17. Jahrgang | Nummer 18 | 1. September 2014

Virtuelle oder reale Transformation?

von Rolf Reißig

Mit seinem Beitrag „Große virtuelle Transformation“ (Das Blättchen 14/2014) hat Ulrich Busch vor allem aus Sicht eines Finanzwissenschaftlers einige Aspekte der aktuellen Transformationsdebatte kritisch beleuchtet. Das ist allein schon deshalb verdienstvoll, da der Transformationsdiskurs weitgehend von Soziologen, Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaftlern dominiert wird. Doch so anregende Momente die Ausführungen Ulrich Buschs auch enthalten, so zeigen sich in ihnen zugleich zwei grundlegende theoretisch-konzeptionelle Schwächen, die ihn zu Miss- und Fehldeutungen führen. Das betrifft sowohl sein „verkürztes und dichotomisches Realitätsverständnis, das die in gegenwärtigen Widersprüchen angelegten Keime des Neuen und real möglichen Zukünfte ausblendet bzw. ins Reich des Virtuellen verbannt“ (Frank Adler) wie auch sein damit verbundenes eingeengtes Transformationsverständnis.
Ulrich Busch orientiert sich bei seiner Sicht auf die „soziale Realität“ auf die „harten ökonomischen Tatsachen“, vor allem auf die industrielle Produktionsweise und deren Wandel. Wer, der einmal Marx gelesen hat, wollte diese Sicht nicht teilen. Doch „soziale Realität“ kann nicht, auch dies eigentlich eine Binsenweisheit, auf eine ökonomische Dimension reduziert werden. Denn Gesellschaft ist ein komplexes, mehrdimensionales soziales Gebilde, eine widerspruchsvolle Einheit ökonomischer, politisch-institutioneller sowie geistig-kultureller Ebenen und Bereiche. Auch die Theorie ist ein spezifischer Teil gesellschaftlicher Praxis. Der uns hier interessierende Transformationsdiskurs und speziell die Diskussion zeitgemäßer theoretischer Transformationskonzepte gehören für Uli Busch eher nicht zu dieser „sozialen Realität“, sondern verkörpern letztlich „Wunschdenken“, „illusionäre Vorstellungen“, bestenfalls „vage Zukunftsprojekte“. Dabei ist es gerade Aufgabe einer „kritischen Soziologie auf der Höhe ihrer Zeit Begriffe und Kategorien zu entwickeln oder wieder zu entdecken und mit Inhalten zu füllen, die eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation bei Wahrung, Ausbau und Erweiterung der Demokratie überhaupt denkbar machen“ (Klaus Dörre). Ulrich Busch übersieht oder ignoriert auch die historische Erfahrung, dass gesellschaftlichen Transformationen in aller Regel ein Wandel im gesellschaftlichen Diskursfeld, ein Wandel in den Köpfen und Lebensstilen der Menschen voraus gingen beziehungsweise eng mit diesen verbunden waren. So war gerade auch die erste Große Transformation der Neuzeit (17. – 19. Jahrhundert) unmittelbar mit der Aufklärung, die industrielle Revolution mit innovativen Ideen und generell „mit einer intellektuellen und ideologischen Transformation verbunden, die eine ökonomische nach sich zog“ (James A. Robinson, Jol Mokyr). Auch wer diesen kausalen Zusammenhang so nicht teilen mag, sollte bedenken: Im Kontext dieser ersten Großen Transformation entsteht und entwickelt sich gerade auch ein komplexes, paradigmatisches Forschungsprogramm zur „Großen Transformation“ mit unterschiedlichen theoretischen Konzepten (zunächst Tocqueville, Comte, Spencer, anschließend Tönnies, Durkheim, Simmel, vor allem Marx und Weber).
Auch der New Deal-Transformation gingen erst einmal „neue Ideen“ und das Handeln von Persönlichkeiten (Roosevelt) zu deren Umsetzung voraus (Heiner Flassbeck).
