von Erhard Crome
Im Westen reiben sich inzwischen auch gestandene Nahostwissenschaftler die Augen und fragen: „Sind die arabischen Monarchien die Gewinner des Umbruchs?“ Immerhin ist nicht mehr von „Revolution“ die Rede. Aber immer noch von „arabischem Frühling“, auch wenn der inzwischen verwelkt. Kritische Geister aus der arabischen Welt haben schon vor längerer Zeit darauf bestanden, dass bereits der Terminus „arabischer Frühling“ Teil der westlichen Vereinnahmung war, wie die „samtene“ oder die „orange Revolution“. Der Umbruch sollte zur Geopolitik der USA passen.
Das aber war nicht nur ein ideologischer Vorgang. Er wurde realpolitisch gemacht. Wenn man später die Akten kennt, wie heute die der Napoleonischen Kriege, wird man feststellen, dass die Umbrüche, die in Tunesien und Ägypten begannen, verschiedene Kräfte auf den Plan riefen. „Was wird mit unserem Öl, wenn die Revolution Saudi-Arabien erreicht?“ war eine auch in Deutschland gestellte rhetorische Frage im Winter 2011. Abgesehen davon, dass schon in der Wortwahl der Herrenmensch sich artikulierte, der da meint, es sei falsch eingerichtet, dass „unser Öl“ in den arabischen Wüsten steckt, ist der Kern jener Frage: Wenn die Ströme des Umbruchs die Golfregion erreichen, hat das weit reichende Folgen für den Westen, für die energetischen Grundlagen der derzeitigen kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise und für die geopolitischen Gewichtigkeiten im Nahen und Mittleren Osten. Also befassten sich westliche Diplomaten, Geheimdienste, Regierungsbeamte und Wirtschaftsführer mit der Frage, wie diese Ströme umzuleiten sind. Der Libyenkrieg des Westens war Teil jenes historischen Umleitungsprozesses. Der Schwerpunkt der weltpolitischen Auseinandersetzungen wurde im Mittelmeerraum gehalten, wo er mit Tunesien und Ägypten ja hervorgetreten war, und blieb mit den Auseinandersetzungen um Syrien dort, während niemand mehr darüber sinniert, ob denn diese Ströme doch noch die Golfregion erreichen könnten.
Gleichwohl gibt es auch Analytiker, die das anders sehen, etwa wenn heute in Ägypten die Frage gestellt wird, ob die arabischen Umbrüche nicht drei Phasen haben werden: zuerst fallen die etwas verweichlichten Diktaturen (Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten), dann die härteren (Gaddafi in Libyen und Assad in Syrien), und danach sind die Monarchien an der Reihe. Es gibt also historisch keinen Weg um sie herum. Eine solche Überlegung behält im Blick, dass bei allen Konvulsionen der Geschichte in Europa seit 1789 eines unausweichlich war: Die absoluten Monarchien verschwinden. Warum also sollten die absoluten Monarchen am Golf im 21. Jahrhundert überdauern? Die Frage stellen die sich wahrscheinlich auch. Bisher wurden traditionell drei Herrschaftsinstrumentarien praktiziert: das Kaufen der eigenen Bevölkerung, Repression gegen Renitente und gegenseitige Hilfe der Monarchen. Die Politik Katars allerdings, und das gehört zu den historischen Eigenheiten der Umbrüche in der arabischen Welt, hat sich nicht nur gegen die historischen Zumutungen gestemmt – im eigenen Land gab es kaum Proteste –, sondern eine sehr aktive Politik betrieben, zu welchem Ende auch immer.
Katar wurde am 3. September 1971 unabhängig, nachdem Großbritannien Ende der neunzehnhundertsechziger Jahre seinen Rückzug „östlich von Suez“ proklamiert hatte. Zum britischen Einflussbereich hatte das Land endgültig seit dem ersten Weltkrieg gehört, nachdem es vorher auch Machtansprüche des Osmanischen Reiches und aus Saudi-Arabien gegeben hatte. Erdöl wurde zuerst 1939 gefunden, und Katar verfügt über die drittgrößten Erdgasreserven der Welt. Die Exporte hatten im Jahre 2010 einen Wert von 72 Milliarden US-Dollar. Das Land ist etwa 11.000 Quadratkilometer groß und hat etwa 1,7 Millionen Einwohner. 80 Prozent sind Ausländer – ein großer Teil der Arbeitskräfte auf dem Bau und den Ölfeldern kam traditionell aus anderen arabischen Ländern, aus Ägypten, Syrien und Palästina; die aber waren mit arabisch-nationalistischen oder gar sozialistischen Ideen infiziert. Nach dem Irak-Krieg 1990/91 wurden die vertrieben und durch Arbeitskräfte aus Bangladesh und Pakistan ersetzt, die kein Arabisch können und als befristete Vertragsarbeiter ohnehin keine Rechte haben. Damit reduziert sich die Zahl derer, die aus den opulenten Exporteinnahmen zu alimentieren sind, auf etwa 300.000 Menschen.
