17. Jahrgang | Nummer 15 | 21. Juli 2014

Querbeet (XL)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Milchmann am See, ein Füchslein in Wien, Hamlet, Lear, Maria plus drei Schwestern in der Burg und Tartuffe in Berlin-Wilmersdorf.

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Ganz Österreich im Fieber: Die Sommer-Spektakel! Kaum ein Kloster, kaum ein Schloss, kaum ein lauschiger Flecken in der ohnehin durchgängig lauschigen Landschaft ohne musikalisch-theatralisches Spektakel von ganz groß (und Weltbedeutung) bis ganz (oder ganz-ganz) klein – und alle in heftiger Konkurrenz um die Publikumsgunst, um private oder staatliche Fördertöpfe. Man tritt sich gegenseitig schon ziemlich auf die Füße; wobei die Frage schwelt, ob die Masse bei aller Vielfalt noch genug Abnehmer finden wird. Weshalb man vorsorglich und kräftig in die wiederum kostentreibende Infrastruktur investiert: ins Bühnentechnische, in den Komfort fürs erstaunlich vergnügungssüchtige sowie erstaunlich zahlungskräftige Publikum.
Zum Beispiel Festspiele Mörbisch, Großunternehmen (6.500 Plätze) am Neusiedler See an der Grenze zu Ungarn, traditionell spezialisiert auf schmissig prunkende Operettenseligkeit. Doch heuer, unter neuer Direktion von Dagmar Schellenberg, zu DDR-Zeiten Gesangsstar an Berlins Komischer Oper, eine nicht unproblematische Neuerung: Musical! Mit ausgerechnet „Anatevka“, diesem tief- und feinsinnigen, schwer melancholischen Kammerspiel-Klassiker, sparsam ergänzt mit allerdings subtilen Musikeinlagen auf der fußballfeldgroßen Panoramabühne. Eben keine ganz leichte Sommerkost und also eine mutige, um nicht zu sagen riskante Herausforderung, die der Regisseur Karl Absenger auf so intelligente wie einfühlsame und zudem äußerst präzise Art meistert.
Was für ein Ereignis! Scholem Alechems herzig jiddische, dabei entsetzlich traurig grundierte Mär vom Milchmann Tevje (faszinierend: Gerhard Ernst), der mit den Heiratswünschen seiner Töchter, die alle Traditionen radikal über den Haufen werfen, so seine liebe Not hat – diese so bittersüße Geschichte als wundersam historischer Bilderbogen aus dem Russischen von 1905 herzerfrischend witzig und komisch aufgeblättert, ohne den bösen Hintergrund, die grauenvolle Vertreibung der Juden aus ihrer galizischen Heimat, auszublenden. Das Meisterliche dieser, man darf wohl sagen musterhaften Inszenierung ist die unaufdringliche und gerade deshalb so sehr ergreifende Verquickung des tiefsinnig Poetischen mit dem brisant Politischen. Die Dramatik der Melange aus kopfschüttelnder Schicksalsergebenheit und trotzigem Widerstand, aus weltweise lächelnder Melancholie und verzweifelt triumphierender Daseinsbehauptung kommt – scheinbar leichthin gemacht – schwer zum Tragen. Bei dieser inszenatorischen Gratwanderung greift alles gekonnt ineinander: Das packende Herausstellen der (familiären) Konflikte unter den Protagonisten, die wirkungsstarke Choreographie der Massen (Chor, Ballett, Statisten), der sparsame, doch dafür umso wirkungsstärkere Einsatz diverser Effekte (Video, Wasserfontänen, Feuerwerk) sowie die Einbindung des pittoresken Schtetls in eine gründerzeitlich-technische Monumentalarchitektur aus Fabriken nebst opulenter Hochbrücke für eine dampfende Eisenbahn (Ausstattung: Walter Vogelweider). Eine gesamtkunstwerkliche Meisterleistung, die man so leicht nicht wieder wird erleben können. Breitwand-Theater und solistisch-gesangliches Kammer-Spiel ideal vereint. Womit Mörbisch sich kühn an die Spitze aller österreichischen Hochsommer-Events setzt. Tausende Zuschauer in ergriffener Begeisterung.

