17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Flandrische Kleinode. Antwerpen

von Alfons Markuske

Flandern – unser Reiseziel in diesem herrlichen Altweibersommer – gehörte seit 1522 zu den Spanischen Niederlanden. Im Zuge des Befreiungskampfes gegen die habsburgisch-spanische Vorherrschaft (1568 -1648) spaltete sich das Land: Die nördlichen Niederlande wurden als Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, auch Generalstaaten genannt und geografisch weitgehend identisch mit den heutigen Niederlanden, frei. Die südlichen Niederlande, Flandern eingeschlossen, blieben Kolonie und wurden nach dem spanischen Erbfolgekrieg (1701 -1714) zu den Österreichischen Niederlanden. Die annektierte 1794 das revolutionäre Frankreich. Auf dem Wiener Kongress 1815 wurden sie insgesamt wieder den Niederlanden zugeschlagen. 1830 zettelten Teile der Bevölkerung von Brüssel nach einer Aufführung der Oper La Muette de Portici von Daniel-Frangois-Esprit Auber, die zuvor bereits in Paris für Unruhe gesorgt hatte, eine Revolution an, und der Landstrich wurde unabhängig – als Königreich Belgien.

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Erste Station ist die größte Stadt Flanderns und die zweitgrößte Belgiens – Antwerpen, mit einer halben Million Einwohner, im Jahre 726 erstmals urkundlich erwähnt. Wenn man dort auf dem Grote (Großen) Markt steht, das prachtvolle spätgotische Rathaus zur Linken und mit dem Blick auf die pittoresken, zum Teil siebengeschossigen Renaissance- und Barockfassaden der benachbarten Häuser (ein erheblicher Teil davon allerdings erst um 1900 als Schankwirtschaften errichtet), käme man schwerlich auf den Gedanken, dass unweit dieses Ensembles der zweitgrößte Seehafen Europas (nach Rotterdam, aber noch vor Hamburg) und eines der größten Industriegebiete des Kontinents pulsieren. Gerade erst sind dort drei Großraffinerien durch ihre Betreiber (unter anderem Exxon) mit Milliardeninvestitionen modernisiert worden.
Nach einer wirtschaftlich prosperierenden Zukunft hatte es dabei jahrhundertelang gar nicht ausgesehen. Zwar galt die Stadt mit ihrem Hafen im 16. Jahrhundert als reichste Handelsmetropole Europas. 4.500 eigene Schiffe sollen damals für Antwerpen im Einsatz gewesen sein. Doch der einsetzende Befreiungskampf mit der Abspaltung der nördlichen Niederlande brachte die Schelde-Mündung – Antwerpens Hafen liegt 80 Kilometer landeinwärts an diesem Fluss – unter die Gewalt der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen.
Die sich selbst befreit Habenden sperrten 1585 – Antwerpen war nach seinem Abfall im Zuge der Reformation gerade von Truppen Philipps II. von Spanien zurückerobert worden – dem Feind die strategisch wichtige Zufahrt. Auch als Wirtschaftsförderungsmaßnahme für ihre eigene Metropole Amsterdam. Das Recht darauf ließen sie sich später, im Westfälischen Frieden von 1648, „völkerrechtlich“ verbriefen, so dass dieser Zustand bis ins 19. Jahrhundert aufrechterhalten werden konnte. Derweil verdämmerte Antwerpen 250 Jahre als Provinzkaff.

