16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Manches war doch anders*: Guck & Horch

von Sarcasticus

Wer gern noch einen Beitrag über das finstere Wirken der Stasi im Inneren der DDR, lesen möchte, kann hier abbrechen. Zwar stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden Zeilen durchaus vergleichbar unappetitliche Praktiken – allerdings im Geltungsbereich des Grundgesetzes.
Das darauf basierende politische System der alten Bundesrepublik hatten ja das Bonner Establishment und die bürgerlichen Medien während des gesamten Kalten Krieges mantraartig als freiheitlich-demokratische Grundordnung reklamiert. Allerdings gab es hinter deren Fassade durchaus klandestine, reichlich hässliche Details, die wahlweise geflissentlich übersehen oder beharrlich verschwiegen wurden.
Die Details, um die es hier geht, offenbaren dabei zugleich, dass nur besonders geschichtsvergessene beziehungsweise -ignorante Funktions- und Mandatsträger aus der heutigen Exekutive und Legislative sowie amnesierte Vertreter der einschlägigen Medien angesichts des derzeitigen NSA-Skandals „aus allen Wolken“ fallen konnten: Die engmaschige Ausspähung der eigenen Bevölkerung gehörte nämlich nicht nur zu den konstituierenden Elementen des Staatswesens der DDR, sondern auch der Bundesrepublik – und in dieser unter vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes, dessen Artikel 10 von 1949 an das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis als „unverletzlich“ garantierte.
Altlinke Propaganda? Von wegen! Fakt ist: Allein in den Jahren 1955 bis 1968 wurden in der Bundesrepublik über 100 Millionen Postsendungen aus der DDR von Amts wegen, aber grundgesetzwidrig abgefangen, ausgewertet und anschließend aus dem Verkehr gezogen – vor allem auf der Suche nach feindlichen Elementen sowie nach potenziellen Zuträgern und V-Leuten. Zusätzlich wurden durchschnittlich etwa 100.000 Postsendungen pro Jahr, die in der Bundesrepublik in Richtung Ostblock aufgegeben worden waren, nach der Ausschnüffelung ebenfalls vernichtet. Hinzu kam eine intensive Überwachung des Fernmeldeverkehrs (Telefone, Fernschreiber, Telegrafen) zwischen Ost und West – 1958 zum Beispiel im Umfang von 177 angezapften Leitungen und mehr als fünf Millionen abgehörten Telefonaten.
Den Nachweis über all dies hat der Historiker Josef Foschepoth von der Universität Freiburg anhand offizieller Archivmaterialien geführt. Seine Forschungsergebnisse sind im vergangenen Jahr unter dem Titel „Überwachtes Deutschland“ veröffentlicht worden.
Aktivitäten zur Post- und Fernmeldeüberwachung hatte es im Übrigen nicht erst seit der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 gegeben. Die Anfänge reichen noch in die Westzonen zurück – unter Regie der Geheimdienste der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Bis 1955 stützten sich deren Dienststellen dabei auf besatzungsrechtliche Befugnisse und danach bis 1968 sowohl auf die sogenannten alliierten Vorbehaltsrechte im „Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten“ (Deutschlandvertrag), der im Zusammenhang mit der Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO 1955 in Kraft trat, als auch auf Regelungen eines geheimen Zusatzabkommens zum sogenannten NATO-Truppenstatut, das die Bundesregierung 1959 einging. (Die letzteren Bestimmungen sind übrigens immer noch in Kraft.)
Apropos Deutschlandvertrag: Der hatte der BRD zwar nach außen hin – und insofern propagandistisch eindrucksvoll – die „volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“ eingeräumt, aber parallel dazu hatte der damalige Kanzler Konrad Adenauer den Alliierten in vertraulichen Briefwechseln das fortgesetzte Recht zugesichert, den gesamten Post- und Fernmeldeverkehr auf bundesdeutschem Territorium zu überwachen und dabei nach eigenem Gusto deutsches Recht zu ignorieren. Man muss nicht besonders böswillig sein, um dies als Blankoscheck des westdeutschen Regierungschefs zum permanenten Bruch des Grundgesetzes zu interpretieren.
Praktisch realisiert wurden die darauf fußenden massenhaften Grundrechtsverletzungen im Übrigen überwiegend durch westdeutsche Stellen – Post, Zoll, BND, Verfassungsschutz und eine Sondereinheit der Bundeswehr, die im Auftrag der Alliierten tätig wurden. Ohne jegliche rechtliche Basis. „Verfassungsbruch als politischer Alltag der Exekutive“ nannte das Dieter Deisenroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht. Und wenn sich, etwa seitens des Bundespostministeriums, Widerstand gegen diese illegale Praxis regte, wurde der vom Bundesjustizministerium „durch Anwendung des Güterabwägungsprinzips“ und regelmäßige Hintanstellung des Grundgesetzes weggebügelt. Renitente Postbeamte wurden mittels Dienstrecht („Treuepflicht der Beamten gegenüber dem Staat“) zur Räson gebracht.
