von Norbert Podewin
Der 13. August 1961 war in mehrfachem Sinne eine geschichtlichen Zäsur. Walter Ulbricht, eine treibende Kraft in Sachen Schließung der DDR-Staatsgrenze, wertete das Datum als faktische Zweitgeburt seines Staates; der sollte fortan gesund aufwachsen. Ulbrichts Hauptaugenmerk galt daher erneut der Entwicklung einer leistungsstarken Wirtschaft, denn die bisherigen zwei Anläufe waren versandet: der 1952 auf der 2. SED-Parteikonferenz proklamierte „Aufbau des Sozialismus“ ebenso wie die 1958 vom V. SED-Parteitag verabschiedeten „Hauptaufgabe“, die BRD in kurzer Frist volkswirtschaftlich zu überholen. (Ulbricht hatte in seinem Parteitagsreferat „im Auftrag des Zentralkomitees“ vorgeschlagen, „als ökonomische Hauptaufgabe zu beschließen: Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft.“)
Beim 1962 eingeleiteten dritten Anlauf arbeiteten auf Ulbrichts Order Gruppen vorwiegend jüngerer Wissenschaftler an Beschlussvorlagen für ein Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL). Das Projekt sah vor, dass der Staatsplan künftig „nicht alle Einzelheiten einer bedarfsgerechten Produktion festlegen“ solle. Empfohlen wurde die „stärkere Ausrichtung der Betriebe und Einrichtungen auf den Markt“ sowie eine „richtige Stellung des Gewinns a/s Ausdruck der Ökonomie der Zeit“.
Im Vorfeld des NÖSPL-Starts stimmte der Initiator die Öffentlichkeit landesweit auf diese Umbrüche ein. Zum deutsch-deutschen Leistungsvergleich argumentierte Walter Ulbricht vor Cottbusser Parteiaktivisten am 2. Dezember 1962: „Manche Leute sagen: Ja, die in Westdeutschland haben mehr Fernsehapparate und mehr Kühlschränke. Ja, dort ist aber auch die Arbeitsproduktivität 20 bis 25 Prozent höher als bei uns.“ Sehr anschaulich geriet bei anderer Gelegenheit auch sein Vergleich für das Spitzenziel: „Die jungen, in die Fußball-Oberliga aufgestiegenen Mannschaften sind sicher sehr ehrgeizig […] Wer ist für sie der Maßstab? Maßstab ist für sie die Mannschaft, die die Weltmeisterschaft erobert hat, nicht aber eine, die in der Mitte liegt. Das gilt nicht nur für den Sport. Das gilt genau so für die Wissenschaft und für die Technik. Die Leitung der Volkswirtschaft muss sich also den Welthöchststand als Maßstab nehmen.“
Einen anderen, realeren Stellenwert im NÖSPL sollte schließlich die bekannte Losung „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei“ erhalten. Dazu wurden der Allmacht des Parteiapparates bestehende Defizite anschaulich gemacht. „In den Apparten von 106 Kreisleitungen“, so Ulbricht bereits im November 1961, „gibt es überhaupt keinen Mitarbeiter mit Hochschulbildung. Beispielsweise haben von den 18 Kreisen des Bezirkes Erfurt 12 und von den 21 Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt 16 Kreisleitungen in ihren Apparaten keinen Genossen mit Hochschulbildung. In den Kreisleitungen Erfurt-Nord, Apolda und Wolgast gibt es überhaupt keinen Genossen mit einer Hoch- oder Fachschulausbildung. Das ist selbstverständlich ein unhaltbarer Zustand, der schnellstens verändert werden muss.“ Bei gleicher Gelegenheit sprach Ulbricht öffentlich aus, dass es an der Zeit sei, „die Anzahl der Mitarbeiter des Apparates und der Massenorganisationen zu vermindern und mehr ehrenamtliche Kräfte zur Arbeit heranzuziehen“.
Gestärkt durch seine Wiederwahl als Erster Sekretär der Partei auf dem VI. SED-Parteitag im Januar 1963, der auch das NÖSPL zum Parteibeschluss erhoben hatte, ließ Ulbricht schließlich für den 24./25. Juni 1963 eine Wirtschaftskonferenz durch zwei gleichgestellte Partner – ZK der SED sowie DDR-Ministerrat – einberufen. Deren Beschlüsse setzten eine umfassende Strukturreform in Gang, deren Kern vor allem im Umbau der Wirtschaftsstruktur durch Schaffung von Industrieministerien sowie in der zentralen Forderung an alle Produzenten bestand, künftig gewinnorientiert zu arbeiten. In den „Grundsätzen und Merkmalen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft hieß es dazu: „Der Gewinn der Betriebe ist ein objektiver Prozess des Nutzeffektes der gesellschaftlichen Arbeit und er ist das Hauptkriterium für die Beurteilung der betrieblichen Leistung.“ Die Betriebe erhielten deutlich erweiterte Entscheidungsfreiheit. Eine weitere Direktive schrieb fest: „Alle Fragen derunmittelbaren Durchführung der Produktion sind allein Aufgabe der Betriebe und der VVB (Vereinigungen Volkseigener Betriebe – Anm. d. Red.); die Ministerien sowie andere zentrale Leitungen einschließlich der Staatlichen Plankommission haben nicht das Recht, in Belange der VVB bzw. Betriebe direkt einzugreifen.“
Damit einher ging eine Qualifizierung der Anwendung des Leistungsprinzips. So wurden unter anderem ab 1967 – abhängig vom Betriebsergebnis – erstmals Jahresendprämien gezahlt. Prämien an Mitarbeiter wurden differenzierter vergeben und förderten so kostenbezogenes Denken, und leistungsabhängige Gehälter für Betriebsfunktionäre schärften den Blick der Belegschaften für deren Leitungsqualitäten. Während dieser Reformperiode unterblieben Verstaatlichungs- und Genossenschafts-Kampagnen: Integration statt Liquidation hieß die Devise. Bereits seit 1. April 1966 galt überdies auch die verkürzte Arbeitszeit – 45 Stunden pro Woche – mit Übergang zur 5-Tage-Woche.
