15. Jahrgang | Nummer 11 | 28. Mai 2012

Die Unfähigkeit zur Versöhnung / Die große Reinigung

von Matthias Krauß

Die Unfähigkeit zur Versöhnung

Mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“, schrieben Alexander und Margarete Mitscherlich in den 60er Jahren einen Bestseller. Bis heute hält in Deutschland die Bewunderung für eine These an, deren Unsinnigkeit mit den Händen zu greifen ist, und die in einem merkwürdig großen Abstand zur geschichtlichen Wirklichkeit steht. Denn in dieser Wirklichkeit litt die deutsche Nachkriegsgesellschaft nicht eine einzige Sekunde lang an einer „Unfähigkeit zu trauern“. Im Westen offen und im Osten – gezwungenermaßen – heimlich, gaben die Deutschen sich schier endlos der Trauer hin – der Trauer jedenfalls über das eigene erlittene Leid. Und wie sie das taten. In völliger Verkennung der Tatsachen also ging dieser Titel am eigentlichen Problem vorbei, denn es war in Deutschland keine Unfähigkeit, sondern vielmehr eine „Unwilligkeit zu trauern“ das große Problem – die Unwilligkeit nämlich, das Leid zu betrauern, das Deutsche anderen Völkern zugefügt haben. Dort lagen Defizite, die bis heute nachwirken.
Wer der seit 22 Jahren betriebenen Abrechnung mit der DDR und ihren Anhängern beiwohnt, der gewinnt den Eindruck, dass von einer anderen Unfähigkeit die Rede sein müsste, von der „Unfähigkeit zur Versöhnung“ nämlich. Mehrheitsmeinung in Politik, Medien und Gesellschaft ist, dass an dieser Stelle die Versöhnung zu verweigern ist. Seit über zwei Jahrzehnten steht die DDR Tag für Tag am Pranger, und die 50. Wiederkehr des Tages, an dem der Mauerbau begann, hat dieses kampagnenhafte Unternehmen ins Aberwitzige gesteigert.
In Brandenburg benutzen die Oppositionsparteien CDU, FDP und Grüne ihre politischen Rechte, um alle öffentlichen Bereiche dem Verdacht auszusetzen, dort würden finster Stasi-Seilschaften nach wie vor ihr Unwesen treiben. Je geringer die dafür festgestellte Substanz – beispielsweise bei der erneuten Überprüfung von Polizisten – ist, umso zwanghafter das Schüren einer Atmosphäre der Verunsicherung. Ihr Kennzeichen ist die bewusst eingesetzte Unklarheit, verbunden mit der Selbstverständlichkeit, Angeschuldigten keinerlei Schutz zuzugestehen.
Verbrecher haben in Deutschland Rechte. Menschen, die man der Stasi-Mitarbeit beschuldigt, besitzen diese Rechte nicht. Die Unschuldsvermutung bleibt regelmäßig auf der Strecke, Beschuldigung ist hier mit moralischer Hinrichtung gleichzusetzen. Diese Atmosphäre nimmt hier und da schon den Charakter einer Pogromstimmung an. Sie hat im September mit dem Selbstmord einer anonym beschuldigten Frau ihren grausigen Höhepunkt gefunden.

Haben die Deutschen keine anderen Themen?