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Kein Wien ohne Staatsoper! Man lässt sich nicht lumpen und haut kurz vor Ferienbeginn nicht nur Touristen-Kompatibles (Mozart, Donizetti, Puccini) auf den florierenden Markt, sondern auch Höchstes und Schwierigstes, nämlich Wagners „Ring“. Die Inszenierung leider unerheblich. Doch musikalisch ereignet sich Weltklasse. Auch quasi ohne Regie entfaltet das singuläre Meisterwerk seine nachhaltig überwältigende Wirkung – mit in jeder Hinsicht hochdramatischen Superstars. Das Casting gleicht einer Liste der Weltbesten! Ein deutlich internationales Publikum total aus dem Häuschen – auch draußen auf dem Karajan-Platz beim Public-Viewing, denn man überträgt zeitgleich auf die LED-Wand.

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Daneben ein Alt-Wiener Staatsopern-Schmankerl: Nach 27 Jahren kehrt das ruhmreiche Ringstraßen-Urgestein Otto Schenk zurück an „sein“ Haus, wo er vor einem Halbjahrhundert als Regisseur debütierte, um im gesegneten Alter von nunmehr 84 Jahren Janaceks mährischen Sommernachtstraum „Das schlaue Füchslein“ zu inszenieren. Er tut es ganz kindlich-naiv in einem betörend märchenhaften Walddickicht mit entzückend ausstaffiertem Getier (Schenks Fantasy-Tierleben). Vom Grauen, das auch in dieser vermeintlich lieblichen Tierwelt herrscht, keine Spur beim uraltgedienten Opernfuchs. Alles neckisch verspielt, zauberisch verwunschen und köstlich gesungen. Ganz alter Opern-Kulissen-Kostüm-Betrieb. Das Publikum schwelgt und juchzt hingerissen. Orkanartiger Beifall bei dieser letzten Premiere der Saison.

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Und: Kein Wien ohne Burgtheater! Doch keine Angst – Entwarnung! – kein Wort hier über den spektakulärsten Burg-Thriller aller Zeiten, der sich als Dauerbrenner wohl noch über Jahre strecken dürfte: nämlich das Viele-Millionen-Euro-Defizit, das heitere Geld-zum-Fenster-Hinauswerfen, die kriminelle Buchführung, das große Köpferollen, die vielen Gerichtsprozesse, das fleißige Schmutzige-Wäsche-Waschen in den Gazetten.
Lassen wir das historisch tiefste Elend des reichsten und größten Schauspielhauses dieser Welt beiseite, quetschen uns ins enge, bei jeder Bewegung frech knarzende Parkett und schauen auf die enorme Bühnenbreite, auf der selbst kurz vor Saisonschluss noch die dicken und teuren Klopper bei vollem Haus und hochsommerlichen Temperaturen vorüber rollen. Es gibt zwei Mal Shakespeare, zwei Mal tradiertes, also in Berlin als altmeisterlich, als hoffnungslos gestriges Literaturtheater gebrandmarktes Schauspiel, sozusagen das krasse Gegenteil vom performativ-installativen oder wie auch immer neumodisch etikettierten Regisseurs-Theater. Nämlich „Hamlet“ mit einem schnöselhaft durchgeknallten August Diehl unter Regie von Andrea Breth (fast sechs Stunden, zwei Pausen) sowie „König Lear“ unter Peter Stein mit einem erst im Zottelfellmantel alterssturen, dann im Nachthemd altersleidenden Klaus-Maria Brandauer.
Breths XXXL-Hamlet (wann wurde er je gezeigt?) spiegelt meinungslos eine total chaotische menschenfeindliche Welt; wobei das freilich auch eine Meinung gegenüber der Welt ist. Aber: rechtfertigt sie derart viele Spielstunden? Nein! Sie langweilt. Das ehrpusselige Aufblättern der Handlung mit all ihren wenig interessierenden Verästelungen bringt keinen sonderlichen Erkenntnisgewinn und leider auch wenig (schau)spielerischen Genuss.
Steins „Lear“ bleibt ebenso stecken im bloßen Bebildern der Story. Beide Male kaum Subtext, kaum tiefere oder höhere Bedeutung. Und keine Zuspitzung, kein packender theatralischer Zugriff auf im Stoff steckende, brisant allgegenwärtige Themen. Immer nur das mehr oder weniger feine Dahin-Deklamieren des Textes. Die Tragödie, das Explosive, Erschütternde, das alles bleibt unentdeckt. Es sei denn, man setzte es sich selbst im Hirn und im Herzen zusammen. Fordern das etwa Breth & Stein? Doch da kann man gleich zu Hause auf der Couch im Reclam-Heft schmökern.
Erstaunlich: Das gern als Alternative zum so genannten Avantgardistischen herbei gesehnte konservative Theater, exemplarisch demonstriert an höchstem Ort mit weltbesten Texten und kostbaren Ensembles, das gerät trotz allen Aufwands doch nur zwergenhaft. Merke: Allein das Konservative pur gibt keine Garantie für starke Wirkung.
Und nun, von ganz anderer Art, die Burgtheater-Nummer drei: Jürgen Bosse, das nun auch schon fast 50 Jahre alte, aber noch immer sich wild fühlende Kind eines vehement behaupteten Avantgarde-Regietheaters, mit Tschechows „Möwe“, dieser großen schwarzen, grausig, ja geradezu absurd verrückten Komödie von armen Menschenkindern, die glühend und rasend vor Sehnsucht ihr Glück nicht finden, daran verzweifeln und kaputt gehen. Stein und Breth nehmen das Unglück der Shakespeare-Figuren zwar ernst, behaupten es aber bloß – todernst; belassen es vornehm zurückhaltend im mehr oder weniger erregt Rhetorischen. Bosse hingegen ist das Unglück der Tschechow-Figuren völlig Wurscht; er verjuxt es keck, macht krachend Tschechow-Typen-Kabarett, ulkig oder albern hysterisch, schäkert mit dem Publikum und verschnörkelt alles mit Banalitäten aus unserem Alltagsleben. Auch das ist nicht abendfüllend, dafür aber schnell abgetan. Ich darf zusammenfassen: Alle drei berühmten Regisseure arbeiten – ob lang- oder kurzatmig, ob direkt oder umständlich – am Autor vorbei.
Man erkennt: Weder die vermeintlich konservative noch die vermeintlich alternative Art, Dramen zu inszenieren, greift uns wirklich an, wenn es so geschieht, wie es hier geschehen ist. Also trotz enormer Potenzen und Ressourcen: Kein Glanz, keine Schönheit, keine Ergreifen.
Wäre da nicht Nummer vier: Da explodiert doch kurz vor Toresschluss noch ein echtes Burg-Wunder: Hebbels Trauerspiel „Maria Magdalena“ unter Regie von Michael Thalheimer. Der Meister eines wuchtig expressiven Minimalismus erzählt das gnadenlose, mit Menschheitsdreck und Herzensreinheit vollgestopfte Untergangsstück klar, einfühlsam, erschreckend. Ganz großes, mit Eiseskälte und bebender Wut fest ins Gedächtnis gehauenes Theater von einem, der weit jenseits der Traditionalisten steht. – Also doch Regie-Glanz und Schauspieler-Schönheit; wenn auch mit Schmerzen und mit Schrecken.
Bleibt halt die uralte Weisheit: Fraktionen, Etiketten, Absichten sind nichts, Können ist alles.

