17. Jahrgang | Nummer 7 | 31. März 2014

Krimkonflikt und Völkerrecht

von Gerd Seidel

1. Vorgeschichte

Die seit 1783 zu Russland gehörige Halbinsel Krim blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück.
Im Krim-Krieg (1853-1856), in dem Russland den türkischen, französischen und britischen Truppen gegenüber stand, starben circa 200.000 Menschen. Deutsche Truppen besetzten die Krim in beiden Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts. Im zweiten Weltkrieg wurden Krim-Tataren und Krim-Deutsche wegen angeblicher Kollaboration mit Deutschland von Stalin im großen Stil von der Krim in östliche Gebiete der damaligen Sowjetunion zwangsumgesiedelt. Im Februar 1945 fand in dem auf der Krim gelegenen Badeort Jalta die sogenannte Krim-Konferenz der drei Großmächte der Anti-Hitler-Koalition, UdSSR, USA und Großbritannien, statt, auf der weitreichende Beschlüsse über die Nachkriegsordnung getroffen wurden. Das betraf insbesondere die Verteilung der künftigen Einflusssphären der Großmächte in Europa, die Einteilung Deutschlands und Berlins in Besatzungszonen sowie die Verständigung auf das Veto-Recht im Sicherheitsrat der in Vorbereitung befindlichen Organisation der Vereinten Nationen.
Anlässlich des 300. Jahrestages der Vereinigung von Russen und Ukrainern im Jahre 1954 schlug der damalige sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow die überwiegend von Russen bewohnte Krim der ukrainischen Sowjetrepublik zu. Diesem Akt kam zu jener Zeit lediglich eine symbolische Bedeutung zu. Erst als die Sowjetunion 1991 zerfiel und die Ukraine – neben Russland – ein selbständiges Völkerrechtssubjekt wurde, kam die politische Tragweite dieses Schenkungsaktes von 1954 richtig zum Vorschein, vor allem dadurch, dass im Militärhafen von Sewastopol, wo bereits seit dem 19. Jahrhundert die russische Schwarzmeerflotte stationiert war – die von hier aus den einzigen Zugang zum Mittelmeer hat. Einem von prorussischen Kräften im Jahre 1992 angestrebten Referendum über die Unabhängigkeit der Krim wirkte die ukrainische Regierung in der Weise entgegen, dass die Krim 1994 innerhalb der Ukraine den Status einer autonomen Republik mit eigener Regionalregierung und eigenem Parlament erhielt. Gemäß der ukrainischen Verfassung in der Fassung von 1989 war die Halbinsel Krim „integraler Bestandteil der Ukraine“. Im Rahmen dieses autonomen Status der Krim genoss die Hafenstadt Sewastopol ihrerseits wegen der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte einen verwaltungsrechtlichen Sonderstatus, der in der direkten Unterstellung der Stadt unter die Regierung von Kiew seinen Ausdruck fand.
Die Russische Föderation anerkannte seit 1991 zu verschiedenen Anlässen die Zugehörigkeit der Krim zum ukrainischen Staatsverband. 1991 wurden die von beiden Staaten die nach dem Zerfall der UdSSR entstandenen bilateralen Grenzen anerkannt. Im Abkommen zwischen der Ukraine, Russland, den USA und Großbritannien über die Beseitigung der bis dahin auf dem Territorium der Ukraine stationierten Atomwaffen verpflichteten sich die Vertragspartner zur Achtung der territorialen Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine. Schließlich ist auch im Abschluss der bilateralen Abkommen von 1997 zwischen Russland und der Ukraine über die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol die Anerkennung der Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine involviert. Dieses Vertragswerk, das minutiös die Bedingungen des Aufenthaltes der russischen Militär- und Zivilpersonen sowie der dazugehörigen Einrichtungen vorsieht, ist seinem Wesen nach ein Pachtvertrag, in dem die Ukraine als Eigentümerin der Russischen Föderation als Pächterin bestimmte Nutzungsrechte zugesteht. Der Stationierungsvertrag von 1997 wurde 2010 bis 2043 verlängert.