Wenn es im 21. Jahrhundert nun um eine neue gesellschaftliche Transformation gehen sollte, wovon eine Mehrheit der Transformationsforscher und auch der Club of Rome und selbst der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung (WBGU) mit seinem Konzept „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ ausgehen – dann erfordert das mehr denn je ernsthafte empirische Analysen und theoretisch-konzeptionelle Arbeiten. Letzteres verlangt eine genaue Identifizierung der Ausgangsbedingungen, das heißt eine fundierte Zeitdiagnose und „Grundmodelle eines Epochenverständnisses“, kurzum eine „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ (Jürgen Osterhammel). Ein solches Transformations-Forschungskonzept wird bemüht sein, das neue Paradigma wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung aufzuspüren und versuchen, auch mögliche Wandlungs- und Entwicklungsverläufe zu identifizieren, wobei ihre Resultate als offen anzusehen sind. Nebenbei sei angemerkt, „dass Intellektuelle an innovativen Ideen auch dann festhalten wenn die Realität ihnen (zunächst) widerspricht“ (Oskar Negt). Nur wenn man davon ausgeht – wie Ulrich Busch unterstellt – dass diese theoretischen Transformationskonzepte von ihren Autoren als heutige Transformationswirklichkeit angesehen würden, kann man sie als „Wunschdenken“, als „illusionär“ abtun.
Der Übergang vom verkürzten zum dichotomischen Realitäts- und einseitigen Transformationsverständnis ist dann eine logische Folge. Transformation, so Ulrich Busch, ist Wandel der Produktionsweise. Natürlich! Aber nicht nur und oft nicht einmal zuerst. Transformation ist ein spezifischer, ein besonderer Typ sozialen Wandels. Von Transformation kann nur dann und dort gesprochen werden, wo ein nichtintendierter und intendierter Prozess der Destruktion, des Übergangs und der Neukonstitution von Typen sozioökonomischer und soziokultureller Entwicklungsweisen, von Typen sozialer Ordnung sich vollzieht. Transformation muss deshalb als gesamtgesellschaftlicher Wandel, als „Gesellschafts-Transformation“ beschrieben und erklärt werden, in der der Wandel der Produktionsweise einen zentralen Platz einnimmt, weil er natürlich die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse radikal umwälzt. Aber Transformation muss nicht – wie die Geschichte belegt – mit Wandel der Produktionsweise beginnen. Der „industriellen Revolution“ (England 19. Jahrhundert) zum Beispiel ging – wie der renommierte Historiker und Spezialist für das 19. Jahrhundert Jürgen Osterhammel begründet – die Herausbildung der „politischen Moderne“ (Nordamerika, Frankreich letztes Drittel des 18. Jahrhunderts) voraus. Und Transformationsprozesse werden oft durch „aufstrebende soziale Klassen, Schichten, die den Wandel der Institutionen und Mentalitäten vorantreiben“ (Leggewie/Welzer) eingeleitet. Schließlich: Ohne Wandel der Lebensweise wird es keinen Wandel der Produktionsweise geben wie umgekehrt. Statt eindimensionales also mehrdimensionales Transformationsverständnis!
Die wohl entscheidende von Ulrich Busch aufgeworfene Frage lautet: Gibt es heute überhaupt Anzeichen einer neuen gesellschaftlichen Transformation? Allein am Stigma Produktionsweise festhaltend und die neue, große Transformation gar als globale „Herausbildung einer post-kapitalistischen (kommunistischen) Gesellschaft“ interpretierend, muss er diese Frage konsequent verneinen. Denn real seien keine Belege für einen solch grundlegenden „Umbruch der Produktionsweise“ zu finden. Wer dennoch über eine solche Transformation heute nachdenkt, diskutiert, schreibt (und das ist immerhin die Mehrheit der Transformationsforscher), denkt, diskutiert, schreibt über eine „Virtuelle Transformation“, die es in Wirklichkeit nicht gibt (Ulrich Busch). Abgesehen davon, dass ich niemanden kenne, der die heutige Transformation mit der Herausbildung einer post-kapitalistischen/kommunistischen