15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Was hinter Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ steckt

von Kai Agthe

„Jeder stirbt für sich allein“ ist, legt man keine ästhetischen Kriterien an, ein ganz und gar großartiger Roman, schrieb Adam Soboczynski in einer Rezension über die ungekürzte Neuausgabe von Hans Falladas letztem Roman im April 2011 in der Wochenzeitung Die Zeit. Und der Feuilletonist ergänzte: „Man liest ihn mit fiebriger Neugierde, Seite für Seite, kaum von ihm ablassend. Nicht weil ein großes Kunstwerk betört, sondern da das zeitgeschichtliche Interesse einen bannt.“ Falladas 1947 erstmals erschienener Roman ist nicht nur hierzulande ein (später) Bestseller, sondern auch in Frankreich, den USA und Israel. Was den Hamburger Journalisten und zahllose Leser im In- und Ausland in den Bann zieht, das hat auch Manfred Kuhnke zu seinem Buch über Falladas Schwanengesang inspiriert: Der Berliner Autor und passionierte Fallada-Forscher, der zwischen 1995 und 2004 das Hans-Fallada-Haus in Carwitz leitete, zeigt in seiner Studie, was an Zeitgeschichtlichem hinter dem Literarischen steckt.
In „Jeder stirbt für sich allein“ wird die Geschichte des Ehepaares Anna und Otto Quangel erzählt, die mit selbstverfassten und in ihrer Berliner Kiez-Umgebung verteilten Karten gegen das Hitlerregime protestieren. Auslöser dieser mutigen, aber kaum breitenwirksamen Aktion ist der Tod des Sohnes an der Westfront. Das Ehepaar wird bald entdeckt und in einem der obligatorischen Schauprozesse vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Plot des Romans entspricht ziemlich genau dem Fall eines Ehepaars aus Berlin, das die Vorlage für das Werk Falladas abgab: Elise und Otto Hampel hießen die beiden Eheleute aus dem Arbeiterbezirk Wedding, die mitten im Zweiten Weltkrieg mit Protestkarten gegen das Hitler-Regime opponierten. Anlass für die Hampels war aber nicht wie im Roman der Tod des Sohnes, sondern der des Bruders von Elise Hampel. Das Ehepaar Hampel wurde denunziert und nach der Verurteilung 1943 in Plötzensee unter dem Fallbeil hingerichtet. Vermutlich wären sie ohne Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ nur zwei von zahllosen Opfern der NS-Diktatur. Die Denunziantin, so berichtet es Manfred Kuhnke, hieß Gertrud Waschke, erhielt 1942 für ihr Tun eine Aufwandsentschädigung von 3,45 RM und 1949 zwei Jahre Gefängnis wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In Hans Falladas Romanfassung freilich ist ein gewisser Millek der „Leutebeobachter und Verräter“.
Manfred Kuhnke berichtet nicht nur detailreich, wie Elise und Otto Hampel Gegner des Nationalsozialismus wurden, sondern auch, wie Johannes R. Becher Hans Fallada begeisterte, die Geschichte des Ehepaars literarisch zu gestalten. Kennengelernt hatten sich Becher und Fallada im Oktober 1945. Wenig später, so der Autor, übergab Becher die Gestapo-Akte der Hampels an Fallada, um ihm die Recherche zu erleichtern. Da Band 4 der Ermittlungs-Unterlagen fehlte, konnte Fallada nicht wissen, dass die Hampels sich in ihren Gnadengesuchen gegenseitig belasteten: Jeder behauptete gegenüber der NS-Justiz vom anderen, der Urheber der „Hetzkarten“-Aktion gewesen zu sein. In den Verhören hatte Otto Hampel zunächst alle Schuld auf sich genommen und seine Frau stets nur als „Mitläuferin“ bezeichnet. „Welche Tragik“, so Manfred Kuhnke, „wie beider Hass in die falsche Richtung drängt und vom wirklichen Feind Gnade erhofft.“
Bereits im Februar 1946 kündigte der Aufbau-Verlag das Buch unter dem Titel „Im Namen des deutschen Volkes“ und mit einer Startauflage von dreißigtausend Exemplaren an. Der Roman erschien im Frühjahr 1947 zunächst in Fortsetzungen und leicht gekürzt in der „Neuen Berliner Illustrierten“, dann in Buchform. Er wurde dreimal verfilmt und in viele Sprachen übersetzt. „Man darf sagen“, so Manfred Kuhnkes Resümee, „dass Fallada mit diesem Buch [„Jeder stirbt für sich allein“, K.A.] dazu beitragen konnte, das Bild der Deutschen, wie es 1945 in Europa, in der ganzen Welt leider verbreitet war, zu korrigieren […].“ Man wird ferner sagen können, dass es in der deutschen Nachkriegsliteratur – bei allen ästhetischen Schwächen des Buches, auf die auch Adam Soboczynski hinwies – kaum einen zweiten Roman gibt, dessen historischer Hintergrund so spannend ist wie die Literarisierung selbst.

Manfred Kuhnke: Falladas letzter Roman. Die wahre Geschichte, Edition federchen, Steffen Verlag, Friedland 2011, 173 Seiten, 12,95 Euro