16. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2013

Stiller Putsch. Der Sieg des Kapitalismus und seine Folgen

von John Lanchester

Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte sich unsere Wirtschaft von einem System, in dem Banken und Kredite ganz normal funktionierten, in das verwandeln, was wir jetzt vor Augen haben, die „Reykjavikisierung“ der Weltwirtschaft? Wie ich noch ausführen werde, sind für diese Krise ein ganz spezifisches Problem, ein Fehler, das Versagen bestimmter Instanzen und Personen und ein ganz besonderer kultureller Hintergrund verantwortlich. Aber bevor irgendetwas davon Wirkung zeigte, entwickelte sich die Krise aus einem bestimmten Klima – dem Klima nämlich, das entstand, nachdem der Kapitalismus über den Kommunismus gesiegt hatte und die Berliner Mauer gefallen war.
Ich konnte das deshalb besonders gut erkennen, weil ich in Hongkong aufgewachsen bin. Dort herrschte eine Form der Marktwirtschaft, wie sie freier und ungezügelter nirgendwo sonst auf der Welt existierte. Hongkong war der wirtschaftliche Wilde Westen. Es gab keine Regeln, keine Steuern (obwohl man irgendwann doch einen Höchststeuersatz von 15 Prozent einführte), keinen Wohlfahrtsstaat, keinerlei Garantie auf medizinische Betreuung oder Schulausbildung. Das hässliche Gesicht eines Kapitalismus, der keinerlei Regeln folgt, zeigte sich überall. Aber gleichzeitig konnte man auch überall beobachten, wie viel Wachstum und Reichtum diese Art von Kapitalismus schuf – und es war genauso wenig zu übersehen, dass die Leute bereit waren, für dieses System mit seinen Grundsätzen „Den Letzten beißen die Hunde“ und „Jeder gegen jeden“ ihr Leben zu riskieren.
Flüchtlinge aus dem kommunistischen China schwammen, krochen und schmuggelten sich auf allen nur denkbaren Wegen nach Hongkong, und immer wieder kamen viele dabei ums Leben. Falls sie es über die Grenze schafften, gab es die Regel, dass sie zurückgeschickt wurden, sobald man sie aufgriff, es sei denn, sie erreichten die Boundary Street in Kowloon. Hatten sie das geschafft, durften sie bleiben. Diese Regel hatte etwas schrecklich Plastisches, wie die Erwachsenenversion eines Kinderspiels: Du brauchst es nur bis ins „Freio“ zu schaffen, und du bist in Sicherheit. Es bestand kein Zweifel daran, dass Hongkong all jenen Menschen, die versuchten, dorthin zu gelangen, als ein strahlender Ort der Hoffnung und der unendlichen Möglichkeiten erschien. Und dabei war es gar nicht so sehr der Ort, den sie zu erreichen suchten, sondern vielmehr das dort herrschende System.
Das Land und die Leute waren die Gleichen; nur das System war anders. Ein System muss also etwas sein, das eine ungeheure Macht ausüben kann. Das konnte sogar ein Kind erkennen. Hauptsächlich war es daran abzulesen, mit welcher Geschwindigkeit sich alles veränderte. Es geschah regelmäßig, dass man um eine Ecke bog und plötzlich einen Schreck bekam, weil man nicht mehr wusste, wo zum Teufel man sich befand, weil irgendein wichtiger Orientierungspunkt verschwunden war. Und was das kommunistische China anging, so war es bis zu dem Zeitpunkt, als es 1979 seine Grenzen für gewöhnliche Touristen öffnete, gefürchtet, bestaunt und von allerlei Legenden umrankt. Mit Besuchern ging man immer bis zum äußersten Punkt der New Territories, denn von dort aus konnte man nach China hinüberschauen.
Auf der Hongkong-Seite gab es einen Hügel mit einem Beobachtungsposten, der von Gurkha-Soldaten besetzt war. Man schaute auf Reisfelder und auf einen Fluss. Das war so ungefähr alles, was es dort zu sehen gab. Wenn man sich heute an denselben Ort stellt, schaut man auf Shenzhen, die am schnellsten wachsende Stadt Chinas, mit einer Bevölkerung von neun Millionen Menschen. Noch vor dreißig Jahren gab es dort buchstäblich kein einziges Gebäude.
Damals wirkte Hongkong wie ein Experiment, ein Labortest in freimarktwirtschaftlichem Kapitalismus. Besonders Großbritannien wirkte im Gegensatz dazu wesentlich langsamer, vorsichtiger, geregelter und viel ängstlicher, sobald es um Veränderungen ging. Aber in den drei Jahrzehnten, die vergingen, nachdem ich Hongkong verlassen hatte, schien es mir, als gäbe es eine Art umgekehrte Machtübernahme. Es sah so aus, als würden die Regeln, die ursprünglich nur für Hongkong gegolten hatten, plötzlich die ganze übrige Welt erobern. Statt ein Sonderfall zu bleiben, wurde diese ungezähmte und unregulierte Version des freien Markts zum neuen Normalfall. Und es waren nicht irgendwelche überzeugenden Argumente, die dieser Form des Kapitalismus zum Sieg verhalfen, sondern schiere Gewalt: Die Länder, die sich den dazugehörigen Regeln verschrieben, hatten ein wesentlich stärkeres Wirtschaftswachstum vorzuweisen als andere, die es nicht taten.