Eine Zäsur stellte das Jahr 1968 dar. Im Paket mit der damaligen Notstandsgesetzgebung wurde der Post- und Fernmeldeüberwachung nämlich nunmehr ein rechtlicher Rahmen verpasst – in Gestalt des geheimen „Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses“ (G 10-Gesetz). Der entsprechende Grundgesetz-Artikel wurde gleich mit kastriert – durch einen Zusatz, der betroffenen Bürgern nunmehr die Rechtsmittel zum Vorgehen gegen entsprechende Aktivitäten ausdrücklich absprach.
Die Regierung, eine Große Koalition, rechtfertigte seinerzeit die in der Öffentlichkeit zu starken Protesten führenden Notstandsgesetze unter anderem damit, dass im Gegenzug die alliierten Vorbehaltsrechte aufgehoben würden, und „Ungläubigen“ schmetterte Außenminister Willy Brandt höchstselbst entgegen: „Wer in diesem Zusammenhang vom teilweisen Fortbestehen der Vorbehaltsrechte spricht, der hat sich entweder nicht mit genügender Sorgfalt sachkundig gemacht oder behauptet etwas, obwohl er weiß, dass es nicht stimmt.“ Das soll nun im Jahr des 100. Geburtstages des nachmaligen Friedensnobelpreisträgers nicht eine faustdicke Lüge genannt werden, aber den Tatbestand der Halbwahrheit erfüllte diese Brandtsche Aussage allemal. Denn wiederum parallel und abermals geheim hatte die Bundesregierung mit den drei Westmächten Verwaltungsvereinbarungen getroffen, die BND und Verfassungsschutz für diese nun quasi zu offiziellen Dienstleistern für, ja genau: Brief-, Post- und Fernmeldekontrollen machten. Die Datensammlung übernahmen weiterhin die Westdeutschen und übergaben das Sammelgut unverändert zur Auswertung an die Alliierten. Da muss der Laie nicht wirklich verstehen, worin gegebenenfalls der Unterschied zur vorhergehenden Praxis gelegen haben oder liegen sollte. Der abschließende Präsens in diesem Satz ist volle Absicht, weil, wie Forscher Foschepoth – durchaus zum eigenen Erstaunen – feststellen musste: Diese Verwaltungsvereinbarungen haben selbst die deutsche Vereinigung und den Zwei-plus-Vier-Vertrag überdauert; letzterer sollte Deutschland bekanntlich die volle Souveränität (schon wieder mal!) zurückgeben; die Vereinbarungen gelten, wie die Bundesregierung inzwischen einräumen musste, immer noch.
Doch um zum Ende zu kommen: Wahrscheinlich gibt es ja trotzdem fundamentale Unterschiede zwischen verfassungswidriger Post- und Fernmeldeüberwachung in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik und einem Nicht-Rechtsstaat wie der DDR – also mindestens nach dem altrömischen Grundsatz: Quod licet jovi / non licet bovi! Obwohl: Kritische Autoren wie Arno Klönne sehen im Hinblick auf die früheren verfeindeten deutschen Teilstaaten schon eine gewisse „Verwandtschaft in manchen Methoden, innere ,Sicherheit‘ zu erzwingen“. Josef Foschepoth selbst hingegen hatte noch Anfang Juli – in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung – mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik sowie vor dem Hintergrund seiner Forschungsergebnisse eher milde geurteilt: „Dadurch wird ja nicht alles schlecht, aber einige Dinge waren eben anders, als wir bislang dachten.“

P.S.: Härter allerdings fiel Foschepoths Fazit unlängst aus, als er nämlich am 30. August die Laudatio aus Anlass der Verleihung des diesjährigen Whistleblower-Preises der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und Transparency International Deutschland an Edward J. Snowden hielt: „Ein Staat, dessen Exekutive vom Tun und Lassen seiner Geheimdienste nichts weiß und somit nicht kontrolliert, dessen Legislative eine wirksame Kontrolle in Form einer vierköpfigen G 10-Kommission und 11 köpfigen Parlamentarischen Kontrollkommission gar nicht wirklich ausüben kann und darf, dessen Gerichte von einer unabhängigen Kontrolle per Gesetz und Verfassung ausgeschlossen sind, und deren Parlamentarier sogar ein Verfahren wegen Landesverrats riskieren, wenn sie ein geheimdienstliches Geheimnis öffentlich machen, um einen Bruch des Grundgesetzes zu verhindern, ein solcher Staat hat in Sachen Überwachung zu geheimdienstlichen Zwecken seinen freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter verloren und ist ein Überwachungsstaat geworden.“

* – Bisherige Beiträge dieser Reihe deutsch-deutscher Reminiszenzen in den Ausgaben 4, 7, 10, 16, 18 und 23 / 2012.