Unter den obwaltenden Bedingungen ist der Anreiz, Rechte einzufordern, relativ gering. Am 29. April 2003 wurde die erste Verfassung seit der Unabhängigkeit per Volksentscheid angenommen, mit 98,39 Prozent der Stimmen – das wäre selbst für die spitzen Bleistifte im Realsozialismus ein Traumergebnis gewesen. Nach dieser „Verfassung“ ist Katar ein Emirat, das heißt eine absolute Monarchie (per Volksentscheid!), in der die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung gilt und der Islam Staatsreligion ist. Der Emir ist Staatsoberhaupt, Inhaber der legislativen und der exekutiven Gewalt in einem, die Regierung ist allein dem Emir verantwortlich. Es gibt eine „Beratende Versammlung“ – die den Emir berät und nichts beschließt, deren 35 Mitglieder durch den Emir ernannt werden. Politische Parteien und ein Parlament existieren nicht, das heißt eine Gewaltenteilung ist ebenso wenig vorgesehen, wie demokratische Wahlen oder eine verfassungsrechtliche Kontrolle des Regierungshandelns. Das bedeutet, dass der Emir einerseits nach außen, in den internationalen Beziehungen als Staatschef auftritt, andererseits aber über das Land als ein Privateigentum verfügen kann, ob es nun um das Erdöl und Erdgas oder um den Kauf einer Fußball-Weltmeisterschaft geht, die 2022 in Katar stattfinden soll.
Während Bahrein, wo der Westen der Niederschlagung der Demokratiebewegung tatenlos zugeschaut hat, das Hauptquartier der 5. US-Flotte beherbergt, befindet sich in Katar der Sitz des Hauptquartiers der US-Truppen im Nahen und Mittleren Osten, von wo aus auch der Krieg der USA gegen den Irak befehligt wurde. Katar hat jedoch nicht nur immer gute Beziehungen zu den USA unterhalten, sondern auch zum Iran. Viele Islamisten aus verschiedenen arabischen Ländern fanden hier Unterschlupf, die nach den Umbrüchen in ihren Ländern jetzt eine Rolle spielen. Politisch-diplomatisch war Katar ein Vorreiter, den Beschluss des Golf-Kooperations-Rates gegen Libyen zu erwirken, der dann Grundlage für den entsprechenden Beschluss der Arabischen Liga wurde, der wiederum eine wichtige Rolle dabei spielte, die Resolution des UNO-Sicherheitsrates 1973 zu erwirken, die zur Grundlage des Libyen-Krieges des Westens gemacht wurde. An dem wiederum beteiligte sich Katar auch mit militärischen Kräften. Den libyschen „Übergangsrat“ anerkannte Katar als eines der ersten Länder bereits am 18. März 2011, dann verkaufte Katar auf seinen Vertriebswegen libysches Öl und trug damit maßgeblich zur Finanzierung der Anti-Gaddafi-Kräfte in Libyen bei. Auch bei den Bündnissen zur Intervention in Syrien und zur Finanzierung der gegen Assad gerichteten Kräfte spielt Katar eine wesentliche Rolle.
Ein wichtiges Moment katarischer Politik ist der Sender Al Dschasira, von dem es heißt, er habe die gesamte arabische Fernsehlandschaft verändert. Er wird vom Emir finanziert, ist kritisch in Bezug auf die inneren Verhältnisse nahezu aller arabischen Staaten – nur gegen seinen Eigner sendet er natürlich nichts. In nahezu allen arabischen Staaten war er schon einmal verboten, auch die USA fanden ihn während des Irak-Krieges 2003 und danach störend, und daher wird er als offen angesehen. An dem ägyptischen Umbruch hatte der Sender maßgeblichen Anteil, als er während der „heißen Phase“ des Mubarak-Sturzes live und ununterbrochen vom Tahrir-Platz berichtete. Das englischsprachige Programm gilt auch im Westen als modern und offen, während es über das arabische heißt, es wäre eher islamistisch ausgerichtet.
Am Ende scheint es, dass Katar dem Westen gegenüber „modern“ auftritt, in der arabischen Welt aber eher eine hintergründige Agenda verfolgt, die islamistisch ist. Die Kämpfer in Syrien, die mit Geld aus Katar und Saudi-Arabien ausgerüstet und finanziert werden, haben nach vorliegenden Informationen oft eine Gefechtsbiographie von al Kaida. Die kämpfen nicht für Demokratie, sondern für einen islamistischen sunnitischen Staat – der mit Demokratie nichts zu tun hat. Wenn aber in all den Ländern der ersten und zweiten Phase des Umbruchs nach den säkularen Diktatoren am Ende blutige islamistische Regime errichtet werden, dann strahlen die Golfmonarchien (zumindest die kleinen fünf, ohne Saudi-Arabien) in einem milden Licht der Toleranz und der Modernität. Und die dritte Phase fällt aus. Und wenn das 21. Jahrhundert ohnehin eines der autoritären Herrschaft wird, können diese Monarchien durchaus eine noch recht lange Dauer haben. Deshalb sehen ihre modernistischen Städte ja auch aus, als kämen sie aus 1001 Nacht.
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