Dieser Stil drängt den Eindruck auf, dass die DDR das Schrecklichste gewesen sein muss, was die deutsche Geschichte zu bieten hat. Eine österreichische Studentin, die mich 2011 zum Thema Übergang von DDR-Journalisten in die neue Zeit befragt hat und sich drei Wochen in Berlin aufhielt, stand fassungslos vor diesem ideologischen Großmanöver. „Haben die Deutschen keine anderen Themen?“
Offenbar nicht. Während die westdeutsche Demokratie den faschistischen Judenwürgern schon Wochen, wenn nicht Tage nach der Kapitulation die Hand zur Versöhnung reichte, wird sie den DDR-Anhängern auch nach Jahrzehnten verweigert. Versöhnung ist im Fall DDR völlig ausgeschlossen, das Wort ist nicht gestattet, der Gedanke an Versöhnung pervers, und wer ihn äußert ist ein Hassobjekt. Das bekamen Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck und Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschef Erwin Sellering (beide SPD) zu spüren, die in der Vergangenheit bemüht waren, sich der gradlinigen Einseitigkeit und dem Schwarz-Weiß-Schema in der Betrachtung der jüngsten Geschichte entgegenzustemmen.
Handelt es sich hier aber wirklich um eine Unfähigkeit zu vergeben? Eher nicht. Vielmehr: Wie beim Mitscherlich-Beispiel ist es auch hier die Unwilligkeit, die von der Versöhnung abhält. Bemerkenswert ist das vor allem, weil das in einem bezeichnenden Widerspruch zur sonstigen Praxis in Deutschland steht. Beide deutsche Staaten waren nach Kriegsende mit Erfolg um Versöhnung und Aussöhnung bemüht – die Bundesrepublik vor allem mit Frankreich, mit Israel, später mit Polen und mit Russland. Bedingungslos konnte das nicht sein, und das hätte niemals funktioniert, wenn Deutschlands einstige Feinde ihm endlos seine Verbrechen, die Opfer und vor allem die Todesopfer vorgehalten und vorgerechnet hätten. Das heißt, es hätte niemals und unter keinen Umständen eine Versöhnung gegeben, wenn die einstigen Opfer sich verhalten hätten, wie die politisch-professionellen Abrechner heute zur DDR und einem Teil der Ostdeutschen. Bedingung für die Nachkriegsversöhnung war, dass die Geschädigten einverstanden waren, die Streitaxt zu begraben. Bedingung dafür war ferner, rhetorisch zurückzuschalten, Trauer und Wut nicht freien Lauf zu lassen.
Versöhnung zunächst – wie würdig das klingt. Wie menschlich. Versöhnung ist aber mehr, das ist nicht nur Großzügigkeit, sondern auch die Einsicht, dass auf Dauer an ihr nichts vorbeiführt. Sie ist auch Realpolitik. Wie hätten sich Japaner und Amerikaner sonst jemals wieder einander ausstehen können? Oder wie könnte ein Vietnamese den USA jemals verzeihen? Angesichts des unfassbaren Blutzolls, der in jahre- oder jahrzehntelangem militärischen und ideologischem Kampf erhoben wurde. Ohne Versöhnung hätte sich die Menschheit schon längst – wie Rumpelstilzchen – selbst mittendurch gerissen.
Welche Glaubwürdigkeit kann vor diesem Hintergrund die Behauptung beanspruchen, man schulde den DDR-Opfern dieses Vorgehen der Gnadenlosigkeit gegen MfS-Mitarbeiter, diese endlose rachsüchtige Abrechnung? Es gibt keine. Der Unterschied ist der, dass die im DDR-Auftrag Handelnden heute keine Macht darstellen und man nicht gezwungen ist, von ihnen abzulassen. So war es auch schon in der Vergangenheit: In Deutschland steigert sich die Aggressivität an der Wahrnehmung, dass der Gegner schwach ist.
Bei der Aussöhnung, die Deutschland (West) mit Frankreich oder den Vereinigten Staaten vorangetrieben hat, durfte eines keine Rolle spielen: die furchtbaren Verbrechen, welche beide Nationen in dieser Zeit der Aussöhnung mit den Deutschen begangen haben. Welche Untaten die US-Amerikaner seit dem Zweiten Weltkrieg verübten, und wie viele Millionen Menschen die Freiheit der Amerikaner mit Unfreiheit, Leid und Tod bezahlt haben, ist dem einen oder anderen noch gegenwärtig. Niemals sind diese Dinge im Versöhnungsprozess ein Problem gewesen. Und wie steht es um den Traditionsfreund Frankreich? Kaum präsent ist, dass zwischen 1945 und 1956 Frankreich beim verbrecherischen Versuch, seine Indochina-Kolonie wieder zu installieren, dort 1,7 Millionen um ihre nationale Eigenständigkeit kämpfende Menschen umgebracht hat. Beim gleichen und nicht minder verbrecherischen Versuch in Algerien (bis 1962) betrug die Opferzahl zwischen 800 000 und 1,2 Millionen. In Madagaskar waren es ca. 80 000.