Gesellschaft identifiziert, sind wir von einem sozial-ökologischen Wandlungs- und Umwandlungsprozess heute tatsächlich weiter entfernt als dies vor Jahren noch angenommen und erwartet werden konnte. Die globale Vermarktlichung schreitet voran, der marktradikale Entwicklungspfad dominiert noch immer weltweit. Also keine neuen Transformationsprozesse und daher auch Verzicht auf empirische und theoretische Transformationsforschung/-debatten und alleinige Betrachtung der gegenwärtigen globalen finanzkapitalistischen Entwicklung? Wie notwendig letzteres ist, steht außer Frage. Nur reicht dies nicht – nicht theoretisch und nicht praktisch-politisch. Denn die gesellschaftskritische Zeit- und Epochendiagnose lautet: Wir leben in einer „Gesellschaft im Umbruch“ und in einer „Epoche historischen Übergangs“ mit offenem Ausgang. Auf die historische Agenda gerückt ist das Erfordernis eines Übergangs zu einem neuen Typ sozioökonomischer und soziokultureller Entwicklung. Denn das mehr als zwei Jahrhunderte hegemoniale Entwicklungs-, Wachstums-, Industrie- und Fortschrittsmodell stößt an seine natürlichen und gesellschaftlichen Grenzen. Es geht um einen Pfadwechsel, um den langfristigen Übergang zu einem (nur allgemein zu definierenden) neuen Entwicklungstyp, einem Typ ressourceneffizienter, umweltkompatibler, nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Teilhabe, demokratischer Bürgerbeteiligung und sozialer und humaner Lebensqualität. Eine solche grundlegende Gesellschafts-Transformation kann sich nur in einem längeren historischen Prozess (Epochencharakter) mit unterschiedlichen Entwicklungsphasen vollziehen. Die „Neolithische Revolution“ (V. Gordon Childe) als Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Agrargesellschaft dauerte mehrere tausend Jahre; die erste Große Transformation der Neuzeit als Übergang von den verschiedenen vorkapitalistischen Formen des Wirtschaftens und Arbeitens zur kapitalistischen Warenproduktion, zur kapitalistischen Moderne, mehr als 300 Jahre. Und heute? Zeitprognosen sind schwierig. Doch geht der Club of Rome in seinem neuesten Bericht „2052“ davon aus, dass wohl erst nach 2052 die grundlegenden gesellschaftlichen Umwandlungen (Transformation) erfolgen werden, weil sich die kritische Situation – die ökologische und soziale Frage – erst dann so zugespitzt haben wird, dass Gesellschaft veränderndes Handeln unausweichlich wird (Jorgen Randers).
Statt jedoch abzuwarten oder über „Virtuelle Transformation“ zu meditieren müssen die Weichen für einen solchen sozial-ökologischen Wandel möglichst schon heute gestellt werden. Ja, bereits heute geht es um die Zukunft. Und tatsächlich findet diese Transformation schon im Hier und Heute statt, nicht als weltweiter Übergang zu einer „post-kapitalistischen (kommunistischen) Gesellschaft“, sondern als Bewegung und Auseinandersetzung um die weitere gesellschaftliche Entwicklungsrichtung unter wirtschaftlich-kapitalistischen Verhältnissen. Auch hier bietet uns Karl Polanyi einen, leider oft (so auch von Ulrich Busch) nicht beachteten Erklärungsansatz: „Große Transformation“ – hier als „Doppelbewegung“ innerhalb kapitalistischer Entwicklungsweisen, innerhalb kapitalistischer Marktwirtschaften und bürgerlicher Gesellschaften. Transformation als Doppelbewegung – verstanden als „Selbstregulierenden (sozial entbetteten) Markt“ mit schwerwiegenden Folgen für Gesellschaft, Mensch und Natur einerseits wie als gesellschaftliche „Gegenbewegung“, als „Selbstschutz der Gesellschaft“ andererseits (Karl Polanyi). Der selbstregulierende Markt hatte, so Polanyi, zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt. Die progressive Alternative hieß für ihn: statt Primat des „Selbstregulierenden Marktes“ Primat einer „Neuen Demokratie“, in der die Menschen (bei Existenz sozial regulierter Märkte) rational und selbstbestimmt ihre Gesellschaft bedarfsgerecht gestalten.
