16. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2013

Die russische Armee – Phoenix aus der Asche? (II)

von Wolfgang Kubiczek

Die Ära Jelzin (1992-1999) war für den Aufbau der russischen Armee weitgehend verlorene Zeit. Reuters berichtete 1997, die unterfinanzierte russische Armee befände sich in einem erbärmlichen Zustand. Der Sekretär des Verteidigungsrates warnte, falls sich die Dinge so weiter entwickelten, stünden die Marine bald ohne Schiffe, die Luftstreitkräfte ohne Flugzeuge und die Rüstungsindustrie ohne Fähigkeit zur modernen Waffenproduktion da.
Der desolate Zustand der russischen Armee trat vor allem im ersten Tschetschenien-Konflikt (1994-1996) zutage. Hier hatte sie sich als unfähig erwiesen, mit Konflikten „niederer Intensität“, mit Aufständen und Terroranschlägen fertig zu werden. Der Untergang der „Kursk“, ein 1990/91 gebautes Atom-U-Boot, im August 2000, fiel in die ersten Monate der Amtszeit Putins und stellte den sichtbaren Tiefpunkt des Niedergangs des russischen Militärs dar. Nicht zuletzt der blamable Versuch führender Militärs, die eigentlichen Ursachen des Unglücks zu verschleiern, veranlassten Putin einen Paradigmenwechsel in der russischen Militärpolitik herbeizuführen.
Der neue Ansatz bestand vor allem in einer stärkeren politischen Kontrolle über das Militär bei gleichzeitiger Erhöhung des Militärhaushalts und der Umstellung der Streitkräfte von einer Einberufungs- zu einer Berufsarmee. Es wurde ein Zielprogramm für den Zeitraum 2004 bis 2007 zur Umstellung der Armee auf Kontraktbasis verabschiedet. Die Zahl der „Kontraktniki“ (Vertrags- oder Zeitsoldaten) sollte gegen Ende des Programms auf 400.000 angehoben werden, erreicht wurden Anfang 2009 nur 190.000, mit teils schlechten Voraussetzungen für den Soldatenberuf. Das Scheitern des Programms zwang dazu, ab 2008 wieder verstärkt auf das Einberufungssystem zu setzen. Das Problem blieb jedoch auf der Tagesordnung.
Der Georgien-Konflikt im August 2008 förderte schließlich erhebliche Defizite beim Kampfeinsatz der russischen Armee zutage. Es wurde deutlich, dass die vorhandenen Streitkräfte nicht in der Lage sein würden, einen modernen Krieg zu führen oder in Zukunft eine verlässliche Verteidigung mit konventionellen Waffen zu gewährleisten.
In der seit Beginn der 90er Jahre laufenden Diskussion um die Stellung Russlands im Konzert der Weltmächte stehen sich hauptsächlich zwei Schulen gegenüber: die westlich orientierte, die für eine Öffnung des Landes gegenüber dem Westen und gegen seine Isolierung unter dem Vorwand der „Bewahrung der russischen Eigenart“ eintritt, und die eurasische Konzeption, die eine vorrangige Fixierung auf den Westen ablehnt, eine besondere Mission Russlands als Brücke zwischen Europa und Asien sieht und fordert, dass sich Russland auf seine eigenen Kräfte stützt und gegenüber anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion eine Art Politik der begrenzten Souveränität befürwortet. Regierungsoffiziell hat sich die Waage eindeutig zu letzterer Konzeption geneigt. So erklärte Putin auf einer Tagung des Verteidigungsministeriums Ende Februar 2013 mit Blick auf die USA und die NATO, dass diese methodisch Versuche unternähmen, die strategische Balance zu untergraben, was die nationalen Interessen Russlands berühre und daher entschlossene und schnelle Handlungen zum weiteren Aufbau der Streitkräfte erfordere. Als Prioritäten der eigenen Politik werden genannt: die Integration in Eurasien, die Stärkung des gemeinsamen Wirtschaftsraums, der Übergang zu einer eurasischen Wirtschaftsunion, die militärische Stärkung der OVKS (Organisation des Vertrages über Kollektive Sicherheit) und eine politische Zusammenarbeit mit der Schanghai-Organisation und den BRICS-Staaten zwecks Stärkung der Multipolarität in der Welt.
Die russische Bedrohungsperzeption hat sich in der Praxis durchaus auf manche Realitäten eingestellt. Erstmals wird die Gefahr eines großen atomaren Krieges als gering eingestuft. Russland geht in seinen Beziehungen zu den anderen Großmächten davon aus, dass die atomare Abschreckung für die Sicherheit des Landes ausreichend ist und auf eine überdimensionale konventionelle Landstreitmacht verzichtet werden kann. Das ideale strategische Umfeld ist für Russland ein multipolares globales System, in dem es ein eigenständiges Machtzentrum bildet.