Gemetzel störte Aussöhnung nicht

Massenermordung von Gefangenen, Massenfolterungen, Vergewaltigungen – kein Verbrechen hat bei diesen Kriegen gefehlt. Niemand im heutigen Frankreich – von Rechtsextremen vielleicht abgesehen – gesteht diesen Kolonialmassakern noch die geringste Berechtigung zu. Als sich die deutsche Bundesrepublik mit Frankreich aussöhnte, war die Grande Nation eine metzelnde Nation. Und doch störte das die Aussöhnung nicht. Und welcher, wenn nicht dieser Gedanke stand bei diesem Unternehmen Pate: „Wir haben bis 1945 Verbrechen begangen – ihr begeht sie heute. Und eine Krähe hackt bekanntlich der andern kein Auge aus.“
Dagegen ist es im Falle der DDR kein Argument, dass doch die Auseinandersetzung mit ihr und in ihr – verglichen mit den eigentlichen und grundlegenden der damaligen Welt – opferarm und mehr oder weniger friedlich ausgetragen worden ist. Um diesen ins Auge springenden und gleichzeitig schreienden Widerspruch zu bemänteln, bedienen sich die Abrechner um Joachim Gauck, Hubertus Knabe, Marianne Birthler, Roland Jahn, Rainer Eppelmann oder Klaus Schroeder eines billigen, aber offenbar recht wirkungsvollen Tricks. Die 136 Mauertoten – und sie waren zweifellos Opfer der DDR – werden im geschichtlichen Rückblick von ihnen und den dominierenden Medien behandelt, als wären es Millionen. Und die Millionen Opfer des Westens bekommen im Gegenzug eine Bedeutung, als wären es 136.
Während beim äußeren Feind tausendjährige Gegnerschaft und unfassbar gewaltige Verbrechen kein Hinderungsrund für Versöhnung gewesen sind, gilt das im Inneren des Landes nicht. Und die Tatsache, dass die Konflikte inzwischen eine Generation zurückliegen, ist eher Anlass, den Schwung bei der Abrechnung noch zunehmen zu lassen.
Irrational ist dieser Vorgang auch aus anderen Gründen. Denn bei den zweifellos aufzählbaren negativen oder auch verbrecherischen Seiten der DDR hielten sich ihre Vergehen noch in einem Rahmen, der sie durchaus positiv heraushebt aus der Gruppe der ehedem sozialistischen Staaten. Die DDR hatte keine Bürgerkriege wie Ungarn, Polen, Sowjetrussland oder die Tschechoslowakei, keine antijüdischen Schauprozesse, kein Militäreinsätze im Ausland wie die anderen „Bruderländer“. Und doch klebt das Verdikt „Unrechtsstaat“ einzig an ihr wie das Pech an der bekannten Marie. Im Berliner Wahlkampf hat der Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) erneut die DDR bebend einen „Unrechtsstaat“ genannt. Diese Behauptung ist inzwischen Gemeingut, obwohl kein dazu befugtes internationales Gremium die DDR jemals als „Unrechtsstaat“ eingestuft hat.
Aber der Vorwurf entzieht sich nicht der Nachprüfbarkeit, es hat nach 1990 den Prozess der juristischen Aufarbeitung von DDR-Unrecht gegeben. Zehn Jahre lang hatten sich in diesem Rahmen Richter aus Westdeutschland einstige DDR-Bürger, vor allem Funktionäre und Amtsträger, vorgeknöpft. Und in der Tat, die Justiz ist fündig geworden. Allerdings auf eine sehr ernüchternde Weise. Rund 100 000 Menschen wurden in dieser Aufarbeitungswelle beschuldigt, bedroht, eingeschüchtert. Das Ergebnis war so erhellend wie trocken. Etwa ein Prozent von ihnen wurde tatsächlich verurteilt. Man kann es drehen und wenden wie man will – angesichts dieser Bilanz ist die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für die DDR nicht gerechtfertigt.

Verfolgungen auf rein moralischer Grundlage

Weshalb wurde nicht mit dem Abschluss der juristischen Aufarbeitung von DDR-Unrecht – eines flächendeckenden, tiefgreifenden, aufwendigen Prozesses – die Verfolgungen ein- und der Landesfrieden hergestellt? Was danach noch blieb und bis heute bleibt, sind Verfolgungen, die auf rein moralischer und keineswegs juristischer Grundlage erfolgen.
In wiefern aber kann in einem Rechtsstaat moralische Verurteilung Grundlage von Verfolgung und Berufsverbot sein, und wie kann es sein, dass dieser fragwürdigste aller Vorgänge darüber hinaus endlos betrieben wird? Straftaten verjähren nach deutschem Recht fast alle irgendwann. Der Makel, den Geheimdienst seines Vaterlandes unterstützt zu haben, verjährt für einen DDR-Bürger niemals, obwohl er sich damit ein Recht genommen hat, was die Staatsbürger aller Nationen der Welt besitzen und was ihnen das deutsche Recht sogar zugestehen muss. Niemand hat bislang behauptet, dass es sich bei der Verpflichtung für die Zusammenarbeit mit dem MfS um eine Straftat gehandelt hat. Warum finden sich keine Juristen, die hier nach der rechtsstaatlichen Substanz fragen? Denn diese endlose Verweigerung von Begnadigung, von Barmherzigkeit, von rechtsstaatlicher Lauterkeit trägt das Gesicht der Barbarei.