2. Sachverhalt

Der Konflikt auf der Krim ist vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Ukraine zu sehen. Hier soll der Blick auf die Vorgänge auf der Krim fokussiert werden.
Nach dem Zusammenbruch des Janukowitsch-Regimes entstand in der Ukraine ein Machtvakuum. Der Staat sieht sich der Zahlungsunfähigkeit gegenüber. Seine Organe sind nur beschränkt handlungsfähig. Die Autorität der sogenannten Übergangsregierung ist unter anderem dadurch gemindert, dass einige Regierungsmitglieder ultrarechte und antisemitische Positionen vertreten und dass die Übergangsregierung Russisch als Amtssprache abschaffen wollte, wodurch die Kluft zwischen der russischen und der ukrainischen Bevölkerung vertieft wurde.
Die Schwäche des ukrainischen Staatswesens nutzte der russische Präsident Wladimir Putin offensichtlich aus, um die Abtrennung der Krim von der Ukraine mit dem Ziel zu betreiben, die Halbinsel Russland einzuverleiben. Ende Februar 2014 kam es auf der Krim zunächst zu Demonstrationen der dort ansässigen russischen Mehrheit, die eine engere Anbindung an Moskau verlangten. Es folgten Gegendemonstrationen anderer Bevölkerungsteile wie der Tataren, die das verhindern wollten. Bald danach bestimmten mehrere Tausend Soldaten – vermummt, ohne Hoheitszeichen an der Uniform und mit Handfeuerwaffen ausgerüstet – das Straßenbild auf der Krim. Die ukrainische Seite gab an, diese Soldaten seien mit russischen Militärmaschinen eingeflogen worden. Von russischer Seite wurde dies bestritten und behauptet, es handele sich um Kräfte der Selbstverteidigung der russischen Krimbevölkerung. Diese Moskauer Version wurde in Zweifel gestellt, weil diese gewissermaßen über Nacht in großer Zahl und mit umfangreicher Militärausrüstung auf der Krim aufgetauchten Soldaten vorher nicht wahrgenommen wurden. Der neue Regierungschef der Krim, S. Aksjonow, bat Russland um militärischen Beistand. Dem stimmten der russische Föderationsrat und Präsident Putin am 1. März 2014 grundsätzlich zu. Obwohl die ukrainische Verfassung keine Bestimmung über ein Referendum zur Abtrennung eines Teils der Ukraine enthält, wurde für den 16. März 2014 eine solche Abstimmung für die Krim festgelegt. Noch vor diesem Datum, am 11. März, erklärte das Parlament der Krim die Unabhängigkeit der Schwarzmeer-Halbinsel, um – wie es hieß – den Beitritt zu Russland reibungslos zu gestalten. Die diplomatischen Bemühungen der EU und der USA, Russland von der Eingliederung der Krim abzuhalten, scheiterten. Auch die angedrohten und später durchgeführten Sanktionen blieben erfolglos. Eine Verurteilung des russischen Vorgehens durch den UN-Sicherheitsrat scheiterte am 15. März 2014 erwartungsgemäß am russischen Veto. Die Versuche der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Militärbeobachter in das Krisengebiet zu entsenden, waren bereits vorher misslungen. Russische beziehungsweise prorussische Einheiten hatten die OSZE-Experten unter anderem durch das Abfeuern von Warnschüssen von der Halbinsel ferngehalten.
Das Referendum vom 16. März 2014 erbrachte ein deutliches Votum für die Abtrennung der Krim von der Ukraine und den Anschluss an Russland. Mit der Zustimmung durch den russischen Föderationsrat sowie mit der Unterzeichnung der russischen Gesetze zur Aufnahme der Halbinsel Krim, einschließlich der Stadt Sewastopol, in die Russische Föderation durch Präsident Putin fand die Inkorporation der Krim in den russischen Staat am 21. März 2014 ihren innerstaatlich-rechtlichen Abschluss.

