15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Der amerikanische Patient

von Reiner Oschmann

Die Diagnose Josef Bramls (Jahrgang 1968), Autor von „Der amerikanische Patient“, ähnelt der Ausgangslage eines zuletzt erfolgreichen Amerika-Romans von Gary Shteyngart: Die USA führen, wieder einmal erdölhungrig Krieg, sie haben die Weltmachtführung verloren, eine Restaurationsregierung handelt ratlos gegen den „Islamofaschismus“, und der trudelnde Dollar ist nur etwas wert, solange er an den chinesischen Yuan gekoppelt wird … USA-Fachmann Braml, der als Berater der Weltbank und in der ersten Kammer des US-Kongresses (Abgeordnetenhaus) gearbeitet hat, formuliert seinen Befund alarmierend. Bei der Buchvorstellung in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, wo er mit dem ehemaligen Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, Karsten D. Voigt (SPD), über die Krankheitsschwere des Patienten stritt, sagte Braml sinngemäß: Die Wirtschafts-, Finanz- und Energieprobleme der USA sind heute so groß, dass die Regierung nicht mehr frei handlungsfähig ist. Legislative und Exekutive blockieren sich zunehmend, weil es nichts mehr zu verteilen gibt, nachdem man lange auf Pump gelebt hat. Diese Handlungsunfähigkeit wirkt sich auf die Welt aus. Und auf Deutschland.
Braml konzentriert sich besonderes auf die wirtschaftlichen und energiepolitischen Schwächen der USA. „Zwar erheben die Vereinigten Staaten nach wie vor den Anspruch, eine liberale Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, doch die wirtschaftliche Schwäche und die Einschränkungen der politischen Führung hindern sie zunehmend daran“, so seine zentrale These, „ihre globale Ordnungsfunktion wahrzunehmen, indem sie sogenannte öffentliche Güter wie Sicherheit, freien Handel und eine stabile Leitwährung bereitstellen.“ Herzrhythmus- und andere Probleme attestiert der Autor vielen Feldern der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft: der Auto- und Immobilienbranche, der Infrastruktur, der Konsumschwäche („wo soll die wirtschaftliche Kraft herkommen, wenn immer mehr Amerikaner als Konsumenten ausfallen?“) und Arbeitslosigkeit („Vergessen Sie die offiziellen Zahlen von 8 oder 9, in Wirklichkeit liegt sie bei 20 Prozent“), dem Rekordhaushaltsdefizit, der Staatsverschuldung – und besonders dem Energiedilemma. Es resultiert daraus, dass weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung mehr als 20 Prozent des globalen Energiekonsums verursachen. Braml: „Amerikas Abhängigkeit von importiertem Öl ist zum wirtschaftlichen Problem und sicherheitspolitisch relevanten Thema geworden. Um die Energieressourcen und Handelswege zu sichern, hat Washington bisher auf die kostspielige Strategie massiver Militärpräsenz gesetzt. Diese Strategie lässt sich wegen der schlechten sozioökonomischen Verfassung Amerikas und wegen des schwindenden innenpolitischen Rückhalts im eigenen Land nicht länger aufrechterhalten.“
Das Land der begrenzten Möglichkeiten – dies ist einer der Zwänge, weshalb der Autor verstärkt, vielfältig und rabiat angesetzte Daumenschrauben der USA erwartet, in der Hoffnung, so die Lasten einer weiter für sich beanspruchten weltweiten Führung auf Alliierte abzuwälzen. „Beim burden sharing können wir noch mitreden, beim burden shifting werden wir nicht mehr gefragt“, sagt Josef Braml voraus. Egal, ob der Präsident einen Kapitalismus mit scheußlichem (George W. Bush) oder demokratischem Antlitz (Barack Obama) verkörpert, möchte man anfügen.
Brisanter als der Haupttitel ist der Untertitel – „Was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet“. Geradeheraus: Das Buch leistet entschieden mehr zum Haupt- als zum Untertitel, obwohl es gerade letzterer ist, der Appetit weckt. Aber dieses Moment, so sehr es bisweilen anklingt, bleibt in der verdienstvollen Untersuchung auf den Abspann beschränkt. Karsten Voigt machte geltend, dass „Krise“ besser gestanden hätte als „Kollaps“. Er verkenne die Probleme der USA nicht, doch das Land besitze so große dynamische Fähigkeiten, dass man auch das Moment der Chance in jeder Krise sehen müsse. Eine Besonderheit der Amerikaner bestehe gerade darin, „dass die sich in der Verzweiflung nicht gemütlich einrichten“. Josef Braml stimmte zu. Er schreibe Amerika nicht ab, „aber Amerika muss umsteuern, weil Arbeit, Kapital und Know How nicht mehr stimmen“.

Josef Braml: „Der amerikanische Patient – Was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet“, Siedler Verlag, 2012, 222 Seiten, 19,99 Euro