17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Das Ende der Geschichte oder das gestrandete Sowjetschiff

von Stephan Wohanka

Wolfgang Schwarz hat im Blättchen in einer bemerkens- und bedenkenswerten Artikelserie „mit etwas Empathie für Russland“ auf die Hintergründe der gegenwärtigen Konfliktlage geblickt. Ich habe Gleiches vor – in wesentlich kürzerer Form und mit einem etwas anderen Fokus, dabei auf einige seiner Thesen rekurrierend…
Das Ende der Blockkonfrontation wurde im Westen überaus (vor)schnell von Francis Fukuyama als „Ende der Geschichte“ bejubelt. Der Osten, das heißt Russland, brauchte länger, um aus seiner Sprachlosigkeit zu finden; erst spät hat Putin die dortige Befindlichkeit mit der These „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ auf den Punkt gebracht.
Damit ist der ideelle Ausgang der jetzigen Konfliktlage beschrieben: Westliche Demokratie und (Neo)Liberalismus triumphierten und auf der Gegenseite brach sich allmählich ein nationales Verlusttrauma Bahn. Um bei Letzterem zu bleiben – da schwärt eine Wunde! Deutungen von „Putinverstehern“ mit dem Versuch ins Netz gestellt, die Tragweite des Putin-Satzes zu einer „Schiffs-Katastrophe“ herunterzuspielen, gehen fehl. „Es ist eine Beschreibung eines sachlichen Vorgangs, mehr oder weniger werturteilsfrei. Putin meinte damit das Stranden des ´Sowjetschiffs´“ – sollte das so sein, hätte Putin von „nationaler“ und nicht von „geopolitischer“ Katastrophe sprechen müssen. Da steckt also mehr dahinter; ein Hinweis kann die – erteilte und wieder einkassierte – „Erlaubnis“ des Föderationsrats für Putin sein, notfalls das Militär zum Schutz russischer Bürger in der Ukraine einzusetzen. Es muss nicht nur die Ukraine sein… Russland ist seit 1991 (1. Tschetschenienkrieg) in Kriege und bewaffnete Konflikte in Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan verwickelt, unterstützte die Sezessionisten in Südossetien, Abchasien und auch Transnistrien auch militärisch, wenn auch eine formelle Anerkennung mit Blick auf die eigenen Minderheiten vermieden wurde. Ideologisch sekundiert dem Ganzen ein Alexander Dugin und andere, die von einer „Epoche der Geopolitik“, „eurasischen Räumen“ sprechen; „Konflikte der Zivilisationen“ seien „unvermeidlich“. Und dass einer der Protagonisten des Kalten Krieges über Jahrzehnte der tiefen Überzeugung, ja Gewissheit anhing, „Sieger der Geschichte“ zu sein und der andere es dann realiter war – auch das kränkt…
Obige Konstellation führte einerseits zur Überheblichkeit des Westens (ich will mir gar nicht vorstellen, wie es andersherum gekommen wäre bei einem „Sieg des Ostens“, da – wie gesagt – dieser als sozusagen als naturgegeben verstanden worden wäre) und zu einer schmerzhaften politischen und sozialen Anpassung an die neuen Verhältnisse im Osten; für Russland steht dafür die Jelzin-Ära. Der Westen nahm Zusagen an den früheren Gegner nicht in jedem Falle ernst und bot zugleich etwas gönnerhaft eine Kooperation an; die Nato-Russland-Grundakte vom Mai 1997, der daraus folgende Gemeinsame Nato-Russland-Rat, aber auch das EU-Russland Forum mögen dafür stehen.
Es kursierte damals das Bonmot, dass Russlands Lage mit „sleeping with a porcupine (Stachelschwein) zu beschreiben wäre. Es wird gestritten, wem das Copyright zukäme, einem Russen oder Amerikaner; egal, es beschreibt meines Erachtens diese Lage: Russland wurde immer wieder gepiesackt, jedoch nicht grundsätzlich in seiner Sicherheit bedroht. Es nahm – wie auch zu lesen ist – die Politik der Nato-Erweiterung hin, weil es nichts dagegen machen konnte. Wenn schon nicht die ungeteilte Idylle, so doch ein Status quo, mit dem sich leben ließe, wie man hierzulande meinte… Oder war es doch eher so wie es der US-Politikexperte Walter R. Mead feststellt: „Es war der ideologische Triumph der liberalen kapitalistischen Demokratie über den Kommunismus, das heißt aber nicht, dass harte Machtfaktoren deshalb obsolet geworden sind“?