Amerikaner leben kürzer

Subjektive Veränderungen in der Beschaffenheit menschlicher Erfahrungen kann man zwar nicht messen, aber was man sehr wohl messen kann, ist der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. Während in den Vereinigten Staaten Ronald Reagan und in Großbritannien Margaret Thatcher an der Macht waren, breitete sich die Hongkong-Version der kapitalistischen freien Marktwirtschaft unangefochten in der ganzen Welt aus. Ich konnte nicht wieder heimkehren, aber das war auch gar nicht schlimm, denn meine Heimat kam gewissermaßen zu mir.
Es gab ein paar grundlegende Wegbereiter aller darauffolgenden Ereignisse, ohne die diese Explosion und Implosion in einer solchen Form nicht denkbar gewesen wären, und das waren der Fall der Berliner Mauer, der Kollaps der Sowjetunion und das Ende des Kalten Kriegs. Es war nur selten lohnend, sich auf eine Diskussion über den Konflikt zwischen West und Ost einzulassen. Der Graben zwischen beiden Lagern war einfach zu tief, und die großen philosophischen Fragen blieben meist zugunsten der parteipolitischen Überzeugungen auf der Strecke. Für die Rechte handelte es sich bei den kommunistischen Regimen so offensichtlich um massenmordende Gefängnisstaaten, dass für weitere Debatten gar kein Raum mehr blieb. Und die Linke war genauso fest überzeugt, dass der Kapitalismus seine eigene lange Liste von Verbrechen aufzuweisen hatte, dass er den Fetisch Kapital regelmäßig über die Bedürfnisse der Menschen stellte und dass die sozialistischen Länder im Gegensatz dazu wenigstens über eine mögliche Alternative zu diesem Modell nachdachten oder sie sogar in die Tat umsetzten, selbst wenn sie dabei falsch vorgehen mochten.
Ich habe immer schon gedacht, dass beide Denkrichtungen dabei einen wesentlichen Punkt übersehen. Die Ostblockstaaten hatten gravierende und irreparable Fehler, während die liberalen westlichen Demokratien die bewundernswerteste Gesellschaftsform darstellten, die es je gegeben hat. Zwischen ihnen gibt es keinerlei „moralische Gleichwertigkeit“, wie man sich damals ausdrückte. Allerdings – und hier kommen wir zu dem unbequemen Teil der These, dem Teil, der sowohl die alte Rechte als auch die alte Linke in Rage bringt – hat die Bevölkerung des Westens ihren ganz eigenen Nutzen aus der Existenz, der Politik und aus dem Beispiel des kommunistischen Blocks gezogen.
Über Jahrzehnte fand zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten eine Art Schönheitswettbewerb statt, in dessen Verlauf beide Systeme versuchten, sich gegenseitig dabei auszustechen, wer wohl seinen Bürgern eine bessere, fairere Lebensweise zu bieten hatte. Das Resultat im Osten war Unterdrückung; im Westen war es kostenlose Schulausbildung, eine allen zugängliche Gesundheitsversorgung, wochenlanger bezahlter Urlaub und eine konstante Fortentwicklung in allen Bereichen, die mit Chancengleichheit und den Rechten des Einzelnen zu tun hatten. In Westeuropa führte die Existenz nationaler Parteien mit einer starken und ausdrücklichen Bewunderung für das sozialistische Modell zu dem großen Bedürfnis, allen zu beweisen, dass unter der Herrschaft kapitalistischer Demokratien das Leben für die Menschen besser war. In Amerika war der entsprechende Druck wesentlich geringer.
Das ist auch der Grund, warum amerikanische Arbeitnehmer in den Augen der Europäer geradezu grotesk wenig Urlaub bekommen (zwei Wochen pro Jahr), keine kostenlose Gesundheitsversorgung erhalten und die Lebenserwartung eines Amerikaners unter der eines Europäers liegt.
Und dann gewannen die Guten; der Schönheitswettbewerb war zu Ende und damit auch der jahrzehntelange Fortschritt, den die westliche Welt auf dem Gebiet der Chancengleichheit und der Persönlichkeitsrechte zu verzeichnen hatte. Betrachten wir die Veränderungen seit dem Fall der Berliner Mauer doch einmal von einer etwas anderen Warte.
Zu den auffälligsten Konsequenzen gehört die Abschaffung des Folterverbots, das bis dahin ein wesentlicher Bestandteil westlich demokratischen Selbstverständnisses war. Wenn der Westen früher etwas moralisch Verwerfliches tat, dann leugnete man das konsequent oder tat es im Verborgenen oder ließ es andere für sich tun. Korrupte Regime, die mit dem Westen verbündet waren, mochten Verbrechen wie Folter und Inhaftierung ohne Gerichtsverhandlung begehen, aber wenn diese Verbrechen dann ans Licht kamen, unternahmen die fraglichen Regierungen alles, um die Beschuldigungen zurückzuweisen oder zu vertuschen – denn man schämte sich dieser Verbrechen.