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Bevor es allerdings soweit war, erlebte die Stadt noch eine opulente Zwischenblüte – als barocke Kunstmetropole. Das hatte sie vor allem ihrem großen Sohn Peter Paul Rubens (1577 – 1640) zu verdanken, der zwar nicht in ihren Mauern, sondern im westfälischen Siegen das Licht der Welt erblickte. Seine Eltern hatten Antwerpen im Zuge der Religionskämpfe der Reformationszeit verlassen. Rubens ließ sich aber nach Auslandsaufenthalten als Künstler, unter anderem acht Jahre in Italien, schließlich doch in Antwerpen nieder, um dort zum eigenen Ruhme wie dem der Stadt zu wirken. Dafür gab es einen triftigen Grund: Er war von den spanischen Statthaltern, Erzherzog Albrecht und seiner Gattin Isabella, zum Hofmaler berufen worden. Der Begriff „Kollaborateur“ war damals noch ungebräuchlich, und große Künstler werden ja sowieso nach anderen Maßstäben bemessen.
Eine solche Berufung war seinerzeit auch eine Lizenz zum Gelddrucken: Rubens stieg zu einem der reichsten Bürger der Stadt auf und schuf eine Produktionsstätte, die mehr einer Manufaktur und einem Unternehmen als einem Maler-Atelier glich: Noch heute werden mehr als 2.000 Werke ihm und seiner Werkstatt zugeschrieben. Dass bei nicht wenigen davon nur Vorzeichnungen und – im Wortsinne – Farbtupfer (etwa Weißerhöhungen, gern auch bei Zähnen von Porträtierten, um den Gesamteffekt eines Bildes „aufzupeppen“) vom Meister selbst stammen, tut dem Nachruhm keinen Abbruch. Das Œuvre macht hinreichend deutlich, dass hier ein Ausnahmekünstler am Werke war, der den Vergleich mit anderen Giganten seiner Zunft nicht zu scheuen braucht.
Davon zeugen heute in der Liebfrauenkathedrale der Stadt (Baubeginn 1352) vier jener Großformate, für die der Maler bekannt ist und die den Betrachter ob der Fülle des Dargestellten leicht überfordern. Nicht so allerdings bei der „Kreuzaufrichtung“ und der „Kreuzabnahme“, die hier zu sehen sind und zu den Hauptwerken Rubens‘ gezählt werden. (Etwas blasphemisch geht dem atheistischen Betrachter, den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald vorm geistigen Auge, durch den Kopf: Wenigstens scheint es dem barocken Christus vor seiner finalen Tortur nicht ganz so elend ergangen zu sein wie seinen Vor-Bildern aus der Renaissance …)
Rubens, der sich zeitlebens nicht nur und vielleicht nicht einmal primär als Künstler sah – von lediglich vier bekannten Selbstporträts zeigt ihn keines in dieser Rolle –, sondern mindestens ebenso als (einflussreichen) Bürger, Unternehmer und Diplomaten (unter anderem vermittelnd zwischen Spanien und England und von letzterem auch dafür geehrt), lebte seinen Reichtum gemäß den barocken, also üppigen Gepflogenheiten der Oberschicht seiner Zeit. Er erwarb ein stattliches Haus im Zentrum und ließ einen italienischen Palazzo danebensetzen – mit einem Ateliersaal, für den auch Rubens‘ größte Formate keine Herausforderung gewesen sein dürften.
In diesem Saal findet sich heute auch ein Bild, das einem Selbstbekenntnis des Meisters heftig widerspricht. Der hatte von sich gesagt: „Ich gestehe, dass ich durch eine natürliche Neigung für große Bilder geeigneter bin als für kleine Kuriositäten.“ Ein kleinformatiges Porträt, das mutmaßlich und im Alter von 18 Jahren Antoon van Dyck (1599 – 1641) darstellt – von ihm sprach Rubens als von „meinem besten Schüler“; van Dyck verließ Antwerpen später, weil seine Heimatstadt für zwei Maler dieses Formats nicht Raum genug hatte, und wurde Hofmaler in London –, macht deutlich, dass Rubens „kleine Kuriositäten“ nicht minder genial beherrschte.
Beide Gebäude des Rubensschen Anwesens waren durch einen Portikus im antiken Stil verbunden, der heute, nach Jahrhunderten anderweitiger Nutzung und damit verbundener zahlloser Umbauten zu den ganz wenigen Resten originaler Bausubstanz gehört, wie der Audioguide des Rubens-Hauses gleich in seiner Einführung frank und frei bekennt. Das heutige Museum wurde 1946 eröffnet und stellt den Versuch – auf der Basis zum Teil spärlicher, zum Teil zweifelhafter historischer Quellen – einer Annäherung an die Lebenswelt des Künstlers dar. Der aber kann als höchst gelungen gelten.