Wenn Wolfgang Schwarz schreibt, dass „die Sowjetunion ihr mittel- und südosteuropäisches Vorfeld aus dem Moskauer Herrschaftsbereich nur unter der Maßgabe beziehungsweise mit der historisch in den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurzelnden Erwartung (entließ), dass kein potentieller Gegner je wieder an sowjetischen Grenzen, wenig später dann an denen Russlands Stellung, bezieht“, dann liegt offenbar hier das Problem: Die gewählte Formulierung lässt anklingen, als ob Moskau auch hätte anders handeln können, nämlich nicht zu „entlassen“. Wäre das damals gegangen? Ich denke nein. Es blieb letztlich gar nichts anderes übrig, als diese Staaten „aus dem Herrschaftsbereich“ ziehen zu lassen, was dazu führte, dass sie zu souveränen Staaten, Völkerrechtssubjekten wurden, die – in der Gestaltung ihrer internationalen Vertragsbeziehungen völlig frei – tun und lassen können, was ihnen beliebt, Russlands Bedrohungsängste hin oder her. Andernfalls würde man Moskau eine Einflusssphäre, einen cordon sanitaire alter Prägung zugestehen. Muss man das? Schwarz sagt zu Recht, „Sicherheit in Europa … ist nicht ohne oder gar gegen Russland, sondern nur mit Moskau zu haben“. Er gibt dafür mehrere Begründungen politischer und wirtschaftlicher Natur an; die „schlagendste“: „Russland wird ohne allgemeine atomare Abrüstung nukleare Großmacht bleiben; militärische Konflikte mit einer solchen bergen existenzielle Risiken in sich“.
Wenn Schwarz dann folgert, dass „ein ernsthafter westlicher Ansatz zur Konfliktlösung … das skizzierte strategische Interesse Russlands anerkennen und mit einbeziehen (müsste). Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn angeboten würde, zwischen Moskau, Washington, Brüssel und Kiew den dauerhaften Bestand einer unabhängigen Ukraine in gesicherten Grenzen vertraglich zu vereinbaren“, bin ich skeptisch, ob Kiew noch einmal für einen derartigen Garantievertrag zu gewinnen wäre. Es gibt ja schon einen solchen Vertrag.
Abgeschlossen im Januar 1994 von den Präsidenten Russlands, der Ukraine und der USA, sollte das trilaterale Abkommen über die Vernichtung der auf ukrainischem Staatsgebiet stationierten ehemaligen sowjetischen Interkontinentalraketen den nichtnuklearen Status der Ukraine endgültig bestätigen. Im Gegenzug erhielt die Ukraine Sicherheitsgarantien von Russland und den USA; unter anderem gehörte dazu die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität. Mit Zustimmung zu diesem Vertrag hat Russland implizit auch die 1954 durch Nikita Chruschtschow erfolgte Schenkung der Krim an die Ukraine akzeptiert. Durch die völkerrechtswidrige und auch diesen Garantievertrag brechende russische Annexion der Krim ist sehr wahrscheinlich die Bereitschaft der Ukraine, nochmals einem „Garantievertrag“ zuzustimmen, auf ein Minimum gesunken; wer wollte ihr das verdenken?
Vielleicht wäre eine gängigere Lösung die: Russland schlösse mit der EU im Rahmen der sogenannten Osteuropäischen Partnerschaft einen Vertrag ab mit dem Ziel einer assoziierten Mitgliedschaft. Dies führte dazu, dass die EU, die Ukraine und Russland in einem gemeinsamen Vertragssystem mit gemeinsamen Zielen wie Freihandel, Demokratie und Wohlstand eingebunden wären. Alle Beteiligten bekämen die Perspektive einer friedlichen Entwicklung, ohne den Verlust nationaler Eigenheiten und Identitäten hinnehmen zu müssen. Die Frage: Kann man Putin für diesen Plan gewinnen?