3. Rechtliche Wertung

Zu unterscheiden ist die innerstaatliche Verfassungsrechtslage in der Ukraine und der Russischen Föderation von der völkerrechtlichen Ebene.
Da die ukrainische Verfassung keine Bestimmung über ein Referendum zur Abtrennung eines Teils des Staatsgebietes enthält, war die Durchführung der Abstimmung auf der Krim am 16. März 2014 ein Verstoß gegen ukrainisches Recht.
Dagegen sieht Art. 65 Abs. 2 der Verfassung der Russischen Föderation ausdrücklich die Möglichkeit der Inkorporation neuer Gebiete in den Russischen Staatsverband vor. Das dabei einzuhaltende Verfahren des Erlasses eines Bundesverfassungsgesetzes gem. Art. 108 der Russischen Föderationsverfassung wurde offenkundig formell eingehalten.
Es erhebt sich nun die Frage nach der Völkerrechtsgemäßheit der Ausgliederung der Krim aus dem ukrainischen und ihre Eingliederung in den russischen Staat.
Prinzipiell übt das Völkerrecht Zurückhaltung bei der Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit von Sezessionen. In jedem Fall stehen Gebietsübertragungen von einem Staat zu einem anderen dann dem Völkerrecht nicht entgegen, wenn beide Staaten – bei strikter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des von der Gebietsübertragung betroffenen Volkes beziehungsweise unter Berücksichtigung des freien Willens der dort lebenden Bevölkerung – die Gebietsübertragung vertraglich vereinbaren. So ging zum Beispiel das Saarland nach einem dort ordnungsgemäß durchgeführten Referendum 1956 von Frankreich an Deutschland über. Dies geschah auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen beiden Staaten.
Schwieriger wird es in Fällen der Sezession, denn das Völkerrecht orientiert grundsätzlich auf die Stabilität der internationalen Beziehungen und auf die Einheit sowie territoriale Integrität der Staaten. Nachdem die Staaten früher die Abtrennung von Gebietsteilen unter allen Umständen abgelehnt hatten, hat das Selbstbestimmungsrecht der Völker mittlerweile bei Vorliegen bestimmter eng begrenzter Umstände die Möglichkeit für eine Sezession eröffnet. Diese Möglichkeit soll dann gegeben sein, wenn das nach Abtrennung strebende Volk über einen längeren Zeitraum durch schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen seitens des eigenen Staates an der Ausübung seiner aus dem Selbstbestimmungsrecht fließenden lebenswichtigen Rechte gehindert worden ist und Gespräche mit dem Heimatstaat unmöglich geworden sind.
Beide Fälle treffen auf den Fall der Krim nicht zu. Verhandlungen über die Übergabe der Krim von der Ukraine an Russland gab es nicht. Und von schweren langanhaltenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Krim-Bevölkerung seitens der Ukraine kann ebenfalls nicht die Rede sein. Die Krim hatte vielmehr weitgehende Autonomierechte innerhalb der Ukraine. Die Russen, die mit über 60 Prozent die Bevölkerungsmehrheit auf der Halbinsel bilden, waren sowohl im Parlament wie auch in der Verwaltung der Krim angemessen vertreten und konnten dort ihre Interessen artikulieren. Die Voraussetzungen für eine Sezession lagen somit materiell-rechtlich nicht vor.
Es stellt sich nun die Frage, wie das Vorgehen Russlands seit Februar 2014 in Bezug auf die Krim zu werten ist. Das russische Vorgehen stellt sich formell in zwei Phasen dar, nämlich zum einen im Zeitraum bis zum Referendum am 16. März und zum anderen in der Zeit bis zum Inkrafttreten des russischen Gesetzes über die Inkorporation der Krim am 21. März 2014 und danach. Bei genauem Hinsehen zeigt sich aber sehr bald, dass beide Phasen zu einem Handlungskomplex verschmelzen.