In der Hierarchie von militärischen Risiken und Bedrohungen stehen Konflikte im postsowjetischen Raum ganz oben. Man geht in militärpolitischen Fachkreisen Russlands davon aus, dass sich in diesem Raum auch künftig eine konfliktbeladene Transformation vollziehen wird. Da diese in der Regel russische Interessen berühren würde, so heißt es, dürfte fast jeder dieser Konflikte zur Intervention Anlass bieten, darunter mit militärischen Mitteln. Russland müsse schließlich die Sicherheit seiner Partner in der OVKS, Südossetiens und Abchasiens, aber auch der russischen Bevölkerung in diesen Ländern sichern. Um diese ambitionierte Strategie durchsetzen zu können, benötige Russland reorganisierte, moderne und jederzeit einsatzbereite Streitkräfte. Das erfordere vor allem zwei Dinge: eine Professionalisierung der Armee und moderne Waffen und Ausrüstungen.
2007 wurde mit Anatolij Serdjukow der erste zivile Verteidigungsminister des Landes ernannt, der 2008 vor dem Kollegium des Verteidigungsministeriums eine durchgreifende Militärreform ankündigte. Als Herzstück der Militärreform gilt der allmähliche Übergang von einer Einberufungs- und Mobilisierungsarmee sowjetischer Art hin zu professionalisierten, vollständig bemannten Streitkräften mit mobilen, in ständiger Bereitschaft befindlichen und gut ausgerüsteten Einheiten. Sie beinhaltet die Reduzierung der Streitkräfte von 1,35 Millionen zu Beginn der Reform auf eine Million; die Reduzierung des Offizierskorps auf 150.000 (was eine Streichung von 185.000 Offiziersstellen bedeutet hätte) wurde später auf 220.000 modifiziert. Enorme Probleme bereitete die Einberufung von ursprünglich vorgesehenen 700.000 Wehrpflichtigen. Grund dafür waren sowohl demografische Entwicklungen, aber auch die von Putin veranlasste Reduzierung der Wehrpflicht auf ein Jahr. Ende 2011 hat man dann auf eine Zusammensetzung der Streitkräfte orientiert, die neben den 220.000 Offizieren nur 350.000 Wehrpflichtige und 425.000 Kontraktniki vorsah.
Zur Effektivierung der Kommando- und Kontrollfunktionen wurden die sechs Militärbezirke auf vier reduziert und der Übergang von der Divisions- zur flexibleren Brigadestruktur eingeleitet. Einheiten der Streitkräfte, Militärstädte, Garnisonen, Stützpunkte sollen reduziert werden. Dienstleistungen im wirtschaftlichen Bereich, rückwärtige Dienste und ähnliches werden aus der Truppe ausgegliedert und kommerzialisiert („outsourcing“). Die 65 Militärakademien und Schulungseinrichtungen werden auf 10 militärische Hochschulen reduziert.
Soziale Maßnahmen waren schwerpunktmäßig für die zweite Etappe der Reform, nach 2015 vorgesehen: erhöhte Pensionen für Militärangehörige; Anhebung des Militärsolds bis 2020 auf ein um 25 Prozent höheres Niveau als das russische Durchschnittseinkommen, Versorgung von Offizieren und Kontraktniki mit Dienstwohnungen; die aus dem Militärdienst Ausscheidenden sollen zivilen Wohnraum sowie Umschulung auf einen zivilen Beruf erhalten.
Das Staatliche Rüstungsprogramm 2011 – 2020 umfasst eine Summe von 21 Billionen Rubel (circa 700 Milliarden Dollar), von denen 19 Billionen in diesen 10 Jahren zusätzlich zum Militärhaushalt für die Modernisierung der Streitkräfte verausgabt werden sollen. Ziel des Programms ist es, die Ausstattung der Streitkräfte mit neuen Waffen und Gerät bis 2015 auf 30 Prozent und bis 2020 auf nicht weniger als 70 Prozent anzuheben. Nach Berechnungen von Stratfor müssten die Verteidigungsausgaben von 2013 an jedes Jahr um zusätzlich 25 Prozent angehoben werden.
Russland steht mit seinem Verteidigungshaushalt inzwischen weltweit an dritter Stelle. Er nahm 2011 um 9,11 Prozent auf 71,9 Milliarden Dollar zu (im Vergleich: USA – 711 Milliarden, China – 143 Milliarden, UK und Frankreich je 62,5 Milliarden US-Dollar). Ein russischer Militärexperte schreibt, die im Rahmen des Staatlichen Rüstungsprogramms veranschlagten Mittel seien das Maximum an möglichen Aufwendungen aber gleichzeitig auch das Minimum, um einen effektiven Umbau des russischen Militärs zu gewährleisten.
Faktisch haben die Rüstungsbetriebe in den letzten dreißig Jahren mehrere Modernisierungszyklen verpasst, stellte Putin im Februar 2012 fest. Um gravierende Probleme wie den veralteten Maschinenpark, Mangel an technologischem Wissen und Fehlen von Fachkräften zu beheben, wurde der Rüstungsindustrie bis 2020 eine Finanzspritze von fast drei Billionen Rubel zugesagt. Die ambitionierte Zielsetzung lautet, in den nächsten zehn Jahren den Rückstand aufzuholen und dabei die militärtechnologische Unabhängigkeit Russlands vom Ausland sowie die Konkurrenzfähigkeit der Rüstungsindustrie auf dem Weltmarkt zu sichern. Eine weitere Aufgabe von gewaltigem Ausmaß wird die Sanierung der einzelnen Teilstreitkräfte darstellen.