15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Kohl

von Erhard Crome

Im September 2012 beging die CDU den 30. Jahrestag der erstmaligen Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler. Die hatte am 1. Oktober 1982 stattgefunden, nachdem die FDP Helmut Schmidt die Regierungszusammenarbeit aufgekündigt hatte. Das ist lange her. Doch gab es Gelegenheit, eine Kontinuität zur heutigen Politik von Angela Merkel zu reklamieren und die Einheit des einstigen „Mädchens“ mit seinem damaligen Mentor zu bekunden – wenn Kohl als „größter deutscher Politiker seit Bismarck“ zelebriert wird, fällt ein wenig von diesem Glanz ja vielleicht auch auf die derzeitige glanzlose Regierung der CDU mit der FDP, so die offenbare Absicht. Dazu diente eine Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Deutschen Historischen Museum: der historisch überhöhte Altkanzler mit der Kanzlerin von heute neben seiner damaligen Strickjacke. Die Bundeskanzlerin hielt die Rede über den Bundeskanzler. Am Ende überreichte sie ihm ein Album mit Erstdrucken einer Sonderbriefmarke, die Kohl als „Kanzler der Einheit“ und „Ehrenbürger Europas“ zeigt. Er ist die dritte lebende Person, nach dem deutschen Papst und dem EU-Architekten Jean Monnet, die in Deutschland eine solche Ehrung erfährt.
Zuvor, ebenfalls im Kontext des Jubiläumsjahres, war eine dickleibige „politische Biographie“ Kohls erschienen, die der emeritierte Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz vorgelegt hatte, bis dato bekannt vor allem als Biograph von Konrad Adenauer und Axel Cäsar Springer. Der Publizist Otto Köhler hat sich in der Tageszeitung junge Welt in drei Folgen ausführlich dieser Biographie angenommen und sie kritisch besichtigt (29.09., 01.10. und 02.10.2012) – gleichsam als Kontrastprogramm zu den CDU-Elogen hat er die politischen Fehlstellen identifiziert. Insofern ist es – nach der Devise: der Beobachter beobachtet den Beobachter – durchaus aufschlussreich, sich auch dieses genauer anzusehen.
Köhler moniert, dass am Ende des Schwarz-Bandes ein fünfzehnseitiges Namensregister zu finden ist, wichtige Namen, solche von Personen, die im Leben beziehungsweise der politischen Karriere des Helmut Kohl eine  belangvolle Rolle spielten, aber fehlen. Dazu gehört ein Mann namens Karl Schumacher. Dieser – er starb Ende 2006 im Alter von 80 Jahren – diente Helmut Kohl in besonderer Stellung. Schumacher war einer der beiden speziellen Vertrauensmänner Kohls in der CDU-Zentrale, die jenseits von Bundesgeschäftsführer und Generalsekretär direkte Weisungen des Großen Vorsitzenden zu exekutieren hatten. Schumacher war unter anderem der Mann für die Großkundgebungen. Von 1982 bis zu seiner Pensionierung hatte er wohl an die 150 derartige Veranstaltungen organisiert, Fahnen, Tribüne, Schallboxen und Toilettenwagen. Geld war stets genug da, die Budgets wurden überzogen, Hauptsache der inszenatorische Effekt wurde erzielt.
Eine besondere Rolle spielte der Mann in den Wendeprozessen 1989/90. Köhler wiederholt das bekannte Zitat Kohls vom 19. Dezember 1989, als er offiziell mit Hans Modrow in Dresden zusammentraf, tatsächlich jedoch von einer Menschenmenge mit schwarz-rot-goldenen Fahnen begrüßt wurde: „Die Sache ist gelaufen.“ Nur eine der Fahnen schien eine alte DDR-Fahne gewesen zu sein, „aus der man diesen Spalterkram herausgeschnitten hat“, so Köhler, während das Fahnenmeer aus neuen Fahnen bestand, viele an „Bambusstangen“, die es zwar im Baumarkt im Westen, aber nicht im Osten gab. Kurzum: Der West-CDU-Mann Schumacher hatte für Kohl auch dieses Ereignis, nun im Osten, inszeniert. Am 22. Januar 1990, während Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister, als erster hochrangiger Politiker der West-CDU in Westberlin mit Lothar de Maizière, dem damaligen Vorsitzenden der Ost-CDU, redete, fuhr Schumacher mit einem Kleinbus in der Ostberliner CDU-Zentrale vor und sackte die Personalakten der ungeliebten Schwesterpartei ein, um sie in die Bonner CDU-Zentrale zu schaffen. Kohl wusste, dass er allein mit den aus verschiedenen Oppositionsgruppen neu gegründeten Parteien die Wahl im Osten nicht gewinnen konnte, dazu brauchte er einen Apparat, und den hatte nur die Ost-CDU. Mit den Akten in der Hand konnte man dann die richtigen Kader aussuchen. Am 29. Januar 1990 beschloss der CDU-Vorstand in Bonn auf Antrag von Helmut Kohl die Bildung der „Allianz für Deutschland“, da wussten die Beteiligten im Osten von all dem noch nichts. Das erfuhren sie von Kohl am 1. Februar 1990 im Westberliner Gästehaus der Bundesregierung.