Waterboarding und Geldmarktpolitik

Nach Beendigung des ideologischen Schönheitswettbewerbs änderte sich das gründlich. Man denke nur an das Thema Waterboarding. Während der Nürnberger Prozesse galt es als schweres strafrechtliches Vergehen: Der japanische Offizier Yukio Osano wurde zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil er bei einem amerikanischen Zivilisten Waterboarding angewandt hatte. Während des Vietnamkriegs benutzten die US-Streitkräfte diese Foltermethode gelegentlich – aber als sie dabei erwischt wurden, gab es einen Riesenskandal.
Im Januar 1968 veröffentlichte die Washington Post das Foto eines amerikanischen Soldaten, wie er einen nordvietnamesischen Gefangenen dem Waterboarding unterzog. Es herrschte große Empörung, und der Soldat kam vors Kriegsgericht. Nach dem Ende des Kalten Kriegs und mit dem Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ wurde das Waterboarding zu einem explizit gebilligten Instrument der US-amerikanischen (und infolgedessen auch der britischen) Geheimdienste. Als es der westlich-demokratischen Welt noch darum ging, den kommunistischen Ländern die eigene moralische Überlegenheit vor Augen zu führen, wäre es nie dazu gekommen.
Das Gleiche gilt für die Art, wie man den Finanzsektor außer Kontrolle geraten ließ. Die Ereignisse, die dazu führten, vollzogen sich nicht in einem Vakuum, sondern in einem ganz bestimmten Klima. Dieses Klima ergab sich aus dem unangefochtenen Sieg des kapitalistischen Systems. Zum ersten Mal in der Geschichte war die Dominanz des Kapitalismus als politisch-ökonomisches System vollkommen ungefährdet. Unter diesen Umständen hätte man sich leicht denken können, dass der Finanzsektor, der beim Betrieb des Kapitalismus sozusagen den Vorsitz führt, anfangen würde, sich selbst mit einem unverhältnismäßig großen Stück des wirtschaftlichen Kuchens zu belohnen.
Simon Johnson, der frühere Chefökonom des Weltwährungsfonds – zu dessen Job es gehörte, den Verantwortlichen der Kleptokratien, die sich selbst in den Bankrott getrieben hatten, eine Abreibung zu verpassen –, erklärte in seinem Artikel „The Quiet Coup“ („Der stille Staatsstreich“), inwiefern dieser Prozess eine wesentliche Rolle dabei spielte, dass sich die USA in eine „Bananenrepublik“ verwandelten: „Durch die Geldmarktpolitik, die Paul Volcker in den achtziger Jahren vertrat, erhöhte sich die Volatilität der Zinssätze, und der Anleihenhandel wurde wesentlich lukrativer. Die Erfindung der Kreditverbriefung (Securitization), Zinsswaps und Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps) führte im Bankwesen zu einem beträchtlichen Anwachsen des gewinnbringenden Handelsvolumens. Da die Bevölkerung immer älter