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Abstecher nach Berlin an die Schaubühne zu Moliere und „Tartuffe“. Zur großen Komödie von einem durch religiöse Heuchelei und durchtriebene Verführungskunst manipulierten Familienvater (Orgon), der in einer als haltlos empfundenen Welt Halt suchend sich einem Menschenfänger (Tartuffe) hingibt und ihm beinahe alles opfert. Aus diesem gallig wogenden Aberwitz vom Aussetzen aller Vernunft macht der neue Schaubühnen-Hausregisseur Michael Thalheimer in Olaf Altmanns enger, vergoldeter Bühnenschachtel, die schließlich fein sinnbildlich auf dem Kopf steht (einziger Lichtblick der Veranstaltung), da macht der also kurzerhand eine Karikatur total Verblödeter draus. Wie verrückt rattert da ein technisch perfektes Aufsage-, Rumschrei-, Grimassier- und Verrenkungstheater los. Mit super Schauspielern wie Ingo Hülsmann und Lars Eidinger, Regine Zimmermann oder Judith Engel. Garniert ist die 90-Minuten-Performance von lauter Zombies mit endlos herunter geleierten Bibelzitaten. Moliere als Klamotte im Handumdrehen platt gemacht.
Just im Sommer vor einem Jahr trieb Regisseur Luc Bondy im Burgtheater/Außenstelle Akademietheater (wir sind wieder in Wien) dasselbe Stück aus dem allgemeinmenschlichen Tollhaus radikaler Wirklichkeitsverweigerung mit leichtester Hand in schwerstes Entsetzen. Kein Zerrbildtheater, sondern spannendes Menschenspiel – mit dem jetzt eben erst erschreckend früh verstorbenen Gert Voss als Orgon! Ein unvergessliches Großereignis; obgleich – im Gegensatz zum avantgardistischen Thalheimer – ins gern geschmähte Fach des so genannten klassisch konservativen Literaturtheaters gehörend. Merke: Keine Form, keine Methode, auch die berühmte des Meisters Thalheimer nicht, bringt per se Theaterglück.