von Ulrich Kaufmann
Warum, fragt sich der Leser, überschrieb Sigrid Damm ihr drittes Buch, welches sie nun nacheinander über den Dichterfürsten vorlegt, nicht mit dem klingenden Stabreim „Goethes Gotha“? Stattdessen wählt sie die etwas sperrig wirkende Langvariante „Goethes Freunde in Gotha und Weimar“. Mit dieser Formulierung spielt die Autorin, gleich im Eingangssatz, auf eine Goethesche Wendung an, in der dieser beide Fürstentümer in einem Atemzuge genannt hatte: „Nun sag’ ich noch allen Freunden in Weimar und Gotha ein treues Lebewohl!“ Einige der Rezensenten haben nicht bemerkt, dass die Autorin im Buchtitel diesen beiläufigen Goethe-Gruß aufnimmt, jedoch die Reihenfolge der Ortsnamen vertauscht. Ganz offenkundig ging es Sigrid Damm um die Nähe und Rivalität der benachbarten Fürstenhäuser, die Goethe erlebte, mitgestaltete und über Jahrzehnte auszubalancieren hatte. Man muss Goethe nicht (mit Heine) einen „Fürstenknecht“ nennen, aber noch klarer als in den weit umfangreicheren historischen Büchern Sigrid Damms zeigt sich hier, wie Goethe das Höfische durchaus genoss, dennoch gewissenhaft seinen ministeriellen Pflichten nachkam und Zwänge zu erdulden hatte.
Sigrid Damm, das wissen wir seit ihrem Debüt mit dem Lenz-Buch „Vögel, die verkünden Land“ (1985), recherchiert äußerst gewissenhaft und sie lässt auch hier die Quellen sprudeln und die Fakten sprechen. Und dennoch nimmt sie den Leser gleich zu Beginn des Buches auf einen Gedankenspaziergang mit: Was wäre aus Gotha und Weimar geworden, hätte sich der Autor des „Werther“ für Gotha entschieden, seinerzeit die zweitgrößte Stadt Thüringens. „Herzog Ernst II. hätte ihm (Goethe) ein repräsentatives Haus […] geschenkt […] (Goethe) hätte andere große Geister, Johann Gottfried Herder oder Friedrich Schiller möglicherweise in die Stadt gezogen, hätte das barocke Theater auf Schloß Friedenstein zur Blüte geführt, hätte sich in alles, was Architektur und Kultur der Stadt betrifft, eingemischt, wie es seine Art war. Aber nicht der Phantasie wollen wir Raum geben, sondern den Tatsachen.“
Das Dammsche Gedankenexperiment ist insofern nicht abwegig, als Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg, (1745-1804) kunstinteressierter war als Goethes Weimarer Freund und Mäzen Carl August. Auch war das Interesse des Gothaer Regenten an modernen Entwicklungen in den Naturwissenschaften wesentlich ausgeprägter. Im Politischen waren sich beide ebenfalls näher. Bekanntlich hat Goethe, der Napoleon-Verehrer, Carl Augusts Affinität zu Preußen mit allen militärischen Konsequenzen, die er als Minister mitzutragen hatte, eher nur erduldet. Auch die Jagdliebe seines Herzogs blieb Goethe über Jahrzehnte fremd.
Sigrid Damm singt zwar in ihrem jüngsten Goethe-Buch ein Loblied auf Gotha, aber sie verschweigt Dinge nicht, die Goethe verletzt haben. So wurden einige seiner wissenschaftlichen Bemühungen auf dem Gebiet der Optik, die er drucken ließ, von Gothaer Fachwissenschaftlern verspottet. So herzlich Goethes Beziehungen zu Ernst II. bis zu dessen Tod 1804 waren, so wenig konnte er mit dessen erstem Sohn Ernst August anfangen, der sich vor allem für Frisuren und Pariser Parfum interessierte und einen gewaltigen Schuldenberg hinterließ. Diesem Fürsten verweigerte Goethe gar seinen Antrittsbesuch, man traf sich gelegentlich auf Kuren. Wenn es zu längeren Pausen oder atmosphärischen Störungen zwischen Goethe und dem Gothaer Hof kam, versucht Sigrid Damm, soweit dies die Quellen ermöglichen, die Gründe dafür zu klären.
Wendungen wie „Davon später“ oder „Haben wir Gotha ganz aus den Augen verloren?“ stehen für eine lockere Komposition, fast wird mündliches Erzählen simuliert. Durch das wiederholte „Wir“ fühlt sich der Leser mit der Autorin im Bunde, wird er mitgenommen. Hauptadressatin der vielen im Buch zitierten, mitunter intimen Mitteilungen bis 1786 (als Goethe nach Italien floh) ist seine engste Vertraute, Charlotte von Stein. Das Verhältnis dieser platonisch Liebenden wird von Sigrid Damm genauestens erspürt. Zu vermuten bleibt, dass sie auf diesen Stoff zurückkommen wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass im aktuellen Buch die Konturen des nächsten Projekts erkenntlich werden.
Sigrid Damm hat ein streng historisches Werk vorgelegt. Es trifft allerdings auf aktuelle Kontexte: Im Zeitalter härtester Verteilungskämpfe, in denen es um materielle Zuwendungen für den Erhalt des kulturellen Erbes geht, zeigt dieses eindrucksvolle Buch, dass es sich bei Gotha um einen Stern erster Güte oder (in der Sprache der Kulturpolitiker ausgedrückt) um einen „Leuchtturm“ handelt.
Wäre Sigrid Damm nicht bereits an ihrem 70. Geburtstag Ehrenbürgerin Gothas geworden, müsste man sie dieser Liebeserklärung an ihre Geburtsstadt wegen für diese Auszeichnung vorschlagen. (Wie gut hatten die Stadtoberen bereits 2010 entschieden!)
Toll ist die Idee zu nennen, die Premiere für dieses Buch am Geburtstag des Dichters 2014 in der Goethestadt Gotha zu veranstalten.
Schlagwörter: Gotha, Johann Wolfgang von Goethe, Sigrid Damm, Ulrich Kaufmann, Weimar