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Das Museum der schönen Künste mit seiner Sammlung von alten Meistern – darunter Jan van Eyck (Die Madonna am Springbrunnen), Jan und Pieter Breughel, Memling, van der Weyden, Rubens und van Dyck – wird bis 2017 gründlich renoviert und ist geschlossen. Doch bevor das zur Enttäuschung werden kann, ergibt sich, dass zahlreiche Werke anderswo in der Stadt zu sehen sind, nämlich im Rockoxhuis, einem ebenfalls imposanten Palais eines Zeitgenossen und Freundes von Rubens, und ein weiterer Teil in Brügge, wo unsere Reise ihren Abschluss finden soll.

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Irgendwann reicht es aber auch mal mit Gotik, Renaissance und Barock, mit Liebfrauenkathedrale und etlichen weiteren, kaum minder gewaltigen Kirchen. Und wenn einen dann die in ihrer schieren Masse eher wie Strass wirkenden Klunkern in den Geschäftsauslagen im Diamantenviertel – 80 Prozent aller Roh- und 50 Prozent der geschliffenen Diamanten weltweit werden in Antwerpen gehandelt (Exportwert 2012: 20,5 Milliarden Euro) – auch nicht wirklich interessieren, dann gibt es Alternativen wie zum Beispiel…
… den Bahnhof der Stadt: Antwerpen-Centraal. Im Volksmund heißt der Spoorwegkathedraal (Eisenbahnkathedrale), und das ist für diese zwischen 1899 und 1905 errichtete Anlage mit ihrer 75 Meter hohen Kuppel und einem 186 mal 66 Meter messenden Hallenschiff sowie wegen dessen Interieurs nicht einen Buchstaben übertrieben.
… den Antiquitätenmarkt am Sint-Jansvilet, Ostern bis Oktober, immer sonntags ab 9:00 Uhr. Ein Mekka für alle Trödelfreunde, aber auch für Liebhaber echter Stücke.
… den über 500 langen Sint-Annatunnel zur Schelde-Unterquerung für Fußgänger, auch am Sint-Jansvilet gelegen. Zu dessen Sohle hinab gleitet man auf „endlosen“ Rolltreppen. Die bestehen noch weitgehend aus Holz, tragen den Stempel „unter Denkmalschutz“ und funktionieren trotzdem. (Brücken gibt es in Antwerpen keine, um den Schiffsverkehr nicht zu beeinträchtigen.)

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Im hundertsten Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschränkte sich das Gedenken in Deutschland im Wesentlichen auf die üblichen Jubiläumsreden in angemessen ernstem Duktus und auf eine Historikerdebatte mit einem befremdlichen Fokus darauf, die Kriegsschuld vielleicht doch etwas gleichmäßiger auf die damals Beteiligten zu verteilen (zugunsten Österreich-Ungarns und Deutschlands) oder diese davon irgendwie gleich ganz frei zu sprechen („Die Schlafwandler“). In Antwerpen fand aus dem nämlichen Anlass vom 7. bis 9. September ein internationales Treffen „Peace is the Future. Religions and Cultures in Dialogue“ statt – zum Teil per „Public Viewing“ auf öffentlichen Plätzen. Aber wenn man in diesem Krieg Schlachtfeld war in einem Ausmaß, dass die erste Silbe des Wortes nur aus dem Vokabular der Metzger hergeleitet sein konnte, dann gedenkt man vielleicht einfach anders als diejenigen, die dort einmarschiert waren und zu den Schlächtern gehörten.

Wird fortgesetzt.