Angesichts des seit dem 21. März 2014 vorliegenden Ergebnisses kann letztlich dahingestellt bleiben, wie das bis zu diesem Tag registrierte Auftreten der vermummten und bewaffneten Soldaten zu werten ist. Es erweist sich als vorbereitender Teil zur Abtrennung der Krim von der Ukraine. Legt man die Version zugrunde – für die tatsächlich vieles spricht –, dass es sich dabei um aus Russland entsandte Soldaten auf ukrainisches Territorium handelt, so wird man eine Verletzung des Gewaltverbotes aus Art. 2 Abs. 4 UN-Charta seitens der Russischen Föderation festzustellen haben. Nimmt man darüber hinaus die das Gewaltverbot authentisch konkretisierende Aggressionsdefinition zur Hand, die von der UN-Generalversammlung als Resolution 3314 (XXIX) vom14. Dezember 1974 angenommen wurde, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass hier „die Invasion oder der Angriff bewaffneter Kräfte eines Staates gegen das Territorium eines anderen Staates“ gem. Art. 3 Abs. a dieser Resolution vorliegt und damit der Tatbestand der Aggression erfüllt ist.
Es erhebt sich nun die Frage, ob die Anwesenheit dieser vermummten Soldaten unter Umständen durch die bilateralen Abkommen von 1997 über die Stationierung russischer Soldaten in Sewastopol gedeckt sein könnte. Dagegen spricht allerdings die große Zahl dieser Soldaten und ihre über die gesamte Halbinsel, also auch weit außerhalb des Flottenstützpunktes in Sewastopol, vorgenommene Stationierung. Die Stationierungsabkommen lassen solche Truppenbewegungen ohne Zustimmung der ukrainischen Regierung nicht zu. Mithin liegt die Stationierung von russischen Truppen und Militärgerät auf der Krim im Februar und März 2014 außerhalb der Befugnisse, die Russland nach den bilateralen Stationierungsabkommen von 1997 hat. Darüber hinaus stellt Art. 3 Abs. e der Aggressionsdefinition ausdrücklich klar, dass ein Staat, der Partner eines Truppenstationierungsabkommens ist, dann eine Aggressionshandlung begeht, wenn er seine Streitkräfte im Widerspruch zu den in einem solchen Abkommen festgelegten Bedingungen auf dem Territorium des Empfangsstaates einsetzt.
Die zweite Phase des Handlungskomplexes war mit dem Inkrafttreten des russischen Gesetzes über die Inkorporation der Krim in die Russische Föderation beendet. Nach russischem Recht war damit das Territorium der Krim zu russischem Staatsgebiet geworden. Nach Völkerrecht war der Tatbestand der Annexion erfüllt. Das ist gemäß Art. 3 Abs. a der Aggressionsdefinition – wie die Invasion – eine Form der Aggression, die in Art. 5 als ein Verbrechen gegen den Weltfrieden charakterisiert wird.
Diese Charakterisierung der Aggression findet sich in zahlreichen völkerrechtlichen Grundsatzdokumenten seit der Annahme der UN-Charta, darunter auch in der UN-Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts vom 24.10.1970, Res. 2625 (XXV). Im Prinzipienkatalog der KSZE-Schlussakte vom 1.8.1975 nimmt das Gewalt- und Aggressionsverbot einen breiten Raum ein. Bei der Ausarbeitung der Schlussakte war es die damalige UdSSR, die mit Nachdruck darauf bestand, dass – abweichend von ähnlichen internationalen Dokumenten – in den Prinzipienkatalog neben dem Gewaltverbot als selbständiges Prinzip auch das der Achtung der Unverletzlichkeit der Grenzen aufgenommen wurde. Dieses Prinzip der Schlussakte verlangt, dass die in Europa bestehenden Grenzen sowie die territoriale Integrität der Teilnehmerstaaten strikt zu achten sind. Darüber hinaus sind die Teilnehmerstaaten der KSZE (heute OSZE) gehalten, militärische Manöver und Bewegungen vorher anzukündigen und dem Austausch von Beobachtern zuzustimmen.
Aufgrund der Schwere der Völkerrechtsverletzung schließt die Aggressionsdefinition jederlei „Erwägungen seien sie politischer, wirtschaftlicher, militärischer oder anderer Art“ als Rechtfertigung für eine Aggression aus.
Russland hat im Verlauf der Militäraktion, einschließlich der Annexion der Krim, Gründe vorgebracht, die als Rechtfertigung des Vorgehens dienen sollen. Hierauf soll im Folgenden eingegangen werden.