und wohlhabender wurde, gab es auch immer mehr Menschen, die ihr Geld in Wertpapieren anlegten. Diese Entwicklungen brachten für die Finanzdienstunternehmen eine enorme Steigerung der Gewinnchancen mit sich. Es kann daher kaum überraschen, dass sich die Wall Street diese neuen Möglichkeiten zunutze machte. Von 1973 bis 1985 betrug der Anteil des Finanzsektors am Gesamtgewinn aller US-amerikanischen Unternehmen nie mehr als 16 Prozent. Im gegenwärtigen Jahrzehnt erreichte der Anteil 41 Prozent.“1
In Großbritannien konnte sich schließlich der Finanzsektor mehr oder minder damit brüsten, eine ideologische Hegemonie auszuüben. Die britische Regierung kopierte die Verhaltensmuster, die in der City of London üblich waren – und das dazugehörige Vokabular. Man sprach von Zielen und Zielvorgaben – ein untrügliches Zeichen für die vollkommen unkritische „Cityphilia“, die Liebe zur Finanzindustrie, die in Regierungskreisen verbreitet war. David Kynaston hat in vier Bänden eine meisterhafte Geschichte der City of London vorgelegt; im vierten Band setzt er sich mit der „kulturellen Vormachtstellung der City“ auseinander und kommt zu dem Schluss, dass „die gewinnorientierten Vorgaben des Finanzsektors pauschal auf die britische Gesellschaft übertragen wurden“.2
Eine Regierung nach der anderen las der City of London gewissermaßen jeden Wunsch von den Augen ab. Dieser Prozess begann 1979 mit der Wahl Margaret Thatchers. Zu den ersten Amtshandlungen der neuen Regierung gehörte die Abschaffung der Devisenkontrolle. Dadurch öffnete sich der britische Markt für den internationalen Kapitalfluss. In späteren Legislaturperioden folgte die Regierung diesem Trend, und 1986 kam die Entwicklung in dem sogenannten Big Bang zu ihrem vorläufigen Höhepunkt.
Damals wurde ein Prozess der Deregulierung, der normalerweise Jahre oder sogar Jahrzehnte gedauert hätte, in einem einzigen Erlass zusammengefasst. Im Endeffekt bedeutete es, dass alle historischen Barrieren, Trennmechanismen und Regeln, die bis dahin für die verschiedenen Bereiche der Banken, des Finanzmarkts und der Börse gegolten hatten, auf einen Schlag abgeschafft wurden.

John Lanchester ist Redakteur der London Review of Books und Autor des Romans „Kapital“, Klett-Cotta, Stuttgart 2012.
Dieser Text ist ein Auszug aus seinem Buch „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt“, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 302 Seiten, 19,95 Euro.
Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.
© Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

  1. www.theatlantic.com/doc/200905/imf-advice.
  2. David Kynaston: The City of London, 4. Band (A Club No More, 1945–2000), Pimlico, London 2002.