Raubkunst und Restitution im deutschsprachigen Raum, Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, 316 Seiten, 19,80 Euro.