a) Historische Gründe
Russland beruft sich darauf, dass die Krim seit 1783 russisches Territorium war und 1954 mehr oder weniger zufällig an die Ukraine übertragen wurde. Jetzt habe Russland diesen „Unfall der Geschichte“ zu korrigieren und die Wiedervereinigung mit der Krim zu vollziehen. Dafür müsse gerade Deutschland Verständnis aufbringen, zumal Russland 1990 bei der Herstellung der Einheit Deutschlands, im Unterschied zu den anderen europäischen Mächten Frankreich und Großbritannien, konstruktiv mitgewirkt habe.
Das geltende Völkerrecht verlangt die Respektierung der Grenzen, so wie sie gegenwärtig bestehen. Die Berufung auf Grenzen, wie sie irgendwann einmal in der Geschichte existiert haben, um damit die Einverleibung fremder Gebiete zu rechtfertigen, lässt das an der Stabilität der internationalen Beziehungen orientierte Völkerrecht nicht gelten. Anderenfalls würde das Tor zu Grenzrevisionen, territorialen Streitigkeiten und schließlich zur gewaltsamen Durchsetzung territorialer Ambitionen von Staaten geöffnet werden. Denn es könnten sich dann viele Staaten auf irgendeinen Zeitraum in der Geschichte berufen, in dem ihr Territorium größer als heute war. So kann sich Russland ebenso wenig auf die frühere Zugehörigkeit der Krim zu Russland berufen wie es Deutschland tun kann in Bezug auf Kaliningrad (Königsberg) oder andere Gebiete et cetera. Dass sich Russland 1990 im Rahmen der 2+4-Verhandlungen über die Herstellung der Deutschen Einheit konstruktiver gezeigt hatte als die westlichen Verbündeten Deutschlands, Frankreich und Großbritannien, ist wohl durch einen Blick in die Archive nachzuweisen und verdient den Respekt und den Dank Deutschlands gegenüber Russland. Dennoch ist der von Russland angestrengte Vergleich zwischen der deutschen Vereinigung 1990 und der Krim-Krise 2014 wohl kaum tragfähig: 1989/90 bewirkte die Bevölkerungsmehrheit der bis dahin eigenständigen DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland. Im Unterschied dazu war die Krim bis zu ihrer widerrechtlichen Annexion Teil des souveränen Völkerrechtssubjektes Ukraine, dessen territoriale Hoheit dadurch in gravierender Weise verletzt wurde.