Vom Konrad-Adenauer-Haus in Bonn aus organisierte Karl Schumacher dann den Wahlkampf in der DDR. CDU-Landes- und -kreisverbände erhielten Partnerkreise im Osten, es wurden Autos, Büroeinrichtingen und Computer geliefert, aber auch Transparente mit vorgefertigten Losungen. So den berühmten Spruch: „Helmut, nimm uns an die Hand, zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland“. Damit war Kohl zumindest in die Rolle des Moses, der sein Volk ins Gelobte Land führt, erhoben, im Grunde in die des Heilands. Auch dieser Spruch, der von Politikwissenschaftlern und Zeithistorikern immer gern als Ausweis der besonderen Naivität der Ossis zitiert wurde, stammte offenbar aus Schumachers Wahlkampf-Kiste. Am 15. März 1990 managte er auch den großen Aufmarsch von 320.000 Menschen in Leipzig für die deutsche Einheit. Das war drei Tage vor der Volkskammerwahl am 18. März der Abschluss der CDU-Wahlkampagne.
Die von Köhler zusammengetragenen Fakten dürften alle stimmen: Was alles von Kohl und seinen Gehilfen getan wurde, um das gewünschte Ergebnis der deutschen Einheit zu erreichen. Gleichwohl stimmt es historisch nicht. Die Menschen in der auslaufenden DDR haben nicht Kohl und die deutsche Einheit gewählt, weil neue Fahnen aus dem Westen geliefert oder Bananen verteilt wurden, sondern weil der „reale Sozialismus“ an sein Ende gekommen war und sie neuerlichen Versprechungen eines veränderten Sozialismus nicht glaubten.
Angela Merkel verweist in ihrer Kohl-Rede vom 28. September 2012 auf die „friedliche Revolution“ der DDR-Bürger, die „mit Kerzen in der Hand eine Diktatur zu Fall“ brachten, um jedoch die auch im DDR-Fernsehen übertragene Rede des Kanzlers während des Besuches von Erich Honecker in Bonn 1987 zu zitieren: „Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung… Sie wollen zueinander kommen können, weil sie zusammengehören.“ Dem fügt Merkel hinzu: „Herr Bundeskanzler, ich spreche, glaube ich, für all diejenigen, die damals in der DDR lebten: Diese Worte gaben uns Kraft.“ Damit blendet sie all diejenigen aus, die auch 1987 noch für eine reformierte sozialistische DDR einstanden, und unterstellt, dass alle Menschen in der DDR schon immer die deutsche Einheit wollten, was nachweislich nicht stimmt. Letztlich hat sie mit dieser Argumentationsfigur aber gesagt, dass es Kohl war, auf den sich die DDR-Bürger angeblich schon vor 1989 orientierten, die deutsche Vereinigung zu vollziehen.
Insofern war die deutsche Einheit nach Merkel trotz Erwähnung der „friedlichen Revolution“ ein Vorgang, der von Anfang an Ziel des Umbruchs in der DDR gewesen sei und vom Westen herbeigeführt wurde. Das ist Kernbestand des Selbstverständnisses der politischen Klasse, vor allem der CDU in Deutschland. Deshalb ist es besonders pikant, dass die bürgerlichen Protagonisten des zusammengeschlossenen Deutschlands und der alt gewordene West-Linke, dem das Ganze noch nie passte, wie Otto Köhler, am Ende in einem völlig übereinstimmen: Es seien Kohl und die CDU gewesen, die diese Einheit gemacht haben. Das Volk in der DDR war aus ihrer Sicht nur Objekt, nicht Subjekt dieser Geschichte.