Die große Reinigung

Es ist das eine, festzustellen, dass bei der Stasi-„Aufarbeitung“ rechtsstaatliche Standards außer Kraft gesetzt sind, das sittlich gebotene Verjährungsprinzip ungültig ist und Persönlichkeitsrechte unbeachtet bleiben. Ein anderes ist es, die Frage nach dem Warum zu beantworten. Denn das Wissen darum, dass eine nicht enden wollende Verfolgung kein menschlicher Vorgang ist, sondern ein teuflischer – das ist ethisches Fundament des Rechtswesens in Deutschland wie in der gesamten zivilisierten (und auch unzivilisierten) Welt. Weshalb im Falle der Stasi-IM aber der Fremdkörper, diese bewusste Ausnahme? Warum diese selbstverständliche Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze unter dem Beifall der Medien? Warum keine Amnestie, Gnade, Versöhnung selbst nach so langer Zeit?
So unförmig die innerdeutsche Aufarbeitungsindustrie inzwischen auch aufgebläht ist, bezeichnenderweise reflektieren die bestallten Wächter niemals über die rechtlichen, sittlichen oder ethischen Grundlagen ihres Vorgehens. Aber „nichts, was im Prinzip Unrecht ist, kann in der Praxis Recht sein“, wusste schon der 48er Revolutionär und spätere US-Innenminister Carl Schurz. Was hätte der wohl zum Antrag der Partei „Die Grünen“ im Landtag Brandenburgs gesagt, jetzt den gesamten höheren Landesdienst noch einmal zu durchleuchten? Brandenburg hat mit dem von allen Parteien gebilligten Entschluss von 1994 „Mit menschlichem Maß die Vergangenheit bewerten“ einen Standard gesetzt, der heute von den bürgerlichen Parteien expressis verbis abgelehnt wird. Es habe zu einer uneinheitlichen Praxis in den einzelnen Ministerien geführt, begründet Fraktionschef Axel Vogel.

Vordergründiges Motiv ist das der Rache

Also weiter, weiter, weiter. Bei diesem staatlich organisierten Unternehmen ohne strafrechtliche Basis gibt es zunächst ein vordergründiges Motiv: Rache. Hier sitzen 23 Jahre nach der Wende Opfer oder ihre Interessenvertreter über vermeintliche oder wirkliche Peiniger zu Gericht. Spätestens an diesem Punkt müsste der Rechtsstaat dazwischengehen, denn Rache ist laut dem Wörterbuch der Brüder Grimm die „unedle Erregtheit in Verfolgung eines Unrechts“ und für sich genommen selbst „ein niedriger Affekt“. Und als solche kann sie in Deutschland keine Rechtsquelle sein. Auch wenn alle Parallelen zu Straftätern hier fragwürdig sind, denn Stasi-IMs waren keine: Niemand käme auf den Gedanken, das Opfer einer Vergewaltigung zum Richter über den Vergewaltiger zu machen. Das ist im Falle der Stasi-IMs erstens anders und zweitens mit dem besten Gewissen von allen.
Liegt vor uns die allgemeinmenschliche Lust am Prügelknaben – „eine sehr alte und hartnäckige Lust“, wie der Philosoph Ernst Bloch schrieb? Sage niemand, erwachsene Menschen seien frei von Streben einer Schulklasse, sich genau einen in ihrer Mitte auszusuchen, an dem alle ungestraft ihr Mütchen kühlen können. Das reizt vor allem die ungefestigte Jugend und erklärt, weshalb gerade Jungpolitiker in CDU und FDP – Juristen im Übrigen – sich hier ältere Wehrlose vorknöpfen. Und seit 1990 erfüllt das für Nachrückende gleich eine praktische Funktion: Auf diese Weise werden relativ gut bezahlte Jobs frei. Was liegt also näher, als das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden?
Aber lässt sich das Unternehmen auf Leichtsinn und Karrierestreben reduzieren? Das wäre zu billig. Diese Unablässigkeit und ihre Verschärfung ein Vierteljahrhundert später sind von der aussichtslosen Lage nicht zu trennen, in welche die demokratischen Parteien Deutschland und Europa gebracht haben. Die irrationale Abrechnungsfröhlichkeit mit der DDR hat ganz aktuelle Antriebe, sie ist die Reaktion auf ein Scheitern.