Genau in dieser „Doppelbewegung“ unter neuen Bedingungen manifestiert sich die reale, widerspruchsvolle und oft unübersichtliche Transformation in ihrer heutigen Entwicklungsphase: Dominanz des Finanzmarktkapitalismus und fortschreitende globale Vermarktlichung (neben Arbeit, Boden, Geld heute auch Natur und Information betreffend) einerseits und Ansätze sozialer, kultureller, globaler Gegenbewegungen (Buroway/Berkeley), Ansätze post-neoliberaler, sozialer und ökologischer Transformationsprozesse andererseits. Diese Doppelbewegung mit ihrem offenen Ausgang gilt es in ihrer komplexen Verflechtung heute in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Eine intellektuelle Herausforderung und gerade auch wichtig für praktisch-politische Bewegungen und Alternativen in Richtung einer möglichen post-neoliberalen und späteren sozial-ökologischen Transformation. Transformationstheoretisch geht es also heute erst einmal um eine Transformation im und des Kapitalismus, in und der „modernen bürgerlichen Gesellschaft“ (Marx). Und deshalb sind konkrete wirtschaftliche, soziale, kulturelle Alternativen, Projekte, Transformationsprozesse (z. B. ökologische Energienetzwerke in Dörfern und Regionen, Formen der Gemeinwohlökonomie, öffentliche Güter in öffentlicher Hand, Rekommunalisierungen, Genossenschaften, neue soziale Teilhabe- und demokratische Beteiligungs- und Lebensweiseformen) nicht gering zu schätzen oder gar zu belächeln (wie durch Ulrich Busch), sondern ernstzunehmende Bewegungen und Versuche eines zumindest partiellen und punktuellen progressiven Wandels. Entscheidend wird sein, ob und wie solche Veränderungsprozesse in lokalen und regionalen Räumen die dominierende neoliberale Entwicklungsrichtung verändern und zurückdrängen. Ob solche Keime des Neuen wieder okkupiert werden oder einmal in eine weiterführende Gesellschafts-Transformation münden, ist heute ungewiss. Doch ohne diese evolutionären, schrittweisen Such-, Entwicklungs- und Veränderungsprozesse, kleinen Transformationen, ohne die damit einhergehenden Selbstveränderungs- und Lernprozesse, ohne letztendliche Herausbildung einer neuen „sozialen Macht“ (Erik O. Wright) dürfte es eine große gesellschaftliche Transformation nicht geben. Auch die erste Große Transformation der Neuzeit war tatsächlich ein „Zusammenspiel von zahlreichen kleinen Veränderungen“ (Jürgen Osterhammel).
Abschließend: Auch die von Ulrich Busch vorgenommene historische Verortung der postsozialistischen Transformation mit seiner Kritik an allen anderen Deutungen (unter anderem Thomas, Engler, Reißig, Land) ist diskussionswürdig, hier aber aus Platzgründen nicht zu leisten. Dass die postsozialistische Transformation kein Auftakt für eine neue, globale große Transformation war und sein konnte, ist unumstritten. Das hat so, anders als Ulrich Busch meint, auch niemand ernsthaft behauptet. Die tatsächlich umstrittene Frage im postsozialistischen Transformationsdiskurs war eine andere. Der konservative Mainstream sah in den Umbrüchen von 1989/90 den endgültigen „Sieg des Westens“ und das „Ende der großen Gesellschaftsalternativen“ (Daniel Bell), ja das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), während gesellschaftskritische Transformationsforscher die postsozialistische Transformation als „doppelte Transformation“ verstanden und sie in den Kontext eines umfassenderen Transformationszusammenhangs der kapitalistischen Moderne stellten. Denn seit Mitte/Ende der 1970er Jahre standen sowohl die kapitalistisch-fordistischen wie auch die staatssozialistisch-fordistischen Industriegesellschaften vor einer neuen „Umbruchsituation“ und „strukturellen Transformation“ (Konrad Jarausch, Andre Steiner). Die postsozialistische Transformation konnte deshalb historisch und logisch nicht als Ende einer Transformationsepoche gedeutet werden. Das westliche Gesellschafts- und Entwicklungsmodell steht nun mehr denn je vor grundlegenden Herausforderungen und ist nicht mehr länger Folie und Vorbild der Transformation, sondern selbst „Objekt und Subjekt tiefgreifender Wandlungs- und Umbauprozesse“ (Helmut Wiesenthal).
Welche der beiden damaligen Annahmen bislang den Realitätstest eher bestanden hat, liegt eigentlich auf der Hand. Warum also sollten wir gerade heute die Transformationsdeutungen des damaligen konservativen Mainstreams übernehmen, wo dieser hinsichtlich der heutigen Transformationsdeutungen sich selbst beachtlich ausdifferenziert?
Zum Schluss: Was die „Transformation heute“ anbelangt sind unsere Ungewissheiten größer als unsere Gewissheiten. Notwendig ist schon deshalb ein interdisziplinärer und offener Forschungs-, Diskussions- und Lernprozess. Die Devise „Mein“ (Forschungsstandpunkt) = „Allein“ (der Wahrhaftige) hilft da nicht weiter.