b) Der Vergleich mit dem Kosovo
Russland wirft dem Westen vor, den Kosovo-Fall und den Krim-Konflikt mit zweierlei Maß zu messen. Russland vollziehe mit der Krim heute das Gleiche, was der Westen 1999 im Kosovo praktiziert habe.
Dieser Vergleich ist aus zwei Gründen nicht zutreffend. Erstens hatte Serbien nach den damals vorliegenden Informationen aus den Medien schwere Verletzungen der Menschenrechte gegen die Albaner im Kosovo begangen. Die Rede war sogar von ethnischen Säuberungsaktionen. Von derlei Übergriffen gegen die Bewohner der Krim durch ukrainische Behörden wurde jedoch zu keiner Zeit berichtet. Vielmehr genoss die Krim-Bevölkerung, wie bereits ausgeführt, umfangreiche Autonomierechte. Zweitens entbehrten die militärischen Maßnahmen der NATO gegen Serbien in der Tat einer Rechtsgrundlage. Diese Maßnahmen hätten gemäß Art. 53 UN-Charta einer Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat bedurft. Da diese nicht vorlag, war die Aktion völkerrechtswidrig. Das gibt aber Russland nicht das Recht, die Krim zu annektieren. Durch die Berufung auf fremdes Unrecht wird selbst begangenes Unrecht nicht zu Recht.

4. Rechtsfolgen

Ein Rechtsbruch zieht im Völkerrecht wie auch im innerstaatlichen Recht die Verantwortlichkeit des Rechtsverletzers nach sich. Die Aggression als schweres internationales Verbrechen eröffnet eine breite Palette von Gegenmaßnahmen. Da es sich um eine Verletzung des Weltfriedens handelt, darf nicht nur der unmittelbar betroffene Opferstaat zu Gegenmaßnahmen greifen; dies dürfen auch die anderen Staaten. Allerdings darf allein der Staat, der das unmittelbare Opfer der Aggression ist, im Rahmen seines Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 UN-Charta – gegebenenfalls auch im Verein mit verbündeten Staaten – auch zu militärischen Antwortmaßnahmen greifen, jedenfalls so lange, bis der UN-Sicherheitsrat in den Konflikt eingreift und selbst die notwendigen Maßnahmen gegen den Aggressor-Staat koordiniert. Das Recht, militärisch auf eine Aggression zu reagieren, haben dritte Staaten dagegen nicht. Dieses Recht ist nur dem das Selbstverteidigungsrecht ausübenden Opferstaat und im Übrigen dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten, weil er das Gewaltmonopol besitzt. Im vorliegenden Fall laufen jedoch die Kompetenzen des UN-Sicherheitsrats wegen des russischen Veto-Rechts ins Leere. Deshalb kommen im Krim-Fall nur nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen in Frage, die von den Drittstaaten, hier vor allem von der EU und den USA, ergriffen werden können. Dabei ist der abgestufte Katalog von möglichen Gegenmaßnahmen gegen den Aggressor-Staat ein Angebot des Völkerrechts. Sie müssen nicht zur Anwendung kommen. Es ist somit das Recht der Ukraine – aus welchen Gründen auch immer –, auf die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gänzlich zu verzichten. Niemand zwingt sie dazu. Ebenso liegt es im Ermessen der übrigen, nicht von der russischen Aggression betroffenen Staaten, diejenigen nichtmilitärischen Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die sie für opportun halten und die objektiv angemessen sind. Das können unter anderem Einreisebeschränkungen, Kontensperrungen oder auch wirtschaftliche Sanktionen sein. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Gefahr der Bumerangwirkung und der Eskalation besteht, die bis hin zu einer (unerwünschten) Sprachlosigkeit führen kann.
Nach dem Recht der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit haben dritte Staaten jedoch die Pflicht, territorialen und anderen Erwerbungen des Aggressors die rechtliche Anerkennung zu verweigern. Das bedeutet zum Beispiel, dass Drittstaaten künftig beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Russland mit einem territorialen Bezug zur Krim in einer Vertragsklausel oder in einer dem Vertrag zugehörigen schriftlichen Erklärung ihre Rechtsposition zur Annexion der Krim niederlegen sollten. Schließlich soll der Aggressor zu keinem Zeitpunkt einen Nutzen aus der Aggression ziehen können.