Schmerzender Zukunftsblick

Gemessen an den Verheißungen und Versprechungen des Jahres 1990 ist der Prozess des deutsch-deutschen Zusammenwachsens gescheitert. Von einem selbsttragenden Aufschwung ist der Osten heute weiter entfernt als 1990. Der Zukunftsblick schmerzt. Im nationalen wie im kontinentalen Maßstab gilt: Nach dem Realsozialismus sind nun auch die Sieger von 1989 mit ihrem Latein am Ende. Diese Ahnung verunsichert den Kongress der Weißwäscher enorm. Er muss jetzt Schuldige präsentieren. Und wo findet er sie?
Wenn sich eine Gesellschaft neu konstituiert, und das war in Ostdeutschland nach der Wende der Fall, ist für ihre innere Stabilität nichts so wichtig wie ein neuer Mythos. Weniger dessen positive Elemente, wie die „westlichen Werte“, weil bei denen ein jeder sich bekanntlich das Seine denkt. Unvergleichlich substanzieller für die Konstituierung eines neuen Mythos ist dagegen die Festlegung, wer ausgeschlossen bleibt, wer als Gegner, gar als Feind zu gelten hat. So fand sich einstmals das Kollektiv zusammen, das erst dann beruhigt schlafen konnte, wenn die Hexe brannte.
In diesem Stil bestätigt sich die Menschheitserfahrung, dass Gegner in langandauernden Auseinandersetzungen die schlechtesten Eigenschaften austauschen. Während es für die USA – um ein Beispiel zu nennen – bei Kriegseintritt 1941 außerhalb der Vorstellung lag, Kinder, Frauen und Greise des Feindes in die Kampfhandlungen einzubeziehen, verstand es sich am Ende von selbst. Amerika übernahm die verbrecherische Kriegsführung Deutschlands und Japans und überbot sie mit dem Abwurf der Atombombe auf unvorstellbarer Weise.
Leider hat offenbar auch die DDR-Staatssicherheit gelehrige und eifrige Schülerinnen und Schüler gefunden. Die offenbaren heute die gleiche Intoleranz wie ihre damaligen Verfolger, den gleichen messianischen Eifer, die gleiche Selbstgerechtigkeit, die gleiche Rechthaberei. Ja, wir wissen: Die Betroffenen werden heute nicht überwacht oder eingesperrt. Heute wird auch nicht der Mensch gemordet, sondern bloß sein Ruf. Die Opfer werden lediglich entlassen, entehrt, gedemütigt, öffentlich gebrandmarkt und mitunter in den Selbstmord getrieben. Und auf die Frage, was eigentlich schlimmer ist, werden sich verschiedene Antworten finden lassen. In einem jedenfalls scheinen die Rechtgläubigen von heute die einstigen Drangsalierer noch überbieten zu wollen. Denn das MfS war nicht dafür bekannt, dass es Handlungen verfolgte, die 30 oder 40 Jahre zurücklagen. (Einzige Ausnahme: Nazi- und Kriegsverbrechen.)
„Wat brauchste Grundsätze, wenn de’n Apparat hast“ (Kurt Tucholsky). Weil Deutschland die Abrechnungsbegeisterung institutionalisiert hat, ist die Aussicht auf Sachlichkeit stark getrübt. Denn diese Ämter, wie auch Forschungsgruppen sowie Landesbeauftragte, einschlägige Gedenkstättenleitungen… sind mit dem Ziel der Einseitigkeit ins politische Leben getreten. Von dieser Einseitigkeit raucht der Schornstein bei Tausenden dort Angestellten. Sie leben von ihr und wachen dementsprechend über sie.
Das heißt, es ist ganz natürlich, dass sie alles zusammentragen, was gegen die DDR spricht, und alles unterdrücken, was für sie gesprochen hat. Sie erfüllen mithin nicht die Kriterien der Wissenschaftlichkeit oder der Ausgewogenheit. Sie erfüllen die Kriterien der Propaganda. Und wenn Jesus Christus selbst herabsteigen würde und dem Ganzen attestieren, dass es nichts als ein im schlechtesten Sinne deutsches Unternehmen mit allenfalls sehr eingeschränktem Erkenntniswert darstellt, diesem Apparat bliebe nichts anderes übrig, als ihm zu widersprechen und ihm, sollte er sich uneinsichtig zeigen, seine Täter-Akte zu präsentieren.
Ist das alles? Nein. Das alles ist im Spiel, würde aber noch nicht ausreichen, die deutsche Gesellschaft zur offenen Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien zu veranlassen. Der Vorgang muss für sie eine Funktion erfüllen, welche diesen Preis wert ist. Diese Funktion gibt es. Es ist – die Reinigung.
Bei den Abrechnern in der ersten Reihe stehen Menschen, die DDR-Kader waren und sich für die Karriere in der neuen Zeit die Sporen verdienen müssen. Konvertiten sind gezwungen, sich in der neuen Religion ständig als gereinigt zu präsentieren. Das funktioniert am sichersten, wenn sie die „Unreinen“ vorführen, wenn sie sich zum Beispiel am schwer kranken Manfred Stolpe schadlos halten.
Das Unternehmen wird aber auch westdeutsch beschickt. Hier finden sich Leute aus den Kreisen der ehemaligen Leninisten, Trotzkisten, Sinowjewisten, Maoisten und was die westdeutsche K-Gruppen-Szene sonst noch für irregeleitete Wichtigtuer hervorgebracht hat. Personen, die einst Lenins oder Maos Geburtstag gefeiert haben, wie andere Menschen Weihnachten, billigen sich selbst das Recht zu, sich vom Saulus zum Paulus zu wandeln. Einstigen DDR-Funktionären gestehen sie dieses Recht aber nicht zu, auf diesem Grundsatz beruht alles.
Aber auch für die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft aller Generationen hat das endlose Anti-Stasi-Manöver einen unvergleichlichen Wert. Es bietet ihr in einem viel umfassenderen Sinn die Möglichkeit zu jener Reinigung, nach der sie sich so lange verzehrt hat. Denn was unser Politiker-Journalisten-Kartell genau weiß, wenn auch niemals sagt: Auf die unendliche Schande des Hitlerfaschismus in Deutschland folgte die Schande in der westdeutschen Demokratie, die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen zu haben, die Schande, die Täter gedeckt und mit Ehrenerklärungen überhäuft zu haben.