Beobachter aus der Bundesrepublik wie Christoph Kleßmann bestätigten die Erfolge des NÖSPL. „Das Nationaleinkommen stieg 1964 und 1965 jeweils um 5 Prozent, die Arbeitsproduktivität 1964 um 7 Prozent, 1965 um 6 Prozent. Das Bruttoeinkommen von Arbeitern und Angestellten erhöhten sich 1964/65 um 4 Prozent, die Versorgung der Bevölkerung mit langlebigen Konsumgütern verbesserte sich sprunghaft. Eine wichtige Vorbedingung für das Funktionieren des NÖSPL war die von 1964 bis 1967 etappenweise durchgeführte Industriepreisreform, durch die kostengerechte Preise angestrebt wurden. Bis dahin hatten z. B. die Preise für Rohstoffe wie Kohle, Gas, Elektroenergie, Holz und Eisen nur 45 bis 60 Prozent der tatsächlichen Erzeugungskosten betragen, und die Diffenrenz war durch staatliche Subventionen ausgeglichen worden.“
Dieser Erfolgskurs wurde von der sowjetischen Parteiführung unter Leonid Breshnew, der im Herbst 1964 Nikita Chruschtschow abgelöst hatte, argwöhnisch beobachtet. War bislang für alle sozialistischen Staaten der Begriff „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ ein kategorischer Imperativ, so sorgte Uibrichts „Westblick“ auf das Weltniveau für Verärgerung. Hinzu traten Eigeninitiativen in Sachen deutscher-deutscher Verständigung wie der Vorschlag zu einer deutschen Konföderation (1962), das Angebot eines Zeitungsaustauschs (1964), der angebahnte Redneraustausch SED – SPD (1966).
Breshnew argwöhnte ostdeutsche Eigenwege, die er strikt unterbinden wollte. So griff er am empfindlichsten Punkt ein; vertraglich vereinbarte Rohstofflieferungen aus der UdSSR wurden plötzlich „auf Grund von Förderungsmängeln“ drastisch gekürzt. Der DDR-Verhandlungsführer Erich Apel, maßgeblicher NÖSPL-Mitgestalter, beging nach ergebnislosen Gesprächen nach seiner Heimkehr aus Moskau am 3. Dezember 1965 in seinem Büro Selbstmord. Zeitgleich wurden parteiinterne Gegner Ulbrichts in der SED-Führung zur Opposition ermuntert. Breshnew schilderte gegenüber Erich Honecker intern eine Szene so: Ulbricht habe 1964 in seiner Datsche am Döllnsee auf ihn eingeredet, „was alles falsch bei uns ist und vorbildlich bei euch […] Ich merkte nur, er will mir Vorschriften machen, wie wir zu arbeiten, zu regieren haben, lässt mich gar nicht erst zu Wort kommen. Seine ganze Überheblichkeit kam da zum Ausdruck, seine Missachtung des Denkens, der Erfahrungen anderer. Hat die SU, die KPdSU, das Sowjetvolk nicht die Welt verändert? Warum muss jetzt selbst die USA auf uns Rücksicht nehmen?“
Vorerst blieb der Gescholtene bei seinem Kurs. Auf einer wissenschaftlichen Konferenz im September 1967 in Berlin – sie galt der Würdigung des Karl-Marx-Werkes „Das Kapital“ – erklärte Ulbricht, „dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsperiode in der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab“. Damit war der bisherigen, von Moskau oktroyierten Lehrmeinung die Gefolgschaft aufgekündigt. Diese Lehrmeinung bescheinigte der UdSSR bekanntlich, ab 1936 den Aufbau des Sozialismus betrieben zu haben und unter Chruschtschow 1961 die Eintrittsphase in den Kommunismus erreicht zu haben; die weitgehende Realisierung des Zukunftsstaates wurde für die kommenden 20 Jahre verheißen.
Die Entstehung einer parteiinternen SED-Opposition schritt voran, doch Walter Ulbricht wollte sein Projekt nicht aufgeben. Am 21 August 1970 kam es zu einem folgenschweren Gespräch in Moskau. Breshnew empfing Ulbricht, Honecker sowie Willi Stoph und Günter Mittag. Abschließend bekräftigte Ulbricht – und verletzte damit den Stolz des „Großrussen“ Breshnew zutiefst: „Wir wollen uns so in der Kooperation als echter deutscher Staat entwickeln. Wir sind nicht Bjelorußland, wir sind kein Sowjetstaat – also echte Kooperation.“
Am 3. Mai 1971 trat das ZK der SED zu seiner regulären 16. Tagung zusammen. Zu Beginn beschloss das ZK „einstimmig, der Bitte des Genossen Walter Ulbricht zu entsprechen und ihn aus Altersgründen von der Funktion als Ersten Sekretärs des Zentralkomitees zu entbinden […]“. Dieser erpresste Abgang Walter Ulbrichts setzte zugleich den Schlusspunkt unter das NÖSPL, den Versuch einer sozialistisch gestalteten industriellen Revolution.
Schlagwörter: DDR, Erich Honecker, Leonid Breshnew, Norbert Podewin, NÖSPL, Walter Ulbricht