5. Rück- und Ausblick

Der Krim-Konflikt hat einen politischen Ereignisvorlauf, der nicht außer Betracht bleiben kann. Dabei sollen die nachfolgend aufgeführten Einzelheiten dieser Ereignisse die bisher getroffene rechtliche Wertung, dass Russland auf der Krim eine Aggression begangen hat, in keiner Weise relativieren beziehungsweise die Annexion rechtfertigen.
Mit dem Zerfall der UdSSR hat die Sowjetunion große Teile ihres Territoriums verloren, die inzwischen – wie zum Beispiel auch die Ukraine – als gleichberechtigte Völkerrechtssubjekte im Konzert der Staatengemeinschaft agieren. Die Großmachtposition Russlands ist damit reduziert worden auf den Besitz von Kernwaffen und auf den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Dies zu akzeptieren fällt Russland und den Russen bis heute sichtbar schwer. Russland leidet demzufolge an einem postsowjetischen Phantomschmerz. Es stellt sich die Frage, ob der Westen seit den 90-er Jahren in ausreichendem Maße auf diese Befindlichkeit Rücksicht genommen hat. Dabei konnte es nicht darum gehen, Russland etwa Sonderrechte einzuräumen, die dem Land nach Völkerrecht nicht zustehen, oder Russland gewissermaßen wie ein krankes Kind zu verhätscheln. Es ging vielmehr darum, Russland als Partner und ehemalige Großmacht ernst zu nehmen, nicht – wie im Kalten Krieg – als Gegner zu betrachten und das Land in die Vorbereitung geostrategischer Entscheidungen mit einzubeziehen, ohne ihm damit automatisch ein Veto-Recht einzuräumen.
Bei der Beantwortung dieser Frage sind Zweifel angebracht.
Nachdem die 1945 auf der Krim vorgenommene Einteilung der Welt in Einfluss-Sphären durch die politische Wende Anfang der 90-er Jahre hinfällig geworden war, sollen die am 2+4-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12.9.1990 beteiligten NATO-Staaten Russland zugesagt haben, den Wirkungsbereich der NATO nicht in Richtung Osteuropa auszudehnen, sondern es bei der damals existierenden Ostgrenze, also zwischen BRD (alt) und DDR, zu belassen. Das findet in Art. 5 des 2+4-Vertrages seinen Niederschlag, wonach die NATO-Strukturen auf das Gebiet der ehemaligen DDR nicht ausgedehnt werden dürfen.
Ungeachtet der damals gemachten mündlichen Zusage wurden in der Folgezeit sukzessive Staaten östlich von Deutschland als NATO-Mitgliedstaaten aufgenommen. Solche Überlegungen hat es auch in Bezug auf die Ukraine gegeben. Wer die Zusage von 1990 in Abrede stellt, muss sich fragen lassen, welchen Sinn die Verpflichtung zur Nichtausdehnung der NATO-Strukturen im östlichen Teil Deutschlands haben soll, während in Polen, Bulgarien, Rumänien und den baltischen Staaten diese Strukturen gelten. Dem von westlicher Seite vorgetragenen Argument, diese Staaten hätten die freie Wahl, welchem Bündnis sie angehören wollen, könnte man entgegenhalten, dass andererseits die Organisation des Nordatlantikpaktes auch die freie Wahl hat, welche Staaten sie als Mitglied aufnehmen will und welche nicht. Sie hat auch in der Vergangenheit nicht alle Antragsteller als Mitglieder aufgenommen. Die NATO muss sich auch fragen lassen, ob sie die Russische Föderation in angemessener Weise in die jeweiligen Entscheidungsprozesse über die Aufnahme dieser Staaten einbezogen hat. Schließlich ist auch an Rechtsformen unterhalb einer Mitgliedschaft zu denken, durch die die NATO diesen Staaten Schutzgarantien hätte verleihen können.
Es gibt gute Gründe, weshalb die ost- und südosteuropäischen Staaten die Außen- und Sicherheitspolitik mit Argwohn und Skepsis verfolgen. Diese Haltung wurde schließlich durch die Annexion der Krim bestätigt.
Diesen Staaten sollte unbedingt Gehör geschenkt werden, wenn es um die Festlegung der Politik von NATO und EU gegenüber Russland geht. Es sollte aber zugleich vermieden werden, dass diese Staaten die Politik in beiden Organisationen gegenüber Russland bestimmen.
Die Osterweiterung der NATO mag in Russland die Furcht vor der Einkreisung sowie das generelle Misstrauen gegen den Westen ebenso befördert haben wie das Vorhaben der NATO zur Errichtung eines Raketen-Schutzschildes in Osteuropa. Auch die EU hat durch ihr zum Teil unsensibles Vorpreschen, zuletzt durch das ultimative Vorgehen bei den Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine und ohne dabei die landesspezifischen Besonderheiten dieses Staates zu berücksichtigen, eine Verstärkung der Bedrohungsangst auf Seiten Russlands bewirkt.
Sicherheit hat immer zwei Seiten, eine objektive und eine subjektive. Beide Komponenten können gegebenenfalls weit auseinanderfallen. Auch wenn NATO und EU friedliche Ziele verfolgen, so können einzelne ihrer Handlungen von Russland subjektiv durchaus als bedrohlich wahrgenommen werden. Daher verlangt gute Diplomatie immer auch die Fähigkeit, sich in die Lage des Anderen hineinzuversetzen und das Befinden des Anderen zu erkunden. Insofern setzt erfolgreiche Diplomatie die Anwendung psychologischer Grundkenntnisse voraus.