Ersatzhandlung, die nichts kostet

Das traumatische Bewusstsein, das Andenken der Naziopfer auf diese Weise noch geschändet zu haben, ist im Unterbewusstsein der westdeutschen Welt lebendig. Und davon, glaubt sie, kann sie sich jetzt reinigen. Deshalb die Rastlosigkeit in der Abrechnung mit der DDR, die nachträgliche Verschärfung der Überprüfungskriterien im Falle der MfS-Mitarbeit. Deshalb soll eine Referatsleiterin im Brandenburger Sozialministerium, deren IM-Tätigkeit dem Dienstherren seit 17 Jahren bekannt ist, heute zielbewusst büßen, was einst zielbewusst versäumt worden ist. Vor uns liegt eine Ersatzhandlung. Eine Reinigung, welche die Gereinigten praktischerweise nichts kostet, ihnen aber Selbstbestätigung beschert. Und das Gefühl dafür, dass auf diesem Wege die Schande größer statt kleiner wird, ist eher unterentwickelt.
Was wäre jetzt noch vertretbar: Erstens, natürlich, Entschädigung der DDR-Opfer. Zweitens: Entwicklung eines gesellschaftlichen Sinns dafür, dass nicht nur die Zeitläufe vor 1990 Opfer gefordert haben, sondern auch die danach. Drittens: Schlussstrich bei den Verfolgungen. Viertens: Beendigung der staatlich finanzierten, einseitigen Meinungsmache.
Und was die für den Jagdsport so empfängliche junge Generation betrifft, so schulden wir ihr Offenheit: Ihr Lieben werdet demnächst sehr in Schwierigkeiten sein, ihr werdet europaweit wohl eine schwarze Suppe auslöffeln. Und wer immer euch diese Suppe eingebrockt hat: Die DDR, die SED, das MfS, die Freie Deutsche Jugend oder auch die Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ … – die alle waren es nicht.

Aus Neues Deutschland vom 3. März und 28. April 2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors