15. Jahrgang | Nummer 21 | 15. Oktober 2012

Querbeet (XV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal großes Tellkämping, Musical mit Willy und Stasi, Hexensabbat mit Harfouch.

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Gerade war großes Tellkämping; hat mit dem glückseligen Erinnerungsfeiertag der Nation zu tun sowie mit dem wahrscheinlich bislang stärksten und mit tausend Druckseiten längsten Belletristik-Text über die DDR, dem Roman „Der Turm“ (2008) des Dresdner Autors Uwe Tellkamp. Sowie dessen dreistündiger Fernseh-Verfilmung (ARD, verteilt auf zwei Abende). Die mediale „Vorbereitung“ erinnerte groteskerweise an uralte DDR-Zeiten, als „staatskulturpolitisch“ hochwichtige TV-Produktionen (wie weiland „Wege übers Land“) vorab durch alle Gazetten rauf und runter bebauchpinselt wurden.
Gewiss, der ARD-„Turm“ ist ein ordentlicher, solider Film mit tollen Schauspielern; ein epochales Kunstwerk aber ist er nicht. Auch lief vor kurzem erst auf 3Sat die so überaus beeindruckende TV-Adaption von Wolfgang Engels Dresdner Bühnen-Inszenierung vom „Turm“. Selten, dass eine Life-TV-Übertragung aus dem Theater die Bühnen-Wirksamkeit noch übertrumpfte. Das liegt an den intensiven Dialogen in suggestiven, TV-gerechten Großaufnahmen, was erst möglich wird durch die eher statische Inszenierung im riesigen Puppenhaus-Bühnenbild an der Rampe. Auch im Potsdamer Hans-Otto-Theater gibt es eine „Turm“-Inszenierung des Intendanten Tobias Wellemeyer; hier im weiten, leeren Bühnenraum, der wiederum viel Luft lässt für spannungsvoll spielerische Aktionen der Figuren.

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Und jetzt im selben Theater am idyllischen Ufer vom Tiefen See schon wieder Tellkamp: Chefdramaturgin Ute Scharfenberg filterte mit scharfem Sinn aus dessen frühem Roman von 2005 „Der Eisvogel“ ein Theaterstück. Die Inszenierung von Stefan Otteni dauert gut drei Stunden (mit Pause); ist damit deutlich länger (schon kein gutes Zeichen) als Engels Dresdner „Turm“ (ohne Pause gut zwei Stunden). Obgleich es beim „Eisvogel“ bloß 300 Seiten theatertauglich zu komprimieren galt.
Im Vergleich zum Sensations-Bestseller „Turm“ war „Eisvogel“ ein Ladenhüter. Das liegt wohl an dessen mythisch aufgebauschter, philosophisch umwölkter, also ziemlich undramatischer Erzählweise; nicht aber am Thema. Es geht nämlich ums zunehmende Unbehagen an Demokratie, an unserer freiheitlichen Ordnung, die womöglich bloß der wuchernden kapitalistischen Profitgier dient, soziale Ängste schürt und den gesellschaftlichen Halt des Gemeinwesens aushöhlt. Ein großes Thema, das im Essayistischen versackt. Den Figuren fehlt es an scharfer, plastischer Zeichnung. In ihren Konflikten raschelt zu viel Papier und in allem wütet zu wenig Roman. Oder eben Drama.
Da ist der Jung-Philosoph Wiggo (Alexander Finkenwirth), den sein gutbürgerliches, zynisch-egomanisch auf Karriere und Erwerb erpichtes Elternhaus ankotzt („Wozu lebt ihr?“). Enttäuscht steigt er aus und rasch ab in Armut, wird dort aufgelesen von Mauritz (Wolfgang Vogler), der ihn zunächst als Macho-Macher-Typ fasziniert (latent homophile Aura). Mauritz wiederum steht einer elitären, extrem rechten Geheimorganisation „Wiedergeburt“ vor. Die liebt Beethoven und Bach, ist steinreich und strebt mittels Bomben und Knarre einen Fascho-Staat an. Kampfmotto: Schluss mit dem Weicheier-Demokratismus, hin zum Führerprinzip. Hin zur totalitären Herrschaft der erlesen Wenigen über die vielen entmündigt Dienenden. Die konservative Revolte von oben mit Mitteln des Terrors (der altlinken RAF). So die „neue“ Religion. Und was sagt der humanistisch-idealistische Revoluzzer Wiggo dazu? – Tja, dieser Zusammenprall hätte ein provokanter Theater-Knaller werden können, krepierte jedoch im Thesengeplapper. Regisseur Otteni, der seine Meriten hat im subtilen Kammerspiel, der hätte hier fantasievoll szenisch kontrapunktieren und meinungsstark zuschlagen müssen (wie beispielsweise der Regisseur Nicolas Stemann mit Elfriede-Jelinek-Papieren). Doch Otteni blieb kleben am Script, ließ labern bis ins Langweilende, vergeigte das große Polit-Theater.

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Großes Polit-Theater – das hingegen gelang Berlins Deutschem Theater. – Wir fallen zurück in die Zeit der westdeutschen Optimismus-Welle Ende der 60er Jahre: „Mehr Demokratie wagen“, neue Ostpolitik („Willy wählen!“), weltumarmende Flower-Power. Da war die SPD so sexy. Und die SED wurde so nervös. Auch das war eine Wende-Zeit: Willy Brandts Kanzlerjahre 69 bis 74 mit Kniefall in Warschau und Ostverträgen, mit „Willy Brandt ans Fenster!“ (in Erfurt) und mit Günter Guillaume (Stasi rein ins Kanzleramt). Der britische Dramatiker Michael Frayn hat schon vor Jahren darüber ein Stück getextet, leider bei weitem nicht so toll wie sein Evergreen „Der nackte Wahnsinn“. Und längst nicht so dramatisch wie das Sujet, nämlich der glorreiche Aufstieg eines charismatischen, zugleich schwer depressiven Politikers sowie dessen Sturz, für dessen letzten Stoß der Stasi-Agent Guillaume sorgte. Frayns Stück „Demokratie“ ist nicht mehr als eine brave journalistische Recherche. Daraus machte das freche Regie-Duo Tom Kühnel & Jürgen Kuttner ein schlagend intelligentes History-Musical. Geschickt plünderten sie den Fundus des damals aktuellen Pop- und Agitprop-Getöns und verschnitten das schmissige oder sentimentale Liedgut mit triftigen Frayn-Sätzen und signifikantem Doku-Material aus den Archiven.
Felix Goeser als Brandt, Daniel Hoevels als spionierender MfS-Offizier Guillaume, Michael Schweighöfer als dessen Führungsoffizier oder Bernd Stempel als Wehner, das ganze hinreißende Ensemble lieferte atemberaubendes Polit-Kabarett, weil es die tragischen Momente des shakespeareschen Scheiterns eines epochalen politischen Aufbruchs nicht aussparte. Eine entsetzlich schillernde Revue aus dem Tollhaus der Macht. Ein so großes wie erschreckendes, obendrein wahnsinnig amüsantes deutsch-deutsches Theater im Deutschen Theater.

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Diesmal müssen wir noch kleben bleiben am DT, dem trotz gewisser Durststrecken weltberühmten Hauptstadt-Haus. Sein Start in die neue Saison war zwar zunächst ein Kunststück der negativen Sorte: Ausgerechnet der unter „Ödipus. Stadt“ albern firmierende Mix aus tollen antiken Klassiker-Dramen geriet an diesem prononciert klassisch tradierten Institut unter Hausregisseur Stephan Kimmig zur Mittelmäßigkeit. Doch dann gingen Raketen los! Erst im DT-Studio Box Marianna Salzmanns so intime wie herzerregende, politisch gerahmte deutsch-jüdische Familiensaga „Muttersprache Mameloschn“ (Regie: Brit Bartkowiak). Dann das besagt hinreißende Historical „Demokratie“. Und jetzt die Novität der angeblich in der Welt meistgespielten Autorin Jasmina Reza aus Frankreich mit dem ungelenken Titel „Ihre Version des Spiels“.
Rezas Bestseller „Gott des Gemetzels“, verfilmt von Altstar Polanski, rast gerade als Hollywood-Blockbuster durch alle Kinos; und ihre Komödie „Kunst“ schäumt seit Jahren unentwegt auf vielen Bühnen dieser Erde. Weil: Madame Jasmina beherrscht wie kaum eine sonst die schwere Kunst, in den bürgerlichen Glitzerboulevard unversehens Löcher zu hacken, aus denen die stinkenden Abgründe des artig Zivilisatorischen gähnen. Also wurde schon Wochen zuvor die „Welt“-Uraufführung von „Ihre Version des Spiels“ journalistisch hoch gejubelt als DIE Sensation. Allein schon, weil Superstar Corinna Harfouch mitmacht, der auch ich rücksichtslos zu Füßen liege.

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Also Reza, eine brandneu abgründige Komödientragödie, also Harfouch… Das DT wähnte sich im totalen Theaterglück, sah seine dritte Rakete in Folge zum Saisonstart auf der Rampe – und alle Vorstellungen vorab ausverkauft.
Nun, da das Getöse verhallt, der Rauch verflogen, das annoncierte Bühnenwunder in Augenschein genommen, da macht Ernüchterung sich breit, da kommt Kaltwasser ins Flammenmeer der Euphorie: Kein Pointenfeuerwerk, kein Höllensturz! Dafür viel hochtrabendes Kulturbiz-Blabla in einem flachbrüstigen Feuilleton-Stückchen über Autorenlesungen, die, das wusste bereits Mark Twain, wie „Hexensabbat“ sind.
Also es geht um das vertrackte Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit: Eine Großschriftstellerin (Harfouch) auf einer Talkshow-Lesung, eingeladen von einem verklemmt literaturbeflissenen Bibliothekar-Bübchen (trefflich komisch-traurig: Alexander Khuon). Dazu eine alerte Moderatorin (durchtrieben sensationslüstern: Katrin Wichmann), die unaufhaltsam dreist im Seelenleben ihres prominenten Gegenübers bohrt. Es soll gucken lassen, was die spektakulär-fiktiven Romanfiguren (es geht um Mord!) mit seinem realen Intimleben zu tun haben könnten. Doch die ätzend mürrische Schreiberin sperrt sich. Und der Clinch zwischen dem hämisch dauergrinsenden Gazetten-Girlie und der ladyliken Promi-Literatin wird zum grausig-grotesken Weiberkampf-Happening. Den Rest der Veranstaltung darf man vergessen. Viel insiderisches Geplapper, dem die wenig ingeniöse Regie von Stephan Kimmig nur selten katastrophenhaltige Leerstellen abringt. Freilich, der Harfouch gelingt allemal eine halsbrecherisch an der Tragödie entlang hangelnde Balance zwischen waidwund gehetztem Reh und beißender Löwin, leidender Schmerzensfrau und wütendem Widerstandsweib. So erwächst im kleinen schmutzigen, in jeder Hinsicht provinziellen Talkshow-Krieg der Harfouch die große Figur einer arg zerbrechlichen, latent hysterischen, verdächtig fest am Rotweinglas hängenden Dichterin mit blank liegenden Nerven. Die sich zugleich geistesstark mit den Mitteln der Künstler-Diva sowie Dame von Welt trotzig und verführerisch zu behaupten weiß.