6. Wie geht es weiter?

Der Westen sollte eine Doppelstrategie im Krim-Fall verfolgen. Einerseits muss Russland deutlich gemacht werden, dass die Annexion der Krim völlig inakzeptabel ist und dass weitere Aggressionen, zum Beispiel in der Ostukraine, empfindliche Wirtschaftssanktionen zur Folge hätten, auch wenn sie nicht ohne Auswirkungen für den Westen selbst sein sollten. Russland muss zum Zwecke der Deeskalation auf militärische Demonstrationen, insbesondere auf größere Truppenbewegungen an seiner West- und Südgrenze, verzichten. Solange Russland solcherlei Säbelrasseln unterlässt, sollte auch die NATO Zurückhaltung üben.
Andererseits müsste aber zugleich die Tür für weitere Gespräche offengehalten werden, um eine Perspektive für die Fortführung einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Russland zu haben. Russland braucht die EU ebenso wie das umgekehrt der Fall ist. Vorher muss aber gegenseitiges Vertrauen zurückgewonnen werden.
Nach den eher schlechten Erfahrungen, die die EU in den vergangenen Jahren mit der überstürzten Aufnahme einiger ost- und südosteuropäischer Staaten als EU-Mitglied gemacht hat, sollte nunmehr behutsamer auf die vollständige Erfüllung der Aufnahmekriterien geachtet werden. Die ukrainische Gesellschaft müsste zunächst erst einmal wieder zur Ruhe kommen. Von einer Mitgliedschaftsperspektive ist die Ukraine allein wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit und der verbreiteten Korruption im Lande ohnehin weit entfernt. Aktuell geht es um die Verhinderung der Insolvenz der Ukraine. Diese zu vermeiden, könnte ein gemeinsames Projekt von EU und Russland werden. So könnte verhindert werden, dass die Ukraine wie bisher ein Objekt von Avancen und Druckausübung abwechselnd aus östlicher und westlicher Richtung bleibt.
Deutschland ist aus vielen Gründen prädestiniert, in diesem Prozess einen mäßigenden Einfluss auszuüben und eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Dabei sollte jedoch die deutsche Rechtsposition zur russischen Annexion der Krim stets gewahrt bleiben.

Prof. Dr. Gerd Seidel unterrichtete bis 2008 an der Berliner Humboldt